Robert Bosch ist sieben Jahre alt, als aus den feinen Rissen in seinem Albecker Kindheitsidyll Gräben werden. Er spürt am eigenen Leib, wie sich das Leben von einem Tag auf den anderen verändern kann. Viele Jahre lang hat seine Familie gut davon gelebt, dass die Fuhrleute im Wirtshaus Krone Rast machten. Roberts Vater lieh den Kaufleuten seine Pferde aus, damit diese mit ihren Fuhren den beschwerlichen Albaufstieg bewältigen konnten. Das Geschäftsmodell von Servatius Bosch lief nach dem Motto „Rent a horse“ – wer bei ihm die Pferde lieh, der aß auch im Gasthaus zur Krone, an den Kaufleuten verdiente er damit doppelt.
Doch nun bricht der Fortschritt mit urwüchsiger Gewalt in das dörfliche Familienleben der Bosch ein: Früh hat Servatius Bosch davon erfahren, dass die neue Eisenbahnlinie von Ulm nach Nürnberg den Ort Albeck und damit auch sein Gasthaus links liegen lassen würde. Er kann sich ausrechnen, was es für seinen Umsatz bedeutet, wenn die Fuhrleute nicht mehr kommen und sich der Strom der Reisenden andere Wege sucht, so wie ein Fluss, der stets den schnellsten Weg durch eine Landschaft findet. Als Geschäftsmann fällt Robert Boschs Vater eine nüchterne Entscheidung: Er verkauft das Anwesen, versteigert seine bewegliche Habe und nimmt dabei mehr als 250.000 Goldmark ein – genug Geld, um von den Zinsen die Familie ernähren zu können und künftig in Ulm zur Miete zu leben.
Als der Vater den Hof aufgibt und die Familie von Albeck nach Ulm zieht, ändert sich schlagartig das Umfeld des achtjährigen Robert Bosch. Der Junge erlebt im Jahr 1869, was Tausenden von anderen Kindern auch widerfährt: Immer mehr Menschen ziehen in die Städte, aus Landarbeitern werden Fabrikarbeiter, aus den Söhnen und Töchtern der Fabrikarbeiter Schüler, die auf eine bessere Zukunft hoffen. Auf ihren Schulwegen sehen sie auf den Bahnhöfen und entlang der Gleise Dinge, die ihre Väter und Mütter nie zu sehen bekamen, als sie klein waren: In Qualm eingehüllte Lokomotiven rasen heulend durch die Landschaft, aus den Fenstern sehen Reisende hinaus, die neuen Horizonten entgegenfahren. Es herrscht reger Verkehr, auch die Nachrichten strömen dank neuer Technik schneller von einem Ort zum nächsten. In diesem Umfeld muss sich Robert Bosch einen Weg suchen, der abweicht vom Lebensweg seiner Ahnen, der berechenbarer schien.
Der Ort seiner Kindheit ist vorerst abgehängt vom wilden Fortschrittstreiben: Die Gleise der Eisenbahn führen durch Ulm – nicht durch Albeck. Die Trassenführung der Eisenbahn bestimmt entscheidend mit, wo der Aufbruch beginnt und wo die Abgeschiedenheit. Die Welt, in die Robert Bosch nun hineinwächst, beginnt sich immer stärker zu vernetzen, vor allem in den europäischen und amerikanischen Großstädten. Menschen, Waren, Nachrichten – alles rast in einem nie gekannten Tempo. Argwöhnisch und kulturpessimistisch verfolgen einige Intelligenzblätter diesen Geschwindigkeitsrausch. Nur wenige ahnen voraus, was bevorstehen könnte: Der Hunger danach, alles, was auf der Welt geschieht, so schnell wie möglich zu erfahren, ist noch lange nicht gestillt. Was Robert Bosch als Kind erlebt, ist nicht der Endpunkt einer Entwicklung, in diesem Moment erreicht die Beschleunigung nur eine neue Stufe.
Der Zeitenwandel fordert erste Opfer. Die Lehrer an den humanistischen Gymnasien hätten vermutlich nicht damit gerechnet, dass es ausgerechnet ihre Schulen treffen könnte. In den Gymnasien vertiefen sich die Pädagogen in Griechisch, Latein und Geschichte. So war es schon immer, und so soll es weiterhin sein. Doch diese vermeintliche Gewissheit wird erschüttert. Die Eltern, die selbst ein Gewerbe betreiben, stellen laut die Frage danach, was dieser Unterrichtsstoff ihren Töchtern, vor allem aber den Söhnen, nutze? Das Gymnasium mit seinen alten und toten Sprachen vermittle ihren Kindern keinerlei praktisches Wissen. Bei den Humanisten löst diese Denkweise mindestens Erstaunen aus, meist stößt es auf Unverständnis. Auch durch die neue Heimatstadt von Robert Bosch schwappt eine Welle der Empörung, als die Kritik am humanistischen Bildungssystem immer schärfer wird. Der Kulturkampf wird öffentlich ausgetragen. Selbstverständlich sei intellektuelle Bildung unentbehrlich, argumentiert ein Gymnasiallehrer, aber man solle ein Kind lieber nur aus dem Grund lernen lassen, dass es seinem Vater damit eine Freude bereite und bitte schön nicht, damit „man ihm sage, wie man einst gar ein hübsches Stück Geld mit dem Gelernten verdienen und sich damit recht gut durch die Welt bringen könne …“. So also argumentieren im frühen 19. Jahrhundert einige Lehrer: Die Schule dürfe vieles leisten, aber nicht die Schüler auf einen Beruf vorbereiten.
Es wird Zeit, dass Staub aus den Ecken der Klassenzimmer gefegt wird. In vielen Städten, auch in Ulm, werden zusätzlich zu den bestehenden Gymnasien Realanstalten gegründet, es beginnt ein öffentlichkeitswirksamer Werbefeldzug für die Naturwissenschaften und dafür, Fächer zu unterrichten, die einen praktischen Nutzen besitzen. Die Bildungsreform schüttelt das Schulsystem kräftig durch. Auf dem Unterrichtsplan finden sich nun praxisnahe Hauptfächer. Sie vermitteln Wissen, das Kaufleute, Handwerker oder Mechaniker später in ihrem Berufsalltag anwenden können. Roberts Brüder Karl und Albert besuchen die Realanstalt in Ulm. Die Bildungswege der meisten Mädchen enden früher, weil viele Familien die Töchter weiter in Haus und Hof sehen wollen. Auch Roberts ältere Schwestern gehen lediglich auf die Dorfschule.
Im Herbst 1869 besteht Robert Bosch die Aufnahmeprüfung an der Realanstalt in Ulm. Hinterher wird sich keiner der Prüfer daran erinnern, einem bemerkenswert intelligenten Jungen gegenübergesessen zu haben. Das Resultat der Prüfung fällt ordentlich aus. Jetzt beginnt die Schulkarriere des Bauernjungen Robert Bosch, der sich in diesem Jahr langsam daran gewöhnt, dass die Sommer nicht mehr nach Heu duften. Das Leben auf dem Hof gehört für ihn genauso zur Vergangenheit wie die Geschichten, die die Durchreisenden abends im Gasthof der Eltern erzählten. Robert Bosch muss sich in Ulm erst zurechtfinden.
Der Junge interessiert sich sowohl für die Naturwissenschaften als auch für die Sprachen. Doch mit der Art und Weise, wie an der Realanstalt gepaukt wird, kommt er schwer zurecht. Von seinen Lehrern trennen ihn Welten. Robert sieht sich Tag für Tag älteren Herren ausgesetzt, die ihn mit ihrer pedantischen Art nerven. Ein besonders furchtbares Exemplar der Pädagogen erkennt Robert Bosch in seinem Geometrielehrer, den er später dafür verantwortlich machen wird, dass er in der Schule mit der Mathematik phasenweise auf dem Kriegsfuß steht. Geometrie, Algebra und Trigonometrie werden für ihn zur Belastung. Den Ausweg aus diesem Dilemma entdeckt er dort, wo ihn Generationen von Schülern finden: Wenn er nicht mehr weiterweiß, schreibt Robert Bosch bei seinen Klassenkameraden ab.
Der Unterricht erscheint ihm uninspiriert und verknöchert. Dass sich Lehrer besonders um ihn kümmern, erlebt er selten. In einem Fach bedauert er es besonders, dass dem Pädagogen jede Autorität fehlt – in der Botanik tanzen die Schüler ihrem Lehrer auf der Nase herum, sodass der Unterricht aus den Fugen gerät. Dabei liebt es Robert Bosch, die Natur zu beobachten, Pflanzen, Bäume oder Käfer zu bestimmen und aus den Beobachtungen Schlüsse zu ziehen. Die Schule stillt seinen Wissenshunger nicht, nur sein Französischlehrer fällt ihm später als positive Ausnahme ein, wenn er sich an seine Schulzeit zurückerinnern wird. Der Mann ist ebenso streng wie gerecht zu allen, sein Ton und sein Gerechtigkeitsempfinden beeindrucken Robert Bosch. Die Menschen sind keineswegs gleich in ihren Möglichkeiten, das spürt der junge Schüler, aber man muss ihnen eine faire Chance geben.
Er selbst ist in der Schule weit davon entfernt, als Wunderkind Aufsehen zu erregen. Robert Bosch befindet sich meist im besseren Drittel der Klasse, aber nie unter den Allerbesten. Vielleicht mangelt es ihm in diesen Jugendjahren an Ehrgeiz, vielleicht fehlt es ihm wirklich an Sitzfleisch – aber möglicherweise geht er später rückblickend mit seinen Schulleistungen zu hart ins Gericht. Die Schule quält ihn jedenfalls öfter, als dass sie Begeisterung in ihm weckt.
So oft es geht, hält sich Robert Bosch in der Natur auf. Seit sein Vater nicht mehr die Landwirtschaft betreibt, sondern als Privatier in der Stadt lebt, treten für Servatius Bosch Freizeitvergnügen an die Stelle der Arbeit. Der alte Bosch hat in Ulm einen Garten gepachtet, in dem er Bienen züchtet. Sein Sohn Robert verbringt dort viele Stunden mit ihm und lässt sich vom Vater zeigen, wie er sein Bienenvolk mit in Wasser aufgelöstem Zucker aufpäppelt. Der Junge bastelt aus alten Zigarrenkisten kleine Tröge, in die er das Zuckerwasser für die Bienen schüttet. Robert erhält von seinem Vater zehn Pfennig für jeden Trog, es ist die erste Handwerksarbeit in seinem Leben, für die er Geld bekommt.
Im Winter, wenn die Donau zufriert, läuft Robert Bosch auf Schlittschuhen am linken Ufer des Flusses, immer an der Stadtmauer entlang. Das Schlittschuhlaufen ist in Mode gekommen, und die Winter sind oft kalt. Die Mutigen auf Kufen drehen nicht nur auf der Donau ihre Kreise, sie wagen sich auch bis zu jener Stelle vor, an der das kleine Flüsschen Blau in die Donau mündet. Hier besteht das Eis oft nur aus zusammengefrorenen Schollen. Die Ulmer nennen die Einmündung Metzgerstrudel. Er trägt seinen Namen, weil die Blau am Schlachthaus vorbeifließt. Dort waschen Arbeiter die Eingeweide des Schlachtviehs mit Flusswasser. An diesen Tagen färbt sich die Blau rot.
Schnee fällt in vielen Wintern reichlich. An einem Sonntag fahren die Eltern mit ihrem Robert und zwei Neffen mit dem Schlitten von Ulm aus nach Jungingen. Dort bewirtschaftet Roberts ältester Bruder Jakob Friedrich den „Gasthof Adler“, indem ihre Mutter groß geworden ist. Während die Erwachsenen im Wirtshaus sitzen, liefern sich Robert Bosch und seine beiden Neffen mit der Dorfjugend eine Schneeballschlacht. Was lustig anfängt, endet derb: Ihre Gegner greifen zu Fassreifenstücken und Bohnenstecken und prügeln auf die fremden Kinder ein, bis Servatius Bosch aus der Wirtschaft kommt und der Sache ein Ende bereitet. Sein Sohn Robert ist derart vom Zorn gepackt, dass der Vater ihn mit Gewalt aus dem Handgemenge reißen muss. An diesem Wintertag fällt es Servatius Bosch nicht leicht, Robert zu beruhigen. Dem Jungen stehen Tränen in den Augen, er würde sich am liebsten wieder in den Kampf stürzen. Viele Jahre später werden manche Weggefährten erleben, wie Robert Bosch aufbraust, wenn er in Wut gerät.
Es geht ein Gespenst um in Europa. Seit Jahren hat sich das Verhältnis zwischen dem französischen Kaiserreich und Preußen verschlechtert. Im Juli 1870 läuft die Sache diplomatisch aus dem Ruder, es geht um Macht, um die falschen Worte zur falschen Zeit und um den fehlen -den Willen, einen Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen. Die Lunte glimmt in Spanien: Als dort der Thron neu zu besetzen ist und aufgrund der Erbfolge Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen für diesen in Betracht kommt, fürchtet Frankreichs Kaiser Napoleon III. um den Einfluss seines Landes. In Frankreich schäumt nicht nur die Presse: Leopold sei nicht mehr als eine Marionette der machtgierigen und militaristischen Preußen. Aus Preußen kommen scharfe Gegentöne. Als Frankreich vom preußischen König Wilhelm I. fordert, dieser solle seine Zustimmung verweigern, falls die Hohenzollern für den Thron kandidieren, kommt es zum diplomatischen Eklat: Otto von Bismarck veröffentlicht den von ihm selbst zugespitzten Streit in der Presse. Dieser gezielte Affront führt zu einem Sturm der Entrüstung auf beiden Seiten.
Innerhalb weniger Wochen wird zur Gewissheit, was vorher nur eine Option für die Politik war: Der Krieg kommt, Bismarck hat ihn kühl ins Kalkül gezogen. Am 9. Juli 1870 werden französische Truppen aus Nordafrika nach Europa eingeschifft, Frankreich beginnt mit der Mobilmachung seiner Armee und spinnt gleichzeitig diplomatische Fäden, um eine internationale Koalition gegen Preußen vorzubereiten. Französische Gesandte führen in den süddeutschen Königshäusern geheime Gespräche. Sie fühlen in Stuttgart, in München und in Karlsruhe vor: Ob der Süden wohl im Kriegsfall neutral bleiben würde? Die Einflüsterungen finden kein Gehör: In Süddeutschland wogt der Patriotismus, plötzlich gewinnt der Gedanke vom einen Deutschland immer größere Bedeutung. Die süddeutschen Königreiche rücken an die Seite des von Preußen geführten Norddeutschen Bundes. Ausgerechnet die Preußen, die Robert Boschs Vater Servatius so verhasst sind.
Am Morgen des 27. Juli 1870 halten zwei Sonderzüge am Ulmer Bahnhof. Robert Bosch, dessen Familie vor einem Jahr in die Garnisonsstadt Ulm gezogen ist, wird in wenigen Wochen neun Jahre alt. Für den Jungen und seine Klassenkameraden muss es ein Spektakel sein, als die voll beladenen Transportzüge der württembergischen Armee durch Ulm fahren. Im Zug fährt ein 27-jähriger Feldwebel ins Ungewisse, der für die Schaulustigen in den Bahnhöfen vermutlich nur wenige Blicke übrig hat. Der Gewehr- und Schießunteroffizier Jakob Reik reist mit gemischten Gefühlen dem Sammelpunkt seiner Division entgegen, der sich ganz in der Nähe der deutsch-französischen Grenze befindet. Was wird dieser Krieg bringen? Welche Rolle werden Geschütze und andere moderne Waffen spielen? Werden die deutschen oder die französischen Truppen daraus den größeren Vorteil ziehen?
Gut, dass weder der achtjährige Robert Bosch noch der 27-jährige Jakob Reik in die Zukunft blicken können. Sonst würde Jakob Reik jetzt wissen, wie viele Tote er in den nächsten Monaten sehen wird – und Robert Bosch würde die Gewissheit besitzen, dass er bis zu seinem Tod dreimal miterleben muss, wie sich Deutsche und Franzosen im Krieg gegenüberstehen.
Die Züge nehmen Fahrt auf, sie rollen aus allen Winkeln des Landes gen Westen an die Front. Es dauert nicht lange, bis Jakob Reik und seine Kameraden die Residenzstadt Stuttgart erreichen. Von dort aus geht es weiter über Bruchsal, Karlsruhe ist nicht mehr fern. Hier arbeitet Gottlieb Daimler seit zwei Jahren in der Maschinenbaugesellschaft als Vorstand sämtlicher Werkstätten. Seine Karriere gewinnt an Tempo. In diesem Juli 1870, in dem in der Presse immer wieder die Rede von der Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist, müssen Gottlieb Daimler auch andere Gedanken in den Sinn kommen: persönliche Erinnerungen und Freundschaften, die ihn mit dem Nachbarland verbinden. In den 1850er-Jahren hatte er zweimal bei einer Lokomotivbaufirma im Elsass gearbeitet. Dank eines Reisestipendiums von Ferdinand Steinbeis sah er 1860 erstmals Paris, jene prickelnde Weltstadt, mit der sich keine der Städte seines Heimatlands messen konnte. Gottlieb Daimler spricht fließend Französisch, er ist ein 36-jähriger Weltbürger – in Frankreichs Kaiserreich zu Hause, genauso wie derzeit im Königreich Baden.
Dort versammelt sich eine gewaltige Armee, die es ohne den technischen Fortschritt niemals geschafft hätte, acht Tage nach der Mobilmachung kampfbereit am Rhein zu stehen. Dank der Eisenbahn haben Preußen und die verbündeten süddeutschen Armeen 460.000 Soldaten und 170.000 Pferde an die Grenze verlegt. Es handelt sich um den bis dahin größten Truppentransport in der Geschichte. Auf der anderen Seite des Rheins stehen ihnen 350.000 Franzosen gegenüber. Frankreichs Plan sieht eine Blitzoffensive über den Rhein vor, Deutschland träumt von einer „großen und schnellen Entscheidung“. Aus beidem wird nichts.
Am 4. August 1870 regnet es die ganze Nacht hindurch. Noch graut der Morgen nicht, als Jakob Reiks Einheit geweckt wird, die Männer ihre Ausrüstung zusammensuchen und losmarschieren. Angst, Stolz – alles mischt sich jetzt, aber als sie nach einigen Stunden den Rhein erreichen, regiert nur noch der Patriotismus. Die Truppe überquert auf einer Schiffsbrücke den Fluss, singend machen sich die Soldaten gegenseitig Mut: „Lieb Vaterland magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein!“ Der Fluss ist längst Mythenstoff: Vor einem Jahr hatte das Königliche Hof- und Nationaltheater in München Richard Wagners „Rheingold“ uraufgeführt. In der Tiefe des Flusses hüten die Rheintöchter einen Schatz, der seinem Besitzer zur Macht verhilft, wenn er der Liebe abschwört.
Um die Macht und nicht um die Liebe dreht sich alles in diesem Sommer 1870 entlang des Rheins. Doch Jakob Reik und seine Kameraden hören nicht Wagner, sie hören nach wenigen Stunden in der Ferne bereits ununterbrochenen Kanonendonner. Auf dem Schlachtfeld hat die Technik die Spielregeln verändert. Erstmals kommt auf französischer Seite ein schnell feuerndes Salvengeschütz zum Einsatz, an der Front feuern die Geschütze so weit wie nie zuvor. Bei der Armee lösen sich alte Gewissheiten auf: Der Stern der Kavallerie beginnt zu sinken, die Angriffe hoch zu Ross verlieren angesichts der gewaltigen Feuerkraft der modernen Schusswaffen an Wirkung.
Der Feldwebel Jakob Reik erlebt die ganze Wucht der neuen Kriegsführung. Nach einem der schwersten Gefechte des Deutsch-Französischen Kriegs betritt er das Rathaus eines französischen Dorfs, das sich in ein Lazarett verwandelt hat. In seinem Tagebuch notiert Reik später, was er zeit seines Lebens nie mehr vergessen wird: „Auf dem nackten Fußboden lagen die Verwundeten, Freund und Feind, bunt durcheinander. Die Willensstarken verbissen den Schmerz und waren ruhig, andere jammerten und klagten, wieder andere bewegten Arme oder Beine heftig, stöhnten, röchelten oder stießen unartikulierte Laute aus. Einer der Verwundeten ist ein Offiziersaspirant, der einen Schuss schräg durch den Hals in die Brust erhalten hat. Nun liegt er bewusstlos am Boden und arbeitet krampfhaft mit Armen und Beinen, seine Atmung geht schwer, blutiger Schaum tritt ihm aus Mund und Nase.“ Ein bedauernswerter Mann, befindet Reik, „anfangs wünschte er sich in jugendlicher Kampfeslust, der Krieg werde hoffentlich noch so lange dauern, dass er wenigstens ein Gefecht mitgemacht hätte. Nun bringt ihm sein erstes Gefecht den Tod.“
Am technischen Fortschritt klebt Blut. Das Militär hat in die Entwicklung neuer Waffen investiert. Von den Fortschritten des militärischen Hightechs profitiert auch die zivile Wirtschaft. Der Waffenbau verzeiht keine Fehler – in keinem anderen Bereich muss so präzise gearbeitet werden. Jeder Fehler könnte katastrophale Folgen haben. Gottlieb Daimler kennt das Geschäft mit dem Tod. Schusswaffen sind ihm vertraut, seit er als 14-jähriger Junge bei einem Büchsenmacher in die Lehre ging.
Vier Jahre später legte Gottlieb Daimler vor dem Prüfungsausschuss eine doppelläufige Pistole als Gesellenstück vor. Das Werkstück zeigt seinen Blick für Details. Mit dieser Genauigkeit arbeitet Gottlieb Daimler noch immer, jetzt kommt sie ihm in der Karlsruher Maschinenfabrik zugute. Täglich erreichen ihn im Badischen die Nachrichten von der Front.
Ende November 1870 fällt im Deutsch-Französischen Krieg eine Vorentscheidung: Kaiser Napoleon III. gerät in Gefangenschaft, aber die Kämpfe gehen weiter. Während deutsche Truppen gen Paris marschieren, ruft das Petit Journal zum Partisanenkampf auf: „Wir müssen alles töten, wir müssen morden, würgen, aus den Kellerlöchern schießen. Wenn wir keine Gewehre haben, nehmen wir Mistgabeln, Säbel und Piken. Frankreich, das durch diese abscheuliche Invasion entehrt ist, muß in dem Blute germanischer Fürsten eine neue Jungfräulichkeit finden.“ Hier keimt eine Feindschaft, die diesen Krieg überdauern wird.
Jakob Reik steckt unweit von Paris immer noch im Schlachtenlärm, als er an einem Wintertag 1870 einen tollkühnen Reiter entdeckt, der sich seiner Einheit nähert. Es handelt sich um einen deutschen Generalstabsoffizier, der geradewegs auf ein Ackerfeld zuhält, auf dem kurz zuvor noch französische Granaten niedergegangen sind. Der Reiter schlägt lachend alle Warnungen in den Wind, als plötzlich nur 50 Meter neben ihm eine Granate einschlägt und sein Pferd so erschreckt, dass es sich aufbäumt und in langen Sätzen davongaloppiert. So sieht der Feldwebel Jakob Reik zu, wie der Generalstabsoffizier Ferdinand Graf von Zeppelin an jenem Tag knapp dem Tod entkommt. 30 Jahre lang dient von Zeppelin der württembergischen Armee, berühmt wird er aber erst, als er später aus dem Militär ausscheidet und seine Tollkühnheit in der Luftschifffahrt unter Beweis stellt.
Auf Höhenflüge folgen Abstürze. Der Krieg ist aus, kaum ist das Hurra-Geschrei der deutschen Truppen verstummt, inszenieren die Sieger den totalen Triumph über die Besiegten: Am 18. Januar 1871, einem feuchtkalten Wintertag, wird König Wilhelm I. im mit Fahnen und Standarten geschmückten Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Der Akt markiert das Ende der deutschen Kleinstaaterei, man feiert das Deutsche Reich – mit dem Stiefel auf dem Rücken der Grande Nation. Diese Demütigung wird Frankreich nicht vergessen.
Als der neue deutsche Kaiser beim Truppenbesuch die Reihen abschreitet, wechselt er ein paar Worte mit einigen seiner Soldaten – auch mit dem tapferen Feldwebel Jakob Reik. Zumindest behauptet Reik dies später in seinem Tagebuch. Für ihn folgt der Heimmarsch, er kehrt in den Frieden zurück. In Stuttgart werden die Soldaten von einer jubelnden Menschenmenge empfangen, die die Straßen der Residenzstadt säumt. Blumen und Kränze überdecken alle Zweifel, die Kritik am preußischen Militarismus verstummt. Mit einem Mal befindet sich Robert Boschs Vater Servatius mit seiner Skepsis gegenüber Bismarck und den Pickelhauben der Armee in der Minderheit im Land. Die Bilder von triumphierenden deutschen Soldaten am Ende eines Krieges entfalten eine starke Wirkung. Ein letztes Mal.
Im Kaiserreich bleibt kaum Raum für Nachdenklichkeit und Zwischentöne. Schon in der letzten Kriegsphase entlädt sich der Optimismus in der Wirtschaft in einer gewaltigen Welle von Neugründungen. Es ist die Geburtsstunde vieler Firmen, in denen 150 Jahre später Hunderttausende von Menschen Arbeitsplätze finden werden. Im Deutschen Kaiserreich löst der Staat jetzt Fesseln, er lässt die Wirtschaft von der Leine: Ein neues Aktiengesetz erleichtert die Gründung von Aktiengesellschaften, Handelsschranken fallen, die Währung wird vereinheitlicht. Die Reparationszahlungen der besiegten Franzosen wirken wie eine Kapitalspritze. Dieser Treibstoff bringt die Wirtschaft auf Touren. Nach dem vom Handwerk geprägten frühen Kapitalismus läuft nun der Hochkapitalismus an. Es ist genau der richtige Moment, um eine große Karriere zu starten. Mit allen Chancen. Und allen Risiken.
In Köln wollen Nikolaus August Otto und Eugen Langen endlich satte Gewinne einfahren. Genau wie viele andere im jungen Deutschen Kaiserreich glauben die beiden daran, dass ihre Zeit nun gekommen ist. Die beiden kennen einander seit acht Jahren, sie betreiben eine Werkstatt, in der Gasmaschinen hergestellt werden. Otto, dem ausgebildeten Weinhändler und Quereinsteiger in die Welt der Technik, ist es mit Hilfe von Langen gelungen, ein Geschäft aufzuziehen. Jetzt aber wollen sie groß werden: Die Werkstatt soll sich in eine Fabrik verwandeln, dafür brauchen sie frisches Kapital. Langen überzeugt zwei Männer von dem Projekt, die im Zuckergeschäft ein Vermögen gescheffelt haben – nun investieren die beiden in Motoren. Es ist nicht mehr nur der Handel mit Rohstoffen, von dem man sich in Deutschland Profit verspricht, Kapitalgeber setzen jetzt auch auf eine andere Karte: die Hochtechnologie. Im Januar 1872 entsteht dank des Geldes aus dem Zuckergeschäft die Gasmotorenfabrik Deutz. Aber es ist nicht Nikolaus August Otto, der die neuen Motoren konstruieren und entwickeln soll. Ottos Mentor Eugen Langen sucht nach einem Mann mit einer fundierten technischen Ausbildung, der als Leiter einer Werkstatt umfassende praktische Erfahrungen gesammelt hat. Langen hört sich um, er sondiert den Markt und folgt schließlich einer Empfehlung, die ihn nach Karlsruhe führt, wo er selbst einst studiert hat. Dort lernt Eugen Langen einen Mann kennen, der seinem Anforderungsprofil exakt entspricht. Sein Topkandidat für die neue Führungsposition im Unternehmen heißt Gottlieb Daimler.
Die Verhandlungen laufen zäh, doch Eugen Langen will Gottlieb Daimler, der noch die Werkstätten der Maschinenfabrik Karlsruhe leitet, unbedingt nach Köln holen. In den ersten Märztagen 1872 reist Gottlieb Daimler zu weiteren Gesprächen nach Köln, es beginnt ein Poker, in dem Geld und Prestige den Ausschlag für Daimlers Entscheidung geben. Bis zu diesem Zeitpunkt nimmt Nikolaus August Otto eine Sonderrolle in der Gasmotorenfabrik ein. Als Einziger im Unternehmen erhält er eine fünfprozentige Gewinnbeteiligung. Eugen Langen will Gottlieb Daimler billiger bekommen. Er bietet ihm nur drei Prozent. Daimler sperrt sich jedoch vehement gegen diese Abstufung zwischen ihm und Otto: Fünf Prozent müssen auch für ihn herausspringen. Er bleibt hart.
Eugen Langen unternimmt alles, um Daimler nach Köln zu lotsen. Er überredet den Aufsichtsrat dazu, Daimlers Forderungen zu erfüllen, und er spielt die weichen Standortfaktoren aus: Falls Daimlers Frau Emma bei der Lage und der Wahl der Wohnung besondere Wünsche habe, so möge Daimler ihm diese umgehend mitteilen. Man werde versuchen, ihr alle zu erfüllen. Gottlieb Daimler solle in die Direktion der Gasmotorenfabrik aufsteigen und die alleinige Leitung der Werkstätten und des Zeichenbüros übernehmen. In seiner neuen Position bestimme er über das Personal und den Materialeinkauf. Das Angebot aus Köln kann Daimler nicht mehr ausschlagen. Mit seiner Unterschrift ist es besiegelt: Gottlieb Daimler, der Sohn eines Bäckermeisters aus Schorndorf, backt künftig große Brötchen. Er ist in der Chefetage angekommen. Auch diesem Anfang mag ein Zauber innewohnen, aber in ihm zeigt sich schon, dass sich Daimler mit Otto misst. Bei dieser Zusammenarbeit ist der Samen für die Konkurrenz bereits gesät.
Nikolaus August Otto, der mit Eugen Langen das Unternehmen aufgebaut hat, übernimmt die kaufmännische Leitung der Fabrik. Die vermeintlich saubere Trennung der Kompetenzen soll auch verhindern, dass sich die beiden Alphamänner künftig in die Haare bekommen. Doch Otto fällt es schwer, auf eigene technische Versuche zu verzichten. Kaufmann ist er auf dem Papier, aber das Leben findet für ihn jenseits der Verlust- und Gewinnzonen statt: in einer eigenen Versuchswerkstatt, die er in einem entlegenen und gut abgeschirmten Bereich der Fabrik einrichten lässt. Hier bastelt und experimentiert Otto in jeder freien Stunde, die er nicht über den Büchern verbringen muss, hier ist er nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit heißem Herzen dabei.
Otto ist von Daimler genervt, bevor der überhaupt in Köln anfängt. Aus Karlsruhe schreibt der Neue schon Briefe: So wie bisher könne es in Köln nicht weitergehen, wenn man wirklich Erfolg haben wolle beim Motorenbau. Man müsse größere Sorgfalt üben, in der Fabrik genauer arbeiten als bisher und überhaupt: Die Arbeiter, die ihm in Köln und Deutz zur Verfügung stünden, genügten seinen Anforderungen nicht, die er an Maschinenbauer stelle. Er müsse wohl erst die einheimische Arbeitsbevölkerung nach und nach zu der Genauigkeit erziehen, die er verlange. Die von der Gasmotorenfabrik geplanten Neubauten seien darüber hinaus in dieser Form für seine Zwecke ungeeignet. Hochachtungsvoll, Gottlieb Daimler.
Für den diplomatischen Dienst wäre Daimler völlig unbrauchbar. Vom ersten Tag an macht er in Deutz klar, wie er seine Rolle im Unternehmen definiert: Er sieht sich als großer Reformer, bereit zu unbequemen, notfalls rücksichtslosen Schritten. Alles, was er tut, ordnet er einem einzigen Ziel unter, dem Erfolg. Wer Gottlieb Daimler nachhaltig verärgern will, muss nur versäumen, zu betonen, dass es vor allem sein Erfolg ist. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt holt Gottlieb Daimler, genau wie vor einigen Jahren in Karlsruhe, seinen Mastermind nach: Der neue technische Direktor befördert Wilhelm Maybach zum Chef des Deutzer Konstruktionsbüros. Bei der Gasmotorenfabrik weht nun ein anderer Wind: Mit Gottlieb Daimler hält eine andere Unternehmenskultur Einzug. Er stellt Strukturen und Abläufe infrage und erschüttert dadurch die Machtbalance in der Führung. Vieles wird nun davon abhängen, wie sich Otto und Daimler in diesem Spiel der Kräfte miteinander arrangieren.
Die Firmenleitung macht anhand von symbolischen Gesten deutlich, dass Daimler und Otto auf Augenhöhe miteinander stehen. Unmittelbar neben dem Werksgelände errichtet das Unternehmen im Jahr 1872 zwei Häuser mit großen Gartengrundstücken, in die die Familien der beiden Fabrikdirektoren einziehen werden. Wie ein luxuriöses Doppelhaus wirkt das Ensemble, gleich groß und gleich hoch sind die einzelnen Gebäude, die Gottlieb Daimler vor deren Fertigstellung als Zeichnung sieht. Seine Frau Emma lebt noch mit den Kindern in Karlsruhe, aber sie soll sich ein Bild machen können von ihrer künftigen Heimat. Gottlieb Daimler nimmt die Skizze in die Hand und zeichnet oberhalb von jenem Haus, in dem er bald wieder gemeinsam mit seiner Familie unter einem Dach leben wird, ein mehrzackiges Symbol ein. Nur einen einzigen Satz fügt er hinzu. In diesem bündelt Gottlieb Daimler seine Träume von der Zukunft: „Von hier aus wird ein Stern aufgehen, und ich will hoffen, dass er uns und unseren Kindern Segen bringt.“
An die Arbeit! Als Daimler in Köln seine Geschäfte aufnimmt, beschäftigt die Gasmotorenfabrik 20 Mitarbeiter, es ist noch viel Luft nach oben. Auch bei der Qualität der Motoren, die Otto nach dem Vorbild des Belgiers Lenoir weiterentwickelt hat. Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach optimieren den Gasmotor nun, sie vertiefen sich in Grundsatzfragen und winzige Details, es geht um Rohstoffe und praktische Anwendungsmöglichkeiten.
Nikolaus August Otto, nun der erste Kaufmann im Unternehmen, muss mit ansehen, wie „sein“ Motor ständig weiterentwickelt wird. Auf Befindlichkeiten nimmt Gottlieb Daimler keine Rücksicht: Ihm geht es um Ergebnisse und nicht um die Verdienste eines Herrn Otto. Bald verschmelzen alle Grenzen: Wie viel von Otto steckt noch in den neu entwickelten Motoren? Und wie viel Geist und Fleiß von Daimler und Maybach? Für die Kunden der Gasmotorenfabrik ist das unerheblich – für Gottlieb Daimler und Nikolaus August Otto entwickeln sich diese Punkte jedoch zu Grundsatzfragen.
Was auf dem Deutzer Fabrikgelände erst hinter vorgehaltener Hand erzählt wird, ist bald allgemein bekannt: Die beiden Herren sind einander spinnefeind. Die Idee, die große Vision, stamme doch von keinem anderem als ihm, argumentiert Otto. „Fortschritte erwachsen nur aus langer Arbeit und mühevollen, kostspieligen Versuchen“, erwidert Daimler. Die Lage wird im Laufe der Jahre immer verfahrener: Die Fabrik verkauft mehr Motoren als jemals zuvor, aber im selben Tempo, in dem die Gewinne wachsen, wächst auch die gegenseitige Abneigung der beiden Direktoren. Wer darf sich nun als Vater des Erfolgs bezeichnen? Ich!, denken und sagen beide.
Als sich die Lehrer in Ulm zur Zeugniskonferenz einfinden, um das Abschlusszeugnis für Robert Bosch auszustellen, finden sie sein Betragen „wohlgeordnet“ und den Jungen stets „löblich bemüht“. Er entspreche den allgemeinen Anforderungen. Der Schüler Robert Bosch habe zweifellos Fortschritte gemacht, das Durchgenommene habe er sich „gut angeeignet“. Auffällig unauffällig fallen auch die Noten für die einzelnen Fächer aus: Geometrie und Algebra sind nur „ziemlich gut“ zu bewerten, in Religion, Französisch und Geschichte halten die Lehrer ein „gut“ für angemessen. Das reicht in der Klasse für einen Platz im gesicherten Mittelfeld – unter 30 Schülern reiht sich Robert Bosch im September 1876 auf Position 16 ein. Dass der 15-Jährige mit der Mathematik und vielen Lehrern nie richtig warm wird, erleichtert ihm den Abschied von der Schule.
In der Schulzeit ist Robert Bosch vor allem auf exotischen Nebenschauplätzen Herausragendes geglückt: beim Speerwerfen beispielsweise, auch beim Blasrohrschießen mit der Lehmkugel. Als Robert Bosch mit einer Zimmerflinte hantiert und versehentlich abdrückt, hört er einen hellen scharfen Knall. Der Schuss hat einen Nachhall. Von diesem Tag an begleitet ihn ein singendes Geräusch im linken Ohr.
Aus dieser Zeit bleiben Robert Bosch Erinnerungen, in die sich nur wenige Bilder aus der Schule mischen. Es sind Erinnerungen an den Hof seiner Eltern und daran, wie er bei der Ernte auf einem Pferd sitzt, das den Wagen mit den Garben zieht. Je weiter sich sein eigenes Leben später von Feld und Wald entfernen wird, desto schmerzlicher wird er dies als Verlust empfinden und irgendwann einen anderen Weg einschlagen: zurück zur Natur.
Doch im Herbst 1876 stellt sich ihm zunächst die Frage, was er aus seiner Vorliebe für Pflanzen und Tiere machen soll. Zunächst nicht viel: Seine Noten legen nicht nahe, dass er studieren sollte. Noch vor zwei Jahren hat Robert Bosch in seinem Zeugnis als Berufswunsch „Kaufmann“ eintragen lassen. In seinem Abschlusszeugnis gibt er jedoch bereits ein anderes Ziel an: „Klein-Mechaniker“.
Dieser Wunsch passt in eine Zeit, in der mechanische Getriebe immer mehr Menschen in ihren Bann ziehen. Es sind nicht nur spektakuläre Weltausstellungen wie jene im Londoner Kristallpalast, die die Technik populär machen. Es geht auch eine Nummer kleiner. Als Robert Bosch noch zur Schule ging, entwickelte sich die Industrieausstellung in seiner Heimatstadt Ulm zu einem Publikumsmagneten. 140.000 Besucher wollten die Schau sehen. Auf dem Ausstellungsgelände präsentierte ein Mann seinen Betrieb, der in Ulm als Mechanicus & Opticus seine Dienste anbot: Wilhelm Maier reparierte Uhren, verkaufte Rodenstock-Brillen und richtete auch jene elektrischen Haus- und Hoteltelegraphen ein, die gerade in Mode kamen.
Als Robert Bosch 1876 die Schule verlässt, wird Wilhelm Maier sein Lehrmeister. Doch der Mann besitzt weniger Pioniergeist, als es seine Tätigkeit in dieser Branche erwarten lässt. Ringsherum wird die Welt elektrisch, aber dem Meister selbst fehlt es an innerer Spannung. An manchen Vormittagen hockt er lieber in der Wirtschaft, statt in der Werkstatt zu arbeiten – in Letzterer bleiben die Lehrlinge sich selbst überlassen und verbummeln den Tag. Der Junge und der Alte funken nicht auf einer Wellenlänge. Je länger Robert Bosch bei Wilhelm Maier in die Lehre geht, desto leerer scheint ihm diese, desto mehr schwindet der Respekt. Wenn der Meister den Auftrag erhält, in einem Haus einen Telegraphen einzubauen, muss er sich zuerst selbst externen Sachverstand einholen: Maier reist zu einem Freund, der bei der Telegraphen-Inspektion in Stuttgart arbeitet, und lässt sich von diesem einen Plan erstellen. Die Lehrlinge schließen daraus: Viel Ahnung kann der Alte von den Dingen nicht besitzen.
Robert Bosch sucht sich Herausforderungen außerhalb der Werkstatt und tritt dem Turnerbund bei. Die Leidenschaft fürs Turnen wird ihn jahrzehntelang fit halten. Auf das Schießen kann er auch nicht verzichten, der Ton in seinem Ohr hält ihn von nichts ab. Bei seinen Eltern setzt er durch, dass er sich von seinem Taschengeld eine Flobertbüchse kaufen darf. Von nun an geht er auf die Jagd, zunächst nur nach Spatzen. Größeres Wild bleibt noch außerhalb seiner Reichweite.
Die Lehre kostet Robert Bosch Nerven. Er leidet nicht nur an der Gleichgültigkeit seines Meisters, ihn schmerzen auch seine Wissenslücken in Mathematik und Physik. Diesen Mangel glaubt er, nie völlig ausräumen zu können. Aber er gleicht ihn aus durch ein schwer zu definierendes Talent, das es in einer Welt strenger Zahlen, Formeln und Fakten gar nicht geben sollte: Robert Bosch entwickelt ein „technisches Gefühl“. Wo andere an Problemen scheitern, geht er Umwege, findet Abseitiges und entdeckt etwas, das von seinen Vorgängern womöglich übersehen wurde. Manchmal zweifelt er, aber er verliert nie ein grundsätzliches Vertrauen in seine Fähigkeiten. Bei Robert Bosch ergänzen sich Kreativität und Beharrlichkeit. Sie ist unverzichtbar, wenn aus einer Idee etwas Materielles entstehen soll.
Nachdem sich Wilhelm Maybach im Hotel ausgeruht und bei einem Frühstück gestärkt hat, bricht er auf. Sein erster Weg führt ihn in Antwerpen zur Generalagentur einer Reederei. Dort kauft er ein Billett für die Schiffspassage nach New York. Doch bis zur Überfahrt bleibt ihm genug Zeit, um einige Ecken der Stadt zu erkunden. Mit einem Stadtplan in der Hand bricht Wilhelm Maybach auf, der zoologische Garten hat seine Neugier geweckt. Im Zoo bewundert er Schlangen, die ihm riesig erscheinen, er sieht einen Seelöwen „sehr gierig nach seiner Beute stürzend“ und schließlich einen vorwitzigen Affen, der einem unachtsamen Herrn einen seidenen Regenschirm entreißt, um diesen anschließend in seine Einzelteile zu zerlegen. Anderntags besucht Wilhelm Maybach die Kirchen der Stadt, dann muss er sich schon auf die Transatlantikpassage vorbereiten. Maybach reist im Auftrag der Deutzer Gasmotorenfabrik in die Neue Welt. In Philadelphia will er die Weltausstellung besuchen, zuvor in New York aber seinen Bruder Karl sehen, der kurz nach dem Tod der Eltern nach Amerika ausgewandert ist.
Die Fahrt wird für den 30-Jährigen zu einem schwankenden Vergnügen. Bei Tisch müht er sich ab, die Suppenteller und seinen eigenen Magen in Balance zu halten. Nachts raubt ihm der Lärm von losem Essgeschirr und übereinanderpolternden Koffern den Schlaf. Alles, was man ihm zuvor an Land gegen die Seekrankheit geraten hatte, erweist sich als nutzlos. Doch auf Seekrankheit, Appetitlosigkeit und trübe Gedanken folgt nach Tagen endlich schönes Wetter.
Und dann, am Morgen des 26. September 1876, sieht Wilhelm Maybach bei Tagesanbruch endlich wieder Land. Eine Stunde später erreicht das Schiff den Hafen von New York, in dem sich Hunderte von Schiffen tummeln, „von den größten Meerschiffen bis zum kleinsten Dampferchen … die Ufer sind prachtvoll grün, das Laub der Bäume wunderschön vielfarbig“. Ein Indianersommer empfängt den jungen Deutschen in der Neuen Welt – es ist das Jahr, in dem Häuptling Sitting Bull dem amerikanischen General Custer am Little Big Horn eine vernichtende Niederlage zufügt. Aber Wilhelm Maybach gehen andere Gedanken durch den Kopf, als das Schiff der Stadt immer näher kommt, bald erkennt er einzelne Häuser und zwei unvollendete Türme, an denen sich Arbeiter zu schaffen machen. Wilhelm Maybach wird Zeuge, wie eine Ingenieursarbeit entsteht, die nach ihrer Fertigstellung nie wieder aus dem Bild der Stadt wegzudenken sein wird: Die beiden Türme sind Teil der Brooklyn Bridge, die Manhattan mit Brooklyn verbinden wird. Maybach sieht bereits Drähte zwischen den Türmen, ihr Verlauf zeigt, wo später das Hauptseil gelegt werden soll.
Die Bauarbeiten an dem Großprojekt dauern bereits sechs Jahre, und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Die Konstruktion ist ein Hightech-Import aus Deutschland – die Pläne für die Brooklyn Bridge stammen von einem Thüringer Ingenieur. Erstmals werden Tragseile aus Stahl verwendet, sie sollen eine sechsmal höhere Belastung als erforderlich aushalten. Doch die Arbeiten an der zu diesem Zeitpunkt längsten Hängebrücke der Welt stehen unter keinem guten Stern. Bei den Vermessungsarbeiten quetscht sich der Chefingenieur den Fuß ein, als er einer Fähre zu nahe kommt. Wenige Wochen später stirbt er an einer Tetanuserkrankung. Sein Sohn leitet daraufhin das Projekt, aber bei einem Tauchgang zu den Fundamenten der Pfeiler erkrankt er an der Taucherkrankheit und ist fortan an den Rollstuhl gefesselt. Im Laufe der Jahre sind rund 6000 Arbeiter an der Megabaustelle im Einsatz, mehr als zwei Dutzend von ihnen verlieren ihr Leben.
Als Wilhelm Maybach den Arbeitern zusieht, ist der Superbau erst zur Hälfte fertiggestellt: Es werden noch sieben Jahre vergehen, bis die Brücke über dem East River eingeweiht wird und die Menschen von Brooklyn aus zu Fuß oder mit der Kutsche knapp zwei Kilometer zurücklegen, bis sie Manhattan erreichen. Mitten im Herzen des amerikanischen Traums. Maybach erlebt 1876 die Geburtswehen einer Weltmetropole. In diesen Jahren verwandelt sich New York in jene Stadt, deren Wahrzeichen einmal auf dem ganzen Planeten bekannt sein werden, die besungen und gefilmt werden. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wächst vor allem Manhattan zu jener faszinierenden City heran, auf die sich so viele Träume und Hoffnungen von Einwanderern ausrichten werden.
Maybach entdeckt eine fremde neue Welt, als er das Schiff verlässt: „Die Straßen der Stadt haben viel eigentümliches, die breiten Trottoirs, daneben hölzerne Telegraphenstangen mit sehr vielen Drähten, in der Mitte zwei Pferdebahngeleise und über die Straßen sind große Plakate der Wahlagitation aufgehängt, in sehr bunten Farben die Wahlkandidaten in mehrfacher Lebensgröße draufgemalt. Alle Häuser sind von unten bis oben mit Firmenschildern und Plakaten jeder Art dekoriert.“ Für Wilhelm Maybach ist sein Amerikatrip eine Reise, die ihn das Staunen lehrt. Er sieht die wogenden Menschenmassen auf dem Broadway, die Trinity-Kirche und den East River, bevor er bei einer Besichtigung Brooklyns dem lauten Tosen New York Citys entkommt. Dort erklimmt er eine Anhöhe, erreicht den höchsten Punkt der Stadt und lässt seinen Blick über den Hafen von Staten Island schweifen. Die Freiheitsstatue sieht er noch nicht, dazu hätte er zehn Jahre später anreisen müssen. Von einer Skyline wird er nach seiner Rückkehr auch nicht erzählen können. Der große Turmbau zu Manhattan hat noch nicht begonnen.
In New York lebt Wilhelm Maybachs Bruder Karl mit seiner Frau, die beiden haben zwei kleine Kinder. Der Empfang für den jüngeren Bruder aus der alten Heimat fällt herzlich aus. Karl Maybach hat sich in New York ein neues Leben aufgebaut, genau wie zahllose andere Einwanderer. Am Hudson River arbeitet er für ein Unternehmen, das einen herausragenden Klang besitzt: Die Klaviermanufaktur Steinway & Sons. Diese wurde einst von dem nach New York ausgewanderten Deutschen Heinrich Engelhard Steinweg gegründet.
Wilhelm Maybach taucht in die Welt seines Bruders ein. Er besucht die Pianoforte-Manufaktur Steinway & Sons, wo er beobachtet, wie aus Einzelteilen ein Klavier gebaut wird. Die Herstellung ähnelt einer strengen Komposition aus unzähligen Handgriffen und technischen Abläufen. Die Fabrik ist neu eingerichtet worden: Alles, was in ihr fortbewegt wird, wird in Rollwagen und Aufzügen transportiert, die Arbeitsteilung ist bis ins kleinste Detail festgelegt. Maybach bewundert Dampfapparate, die den Leim zum Kochen bringen. Jedes Teil, das die Fabrik verlässt, wird mit einem genormten Werkzeug in Form gebracht und von einer Maschine bearbeitet. Ohne den Mensch wäre die Maschinenarbeit jedoch wertlos. Wilhelm Maybach staunt, wie kunstvoll die Klavierplatten gegossen werden: Sechs bis acht Mann stehen mit Handgießpfannen um die Form herum. Dann erteilt ein Vorarbeiter, ähnlich einem Dirigenten, das Kommando: Zeitgleich gießen die Männer das Eisen in die Form und setzen in ein und demselben Moment wieder ab.
Die fertigen Klaviere werden in einer zweiten Fabrik, zwei Stunden von New York entfernt, noch einmal auseinandergenommen, geprüft, gestimmt und verpackt. In guten Zeiten stellt das Unternehmen zehn Klaviere pro Tag her. Die Klaviere dienen der Kunst, aber schon in ihrer Entstehung verbirgt sich eine Kunstfertigkeit. Dabei wird die menschliche Handarbeit von der Präzisionsarbeit der Maschinen unterstützt. Aus dem Kontakt zum Klavierunternehmen Steinway wird eines Tages eine ungewöhnliche Geschäftsbeziehung entstehen, von der Wilhelm Maybach und Gottlieb Daimler profitieren werden. Aber das ahnt in diesen Herbsttagen des Jahres 1876 noch keiner der Beteiligten.
Die Kinder seines Bruders nennen Wilhelm Maybach bald Onkel, sie gewöhnen sich rasch an das neue Familienmitglied auf Zeit. Onkel Wilhelm sieht dem eigenen Vater ohnehin zum Verwechseln ähnlich: Dass Karl und Wilhelm Brüder sind, muss jeder, der sie zusammen sieht, sofort erkennen. Die hohe Stirnpartie, die Augen, die ganze Kopfform ähneln einander sehr. Zudem tragen beide einen eigenwilligen Bart: an der Oberlippe buschig, in der Mitte und dann zu den Seiten spitz auslaufend. Am Kinn nimmt er eine dürre Ziegenbartform an. Ein Bart wie ein Markenzeichen.
Doch Wilhelm Maybach ist nicht allein wegen seines Bruders in die Vereinigten Staaten gekommen. Vier Eisenbahnstunden trennen New York von Philadelphia, wo der junge Deutsche in den nächsten Wochen mehr als zwanzigmal die Weltausstellung besucht, bevor er seine touristische Neugier befriedigt. Die Niagarafälle bieten ihm ein Spektakel, das er in seinem Leben noch nie zuvor gesehen hat: „Das Getöse der fallenden Wassermassen ist fürchterlich, die Wucht des Falles macht Häuser zittern.“ Wilhelm Maybach macht sich in seinem Tagebuch Notizen, zeichnet das amerikanische, dann das kanadische Ufer und steigt von der Gischt durchnässt schließlich in einen Zug, der ihn nach Buffalo bringt. Während der Fahrt trocknen seine Kleider, nur seine verdreckten Schuhe lässt er am Ziel der Fahrt von einem jungen Schuhputzer reinigen.
Buffalo ist für Wilhelm Maybach nur ein Zwischenstopp auf seiner Reise zum schwarzen Gold, das ganz in der Nähe aus dem Boden sprudelt. Wilhelm Maybach ist einer Revolution auf der Spur, die für ihn und für Gottlieb Daimler einmal eine herausragende Bedeutung bekommen wird. Der Ingenieur wird Zeuge einer Energiewende. Als er wieder im Zug sitzt, sieht er von seinem Abteil aus eine von Menschen ausgebeutete Landschaft: Die Eisenbahn fährt durch bereits abgebrannte oder noch brennende Wälder, vorbei an gefällten Bäumen. Zwischen lieblichen Dörfern erstreckt sich verwüstetes Land, es riecht nach Petroleum. Als der Zug nachts um eins nach vielen Stunden Fahrt die Kleinstadt Titusville in Florida erreicht, sieht Wilhelm Maybach im Mondschein die Bohr- und Pumpapparate. Auf den umliegenden Bergen leuchten zahllose Lichter von aus der Erde ragenden Rohren, an deren oberen Ende Flammen brennen.
Die Landschaft hat sich binnen kurzer Zeit radikal verändert. Hier regiert die Gier, das Öl sprudelt und mit ihm der Gewinn. Der Fortschritt zeigt seine hässliche Fratze, und Wilhelm Maybach sieht die Spuren eines Raubbaus an der Natur. Holz, jahrtausendelang der unumstrittene Brennstoff Nummer eins, wird zuerst von der Kohle und dann vom Erdöl abgelöst. Im Sommer 1859 ist in Pennsylvania erstmals in kommerzieller Absicht erfolgreich eine Ölquelle angebohrt worden. Die Aktion löste rund ein Jahrzehnt nach dem kalifornischen Gold- einen Ölrausch aus.
Wilhelm Maybach verpasst seinen Anschlusszug und übernachtet in Oil City in Pennsylvania. Schon in New York hat er in jeder Straße die Plakate der Kandidaten für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gesehen. Zwischen den Demokraten und den Republikanern zeichnet sich in diesem Jahr ein enges Rennen ab, beide Seiten mobilisieren alle Kräfte. Abends beobachtet der Deutsche die Anhänger der Parteien, die begleitet von Musikkapellen durch die Stadt ziehen. Danach verlagert sich die Politik in die Kneipen, man argumentiert nicht immer zimperlich: In Maybachs Hotel wird erst diskutiert, dann fliegen die Fäuste. Die Stadt, die vom Öl lebt, versprüht einen rauen Charme. Wer sie erkunden will, läuft auf Holztrottoirs, die um die Stadt herum und bis in die umliegenden Berge hinaufführen. Auf ungepflasterten Straßen führt jeder Fehltritt unweigerlich zu einer näheren Bekanntschaft mit Schmutz und Schlamm. In Oil City sind nur wenige Häuser aus Backsteinen errichtet, alle anderen sind aus Holz.
Am Morgen macht sich Wilhelm Maybach auf den Weg, um eines der Ölpumpwerke aus der Nähe zu betrachten. Hunderte von ihnen hat er tags zuvor von seinem Hotelzimmer aus gesehen, aber der Techniker geht den Dingen auf den Grund. Maybach will verstehen, wie die Ölförderung funktioniert: Die Amerikaner bohren und pumpen mithilfe von Dampfmaschinen, bei neuen Quellen läuft das Öl gewöhnlich von selbst. Anschließend wird der Rohstoff in Bottiche gepumpt und zur Eisenbahn transportiert. Wie schon bei der Kohle sind es beim Öl erneut die Züge, die die Rohstoffe im ganzen Land verteilen. Am Bahnhof entdeckt Wilhelm Maybach hinter Dampflokomotiven eigens für den Öltransport konstruierte Wagen in „nicht enden wollenden Reihen“.
Als Maybach mit dem Zug nach Pittsburgh weiterfährt, erkennt er das ganze Ausmaß der menschlichen Eingriffe in die Natur: Die Ufer des an der Zugstrecke gelegenen Flusses sind von Petroleum verseucht, das Wasser schillert in bunten Farben. Raffinerien, in denen das Öl weiterverarbeitet wird, kündigen die Stadt Pittsburgh an, lange bevor Wilhelm Maybach die ersten Häuser sieht. Von einer Anhöhe herab sieht der Deutsche nur den Rauch, der Pittsburgh einhüllt. In der Nacht bietet sich ihm ein apokalyptisches Bild, das sich aus brennenden Schornsteinen und glimmenden Baumstümpfen zusammensetzt. Wilhelm Maybach wird während seiner Reise Zeuge, wie die Industrialisierung nicht nur die Städte verwandelt, sondern auch das Land. Das Phänomen wirkt sich in großem Stil auf die Luft aus, die die Menschen atmen, auf das Wasser, das sie trinken und auf die Erde, von deren Erträgen sie leben. Noch existiert dafür kein griffiges Schlagwort. Später wird es untrennbar mit der Industrialisierung verbunden sein: Umweltzerstörung.
Die Neue Welt beeindruckt Wilhelm Maybach mit vielen widersprüchlichen Bildern – in der Alten Welt, im Schatten des Kölner Doms, hält sein Förderer Gottlieb Daimler die Stellung. Doch in Köln-Deutz erlebt Daimler nur eine Neuauflage der alten Scherereien. Sein Erzfeind Nikolaus August Otto macht mit einer Erfindung von sich reden, an der doch er, Daimler, selbst maßgeblich mitgearbeitet hat. Nein, diese Erfindung wäre ohne seine Mitarbeit geradezu undenkbar, sie würde niemals funktionieren, sie ließe sich nicht verkaufen. Und dennoch beansprucht Nikolaus August Otto die geistige Urheberschaft für den neuen Viertaktmotor: Er fordert, dass die Maschine „Ottos neuer Motor“ genannt werden solle – Gottlieb Daimler hält dieses Ansinnen für einen unerträglichen Affront. Der Apparat müsse stattdessen einen neutralen Namen tragen: „Neuer Deutzer Motor“.
Der Streit setzt den Aufsichtsrat der Gasmotorenfabrik unter Druck: Egal, wie man sich in dieser Angelegenheit entscheidet, einen der beiden Streithähne wird man verprellen. Der Firmengründer Eugen Langen versucht, die Widerspenstigen mithilfe eines Kompromisses zu zähmen: Otto erhält die Namensrechte. Eugen Langen schreibt ihm, er hoffe, „daß dadurch, daß man die Maschine nach Ihnen benennt, nicht das Verhältnis zwischen den Mitgliedern der Direktion gestört, sondern gefestigt werde“. Gottlieb Daimler wiederum wird durch ein Mittel besänftigt, das in den meisten Fällen seine Wirkung nicht verfehlt: Geld. Dafür, dass er den Namen Ottomotor leichter erträgt, erhält der Schwabe Aktienanteile. Eugen Langen glaubt, dass mit dieser salomonischen Lösung in Köln-Deutz der Burgfrieden wiederhergestellt ist. Er hofft, „Geheimnistuerei und Eifersucht“ zwischen seinen wichtigsten Mitarbeitern beseitigt und Frieden gestiftet zu haben. Langen wird schnell feststellen, dass er seine beiden Erfinder-Diven nicht gut genug kennt.
Drei Jahre hat sich Robert Bosch mit seinem trägen Meister Wilhelm Maier abgeplagt. Endlich endet die Ausbildungszeit für den nun 18-Jährigen. Meister Maier unterschreibt ein spärlich betextetes Abschlusszeugnis, in dem er seinem Lehrling bescheinigt, durch Fleiß und gutes Betragen seine Zufriedenheit erworben zu haben. Für dessen „ferneres Fortkommen“ wünsche er ihm Glück. Die Wege der beiden trennen sich, es gibt nichts, was den Jungmechaniker hier noch halten könnte. Robert Bosch bleibt neben dem Zeugnis der schale Beigeschmack, mehr zu können, aber nicht richtig gefördert und gefordert worden zu sein. Aus dieser Bitterkeit wird er später seine Schlüsse ziehen. Dann wird er es sein, der andere anleitet.
Nach der Lehrzeit beginnen seine Wanderjahre. Robert Bosch stellt sich in Pforzheim und in Karlsruhe vor, aber dort hat niemand Verwendung für ihn, vielleicht auch, weil es in diesen Jahren nicht üblich ist, dass ein Mechaniker einfach vorspricht, ohne vorher schriftlich bei den Werkstätten angefragt zu haben. Jetzt muss die Familie weiterhelfen. Robert Bosch steigt in einen Zug, über Heidelberg fährt er nach Köln, wo sein Bruder Carl lebt. Mit Carl und mit seiner Schwester Babette fühlt sich Robert unter seinen vielen Geschwistern am engsten verbunden. Die Stadt am Rhein strebt in die Zukunft – und blickt gleichzeitig weit in die Vergangenheit zurück. Kein anderes Bauwerk atmet mehr Geschichte als der Dom. Als Robert Bosch im Jahr 1879 die Stadt erstmals sieht, ragt ihr Wahrzeichen fast vollendet in den Himmel. Vor mehr als sechs Jahrhunderten haben die Baumeister den ersten Stein für den Kölner Dom gesetzt – nun strebt das Bauwerk nach mehreren Unterbrechungen seiner Fertigstellung entgegen. Robert Bosch betrachtet den gotischen Dom ein Jahr vor dessen Vollendung. Rund um Köln läuten weitaus profanere, aber kaum weniger komplexe Monumentalbauten, eine neue Epoche ein. Die Stahl- und Schwerindustrie expandiert, sie schafft neue Arbeitsplätze und bringt Bewegung in die Stadt Köln. Der rheinische Katholizismus trifft auf Hammer und Stahl.
Robert Boschs Bruder Carl hat sich in den neuen Zeiten eingerichtet, geheiratet und seine beruflichen Chancen ergriffen. Seit rund zehn Jahren führt er gemeinsam mit einem früheren Lehrkameraden aus Ulmer Zeiten in der Kölner Schildergasse ein Geschäft, das in Gas- und Wasserleitungsangelegenheiten Kundendienste anbietet. Für die Kinder aus der Großfamilie Bosch ist Carl ein Orientierungspunkt. Ihn umgibt ein Nimbus. Carl Bosch hat zwischenzeitlich in Marseille gelebt, jetzt beweist er sich in der Großstadt Köln als Selfmademan. Manchmal wundert sich Robert Bosch, wie sehr er mit seinem Bruder in wichtigen Dingen übereinstimmt, er teilt dessen Einstellung gegenüber dem Leben. Im Betrieb seines älteren Bruders arbeitet Robert einige Zeit als Messingschlosser, doch es steht für ihn fest, dass dies nur ein kurzer Zwischenstopp auf seinem Weg in die Selbstständigkeit sein soll. Robert Bosch bewirbt sich in der näheren Umgebung, doch er findet weder in Köln noch in Bonn etwas Passendes. Daraufhin verlässt Robert Bosch Köln – doch zu Carl, dem er sich nahe fühlt, wird es ihn wieder zurückziehen.
Jetzt probiert er im Süden sein Glück. Im Winter 1879 arbeitet Robert Bosch bei der Stuttgarter Firma C. & E. Fein, einem der ersten Elektrotechnikbetriebe, die in Süddeutschland über die Größe einer Werkstatt hinausgewachsen sind. Einige Dutzend Beschäftigte arbeiten dort unter der Regie eines Mannes, der in seinen jungen Jahren bei Siemens & Halske in Berlin und anschließend in London Erfahrungen gesammelt hatte: Wilhelm Emil Fein besitzt eine Spürnase – nicht nur für neue technische Produkte, sondern auch dafür, mit welchen dieser Produkte sich Geld verdienen lässt. Als Robert Bosch in Stuttgart ankommt, ist die Firma mit einem Großauftrag für Feuermeldeanlagen beschäftigt. Auch an dem von Alexander Graham Bell erfundenen Telefon tüfteln Fein und seine Mitarbeiter und entwickeln es mit einem Hufeisenmagneten weiter. Fein arbeitet an transportablen elektrischen Beleuchtungsanlagen, an physikalischen und therapeutischen Apparaten und später an einem beweglichen Telefon, das von den Militärs im Feld eingesetzt wird, um Verbindung mit der Heeresführung im Hinterland halten zu können. Darüber hinaus entwickelt er auch den elektrischen Antrieb für Werkzeugmaschinen. Ein halbes Jahr lang wird der junge Robert Bosch Teil dieses schwäbischen Pionierbetriebs der Elektrotechnik.
Doch im Frühjahr 1880 schreibt er seine Briefe schon wieder von einer neuen Adresse aus. Diesmal hat es ihn ins hessische Hanau verschlagen, wo er in einer Fabrik beschäftigt ist, die Fuchsschwanzketten aus Gold, Silber und einer Legierung aus Kupfer und Zink herstellt. Robert Bosch wird reicher – wenn auch nur an Erfahrungen: Zur Elektrotechnik kommt in Hanau der Werkzeugmaschinenbau hinzu, Robert Bosch arbeitet in einem kleinen Team, das Spezialmaschinen herstellt. Eines Abends schlägt er in Hanau ein Lehrbuch über Optik auf, „Licht und Farbe“. In diesem Buch findet er einen Zettel mit einer Widmung seiner Mutter: „Ein Schiff ohne Steuer vertraut sich den Wellen, nicht lange, so wird es an den Klippen zerschellen. Das Meer ist das Leben, das Schifflein bist Du, die Klugheit mein Freund, ist das Ruder dazu.“
An Klugheit mangelt es Robert Bosch nicht, aber noch steht sein Leben auf schwankendem Grund. Als sein Vater stirbt – genau wie sein Bruder Johann Georg an einer Lungenentzündung – fehlt der Familie zu einem frühen Zeitpunkt ihr Oberhaupt. In der Rückschau wird Robert Bosch bedauern, dass sich sein Vater nach dem Verkauf des Gasthauses zu früh aufs Altenteil zurückzog. Neun Tage lang habe der Vater mit der Lungenentzündung gerungen. Er hätte diesen Kampf wohl nicht verloren, glaubt sein Sohn, wenn er nicht bereits an Herzverfettung gelitten hätte. Robert Bosch beschließt für sich, dass er niemals zu früh von der Arbeit lassen wolle: „Da könnte man schließlich in seinen alten Tagen als Knackwurstprivatier herumlaufen.“
In Ulm lebt der Charakterkopf Servatius Bosch in der Erinnerung mancher Nachbarn fort: auch weil ihm, der zeitlebens andere Wege beschritt, manches angedichtet wird. So besucht einige Zeit nach Servatius Boschs Tod eine alte Bäuerin die Witwe. Sie werde bestohlen, erzählt die Frau, ob man ihr in dieser Angelegenheit helfen könne? Sie habe schließlich gehört, dass Servatius Bosch habe bannen können. Maria Margaretha Bosch empört dieser Geisterglaube der Bäuerin: Nein, ihr Mann sei kein Hexenmeister gewesen!
Als Robert Bosch von seiner Mutter diese Anekdote hört, versucht er sich einen Reim auf den Hexenglauben zu machen: Als sein Vater noch Bauer war, ließ er bei der Ernte das Getreide in regelmäßigen Rechtecken aufschütten. Anschließend nahm er den Stiel seiner Schaufel, zog rings um diesen Haufen Schlangenlinien und ritzte seine Anfangsbuchstaben in die Erde, um seinen Besitz zu markieren. Seinerzeit war es üblich, dass die Bauernsöhne heimlich einen Sack mit Getreide füllten und diesen verkauften, um Geld zu bekommen, das sie bei der Kirchweih umgehend versaufen konnten. Das Ernteritual von Servatius Bosch diente folglich als Diebstahlschutz – wer etwas stehlen wollte, musste den von seinem Eigentümer markierten Haufen komplett zerstören, um sich einen Sack mit Getreide zu füllen. Manche Erntehelfer vom Land sahen in diesen Schlangenlinien jedoch einen dunklen Abwehrzauber.
Im Frühjahr 1881 reist Robert Bosch, nun fast 20 Jahre alt, erneut an den Rhein, wo sein 18 Jahre älterer Bruder Carl gemeinsam mit seinem aus Stuttgart stammenden Schwager die Firma Bosch & Haag führt. Umsichtig betreibt er das Großhandelsgeschäft, in dem Installateure ihre Einrichtungen kaufen. Carl Bosch fühlt sich seinem jüngeren Bruder Robert verpflichtet, erst recht seit dem Tod des Vaters. In Köln hat Carl Bosch bereits erreicht, wonach Robert Bosch noch strebt: Er ist nicht nur sesshaft geworden, Carl Bosch zählt in der Stadt am Rhein längst zu den geachteten Persönlichkeiten. Er hat den Kaufmännischen Verein, die Kaufmännische Abendschule und die Handelshochschule gegründet. Carl Bosch mischt sich ein in die öffentlichen Belange, er sagt seine Meinung, wo er es für angebracht hält. Diese Einstellung wirkt wie ein Erbteil der Familie – sie spiegelt das Wesen seines Vaters Servatius wider. Robert Bosch blickt zu seinem älteren Bruder auf. Mit Carl Bosch ist in Köln zu rechnen – und sein eigenes Geschäft, in dem er immer mehr Mitarbeiter einstellt, beweist, dass Carl Bosch auch ein Kaufmann ist, der zu rechnen vermag.
Diese Fähigkeit fehlt seinem jüngeren Bruder Robert noch, der sein technisches Wissen inzwischen verfeinert hat. Von Bilanzen, Umsatz und Gewinn versteht er jedoch wenig. Das soll sich ändern, bei Carl erhält Robert Bosch eine kaufmännische Ausbildung im Schnelldurchlauf. Robert Bosch hat den festen Willen, später auf eigenen Füßen zu stehen. Doch am Markt durchsetzen wird er sich nur dann, wenn sein Betrieb solide wirtschaftet. Während Robert Bosch die Bücher des Großhandelsgeschäfts durcharbeitet, dringt Lärm meist nur aus einer angeschlossenen Werkstatt, in der die zum Verkauf stehenden Geräte und Apparaturen zusammengebaut werden.
Wenn Robert Bosch in dieser Werkstatt vorbeischaut, begegnet er oft einem noch nicht siebenjährigen Jungen, der spielerisch den Umgang mit dem Werkzeug lernt. Es handelt sich um den ältesten Sohn seines Bruders Carl, dem die Eltern den Namen seines Vaters gegeben haben: Carl Bosch junior. Der Junge ist aufgeweckt, er erkundet mit der gleichen Neugier und Leidenschaft die Natur wie sein Onkel Robert in seinen Kindheitstagen. Carl Bosch spielt mit seinen Freunden auf den Überresten der alten Kölner Stadtmauer, die in diesen Jahren abgerissen wird. Neben der Trümmerlandschaft fasziniert ihn ein Sumpfgebiet vor den Toren der Stadt. Dort streift er umher, sucht im Wasser nach Tieren, fängt Insekten und erforscht die Käferwelt. Abends bringt er seine Schätze nach Hause, wo er Sammlungen seiner Tiere anlegt. In der Schule werden seine Lehrer später feststellen, dass seine Leistungen in Zoologie und Botanik hervorragend sind. Carl Bosch junior verbindet die Begeisterung für die Natur mit der präzisen Beobachtungsgabe, die auch Robert Bosch auszeichnet. Im Baukasten der Natur verbergen sich zahllose Wunder, die nur noch größer werden, wenn man zwei Käfer voneinander unterscheiden kann.
Zwischen dem siebenjährigen Carl Bosch junior und seinem 20-jährigen Onkel Robert entwickelt sich eine Freundschaft, die viele Jahrzehnte bestehen bleiben wird. Robert Bosch erkennt schon bei diesen frühen Begegnungen, dass sein Neffe über viele Talente verfügt. Bald wird Carl Bosch auch sein handwerkliches Geschick beweisen, indem er Vogelkäfige und Terrarien mit einer Warmwasserheizung baut. Noch ist für den jungen Carl alles nur ein großes Spiel, wenn er gemeinsam mit seinem Vater Drachen baut, die sonntags über den Feldern flattern. Es liegt an einem sehr fernen Horizont verborgen, dass Robert und Carl Bosch beide einmal Unternehmen von Weltrang führen werden und dass Carl Bosch junior mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wird.
Im Köln des Jahres 1881 backt Robert Bosch kleine Brötchen. Was er für die Firma Bosch & Haag in der Altstadt an Einnahmen und Ausgaben einander gegenüberstellt, sind Peanuts im Vergleich zu dem, was Firmenbuchhalter auf der anderen Rheinseite errechnen. Fünf Kilometer vom Bosch-Betrieb entfernt, dreht eine Firma am großen Rad.
In Köln-Deutz ist die Großindustrie zu Hause. Keine andere Motorenfabrik reicht inzwischen an die Größe der Gasmotorenfabrik Deutz heran. Einen beträchtlichen Anteil an diesem Erfolg schreibt sich ein Mann zu, der seit neun Jahren als technischer Direktor im Dienst der Fabrik steht. Er trägt einen Vollbart, ist mit den Jahren fülliger geworden. Unstillbar ist sein Hunger nach Erfolg. Die Arbeit in Deutz ist die bisherige berufliche Krönung für den Bäckersohn Gottlieb Daimler, der auf dem Fabrikgelände mit seiner Familie ein repräsentatives Bürgerhaus mit Garten bewohnt, das an ein zweites angrenzt. Die Nachbarschaft ist problematisch. Direkt nebenan wohnt der kaufmännische Direktor der Gasmotorenfabrik, Nikolaus August Otto, mit seiner Familie. Daimler und Otto arbeiten seit Jahren mehr gegen- als miteinander – für die Gasmotorenfabrik wird diese Feindschaft zu einem explosiven Gemisch. Von jedem Funkenschlag droht Gefahr.
Die Herren streiten sich, wo sie aufeinandertreffen. Nikolaus Otto erfindet den Viertaktmotor – aber Gottlieb Daimlers Ziehsohn Wilhelm Maybach verbessert den Motor auf eine Weise, die seine Massenfertigung erst ermöglicht. So notiert Gottlieb Daimler über Ottos Viertaktmotor in seinem Tagebuch: „Nicht aber Idee, gute Ausführung ist Hauptmoment“. Ihm, Gottlieb Daimler, sei es zu verdanken, dass in Deutz aus einer kleinen Werkstatt eine planmäßig eingerichtete, gut organisierte Musterfabrik entstanden sei. Man könne ruhig von einem Weltetablissement reden!
Zwischen Daimler und Otto geht es um Kompetenzen, Geld und Ruhm. Die beiden tragen ihre Eifersüchteleien auch über Briefwechsel aus: Die Konzernspitze möge bitte einsehen, dass der eine, nein, der andere! unzweifelhaft im Recht sei.
Die Chefetage versucht zum wiederholten Mal Wogen zu glätten, die kaum mehr zu beruhigen sind. In einem Brief verschafft sich Gottlieb Daimler einem Freund gegenüber Luft. Nikolaus Otto ist für ihn zu einem roten Tuch geworden. „Unter Führung unseres Dilettanten wird der hiesige Karren immer mehr verfahren und ich bin nicht frech genug, demselben, so wie es sich gehört, entgegenzutreten … Es ist zum Kuckuckholen, daß überall die Leute erst durch Schaden klug werden und der ruhig denkende Techniker durch den schwungvollen Kaufmann von seiner Bahn abgelenkt wird.“
Die Trennung in Techniker und Kaufleute prägt Gottlieb Daimlers Denken. Ihm fällt es schwer, sich in die Gedankenwelt der Finanziers hineinzuversetzen, obwohl er selbst bei Vertragsabschlüssen hart verhandelt. Gottlieb Daimler sieht sich bevormundet und gegängelt. Dabei wisse er es doch besser.
In Deutz redet man öfter über-, aber nur noch selten miteinander. Spitzzüngig bedenken die verfeindeten Lager einander mit abfälligen Begriffen, die den Irrweg der Kontrahenten verdeutlichen sollen. Ottos eigene Versuchswerkstatt, in der er an dem Viertaktmotor getüftelt hat? Eine Murksbude, raunt man im Daimler-Lager. Die Gruppe um Gottlieb Daimler, Wilhelm Maybach und deren Landsleute, die nach und nach aus dem Süden des Landes zugezogen sind? Ein seltsames Schwabennest, in dem nichts Gutes ausgebrütet werde, sagen die Getreuen von Nikolaus August Otto.
In Deutz ruiniert man sich, so gut man kann, gegenseitig die Gesundheit und den Verstand. Die beiden Nachbarn Daimler und Otto, die Wand an Wand wohnen, sind ziemlich beste Feinde. Gottlieb Daimler herrscht in den Werkstätten mit an Starrsinn grenzender Willenskraft – jede Erfindung ist für ihn das Endprodukt von tausend kleinen Schritten. Auf der anderen Seite lässt sich Nikolaus August Otto bei seinen Arbeiten oft von seiner Intuition leiten, der schroff zupackende Daimler bleibt ihm fremd. Wo man miteinander reden müsste, herrscht zwischen den beiden Schweigen. Misstrauisch beäugen sie die Schritte des anderen. Otto versäumt es nicht, sein Arbeitszimmer stets abzuschließen, nachdem er es verlassen hat, weil er befürchtet, dass Daimler sonst von seinen Plänen erfahren könnte. In Köln heißt es, Otto sei ein „Mensch ohne Haut“, manchmal überempfindlich im Umgang mit anderen Menschen. Als Nikolaus August Otto vom Firmenchef Eugen Langen einen Brief erhält, der sein Verhältnis zu Gottlieb Daimler thematisiert, liest er darin folgende Frage: „Sind Sie beide denn Feuer und Wasser und können sich nie befreunden, weder geschäftlich noch persönlich, trotzdem Sie die gleichen Interessen haben?“
Ja, die beiden sind Feuer und Wasser. Daimler verleugnet seine aufbrausende Art nicht. Wenn er auf Dilettantismus trifft und seine Anordnungen missachtet werden, tobt er in der Fabrik. Es sei besser, meint Daimler, „sich einmal kotzengrob die Wahrheit zu sagen, als hinterhältig muffelnd nebeneinander herzulaufen“. Diese Eruptionen eines Feuerkopfs sind nichts für dünnhäutige Menschen.
Ungeachtet aller Fehden ist die Gasmotorenfabrik unter der Regie der Streithähne wirtschaftlich erfolgreich. Es ist nicht einmal 20 Jahre her, dass Gottlieb Daimler und Nikolaus August Otto in Paris staunend wie Schuljungen vor dem Wundermotor des Étienne Lenoir standen. Nach dieser Lektion erhielt der junge Gottlieb Daimler im Dunstkreis der Fabrikschlote von Manchester technische Entwicklungshilfe. Nun jedoch blicken Franzosen, Engländer und Amerikaner nach Köln-Deutz. Maschinenbauer aus aller Welt reisen ins Rheinland, um den neuen Viertaktmotor zu sehen, von dem alle reden. Bei dem Motor handelt es sich um ein Fortschrittsprodukt „made in Germany“ – um ein Werkstück aus einer deutschen Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Der Erfolg ist so groß, dass ihn Gottlieb Daimler und Nikolaus August Otto nicht gemeinsam verkraften.
Unbeeindruckt von diesen menschlichen Zerwürfnissen sucht der Rhein weiter seinen Weg durch die Domstadt Köln. Er wäscht Steine glatt und sammelt flussabwärts Geschichten. In Mannheim kommt eine weitere Technikgeschichte hinzu. Hier lebt ein Mann, der ebenfalls an die Zukunft der Motoren glaubt. Carl Benz ist der Sohn eines Schmieds, der später in den Dienst der Badischen Staatsbahn trat. Benz wurde in Karlsruhe geboren, seine Vorfahren stammen aus einem Schwarzwalddorf, und es sind dessen weltberühmte Uhren, die der kleine Carl schon als Junge auseinanderbaute, reparierte, wieder zusammensetzte und damit sein erstes Geld verdiente. Diese Fingerfertigkeit half ihm Jahre später, als er in der Karlsruher Maschinenfabrik in halbdunklen Werkstätten bohrend und feilend Zwölfstundentage verbrachte. Inzwischen ist Carl Benz längst selbstständig und verheiratet mit seiner Berta. Doch die Werkstätte, die er in Mannheim betreibt, bringt ihm zunächst nicht den Wohlstand, sie bringt ihn dem Ruin näher.
Seine Geschichte erzählt vom Willen, durchzuhalten. Erfinden und daran verzweifeln, dass es nicht funktioniert – dieses Gefühl kennt Carl Benz allzu gut. Jahrelang hatte er seinen Zweitaktmotor verändert und verbessert, aber der Apparat funktionierte nicht richtig. Für Carl Benz wurde es zu einer Existenzfrage, ob er diesen Motor zum Laufen bringen würde. Seine Ängste plagten ihn bis zu einer magischen Silvesternacht, deren Ablauf er in seinen Erinnerungen später womöglich verklärt: Seine Frau Berta habe ihn nach dem Abendessen aufgefordert, erneut in die Werkstatt hinüberzugehen. Man müsse dort noch einmal sein Glück versuchen, in ihr locke etwas, es ließe ihr keine Ruhe.
Ihr Mann Carl erinnert sich an diesen Wendepunkt seiner Karriere: „Und wieder stehen wir vor dem Motor, wie vor einem großen schwer enträtselbaren Geheimnis. Mit starken Schlägen pocht das Herz. Ich drehe an. Tät, tät, tät, antwortet die Maschine. In schönem regelmäßigem Rhythmus lösen die Takte der Zukunftsmusik einander ab. Was keine Zauberflöte der Welt zuwege gebracht hat, das vermag jetzt der Zweitakter. Je länger er singt, desto mehr zaubert er die drückend harten Sorgen vom Herzen … Auf einmal fingen auch die Glocken zu läuten an. Silvesterglocken! Uns war’s, als läuteten sie nicht nur ein neues Jahr, sondern eine neue Zeit ein, jene Zeit, die vom Motor den neuen Paukenschlag empfangen sollte.“
Solche Geschichten könnte der mythische Rhein mit sich forttragen, auf seinem Weg durch das Heimatland der Romantik: wie sich zwei Männer in Köln trotz ihres gemeinsam erreichten Erfolgs immer mehr entzweien und wie eine starke Frau in Mannheim ihrem zweifelnden Mann Mut zuspricht. Da fließt ein moderner Legendenstoff dahin, dessen Hauptrollen mit zwiespältigen Heldenfiguren besetzt sind: hier der aufbrausende Gottlieb Daimler, dort der am finanziellen Abgrund taumelnde Carl Benz und dazu der dünnhäutige Nikolaus August Otto. In diesem Gründerzeitendrama beansprucht jeder von ihnen eine Hauptrolle. Noch ahnt keiner, dass die Namen Daimler und Benz einmal nur noch von einem Bindestrich getrennt sein werden. Noch kreuzen sich die Wege der beiden Männer nicht.
Unterdessen ist man in Köln langsam mit der Geduld am Ende. Die Konzernspitze um Eugen Langen hat sich den Hahnenkampf zwischen Gottlieb Daimler und Nikolaus August Otto lange mit angesehen. Nun sinkt der Stern des Schwaben, den man zunehmend als Querulanten empfindet. Erst recht, nachdem Gottlieb Daimler sich in einer strategischen Frage gegen die Mehrheitsmeinung im Unternehmen stellt. Daimler erhält unerfreuliche Post. Er möge sich künftig einmal wöchentlich für eine Privatkonferenz mit seinem Chef zur Verfügung halten. Man wolle Fortschritte sehen. Wo er sich einfinden solle, werde man ihm mitteilen. Der Brief ist in seiner Aussage und im Tonfall eine unmissverständliche Demonstration von Macht. Gottlieb Daimler soll endlich als Teamplayer arbeiten und gefälligst nach den Regeln der Konzernleitung spielen.
Der Schuss vor den Bug trifft Gottlieb Daimler. Er setzt einen Brief an Otto auf, in dem er versöhnliche Töne anschlägt. Vergangenes solle vergessen sein, er könne sich vorstellen, künftig freundlich miteinander umzugehen. Wenn dies auch Ottos Wunsch sei, sei er, Daimler, stets bereit, ihm entgegenzukommen. Die Antwort auf das Friedensangebot Gottlieb Daimlers fällt kühl aus. Otto erklärt, er habe nur im Interesse der Sache zu Daimlers wiederholten Auslassungen geschwiegen. Sonst hätte es schon längst einen „unmittelbaren Bruch“ zwischen beiden gegeben.
Der Briefwechsel verdeutlicht, wie tief die Gräben zwischen den beiden sind, wie sehr die geschäftlichen Differenzen ins Persönliche hineinspielen. In Deutz wird eines immer deutlicher: Die Zukunft heißt nicht Otto und Daimler. Die Zukunft heißt Otto oder Daimler. Die Zeichen stehen auf Trennung.
Die Konzernspitze versucht, Zeit zu gewinnen, um sich darüber klar zu werden, wie es mit dem schwäbischen Sturschädel weitergehen soll. Wenn Gottlieb Daimler nur für längere Zeit von der Bildfläche verschwinden würde, am besten so weit weg, dass ihm nur wenig von zu Hause zugetragen werden könnte! Im Sommer 1881 spricht man in der Direktion mit ihm. Es gebe eine wichtige Aufgabe, er sei bestens dafür geeignet, es sei reizvoll, ein Abenteuer. Es gehe um Russland. Dort soll Gottlieb Daimler neue Märkte für die Gasmotorenfabrik erschließen, Handelswege auskundschaften und Erdölvorräte bewerten. Die Aufgabe reizt Gottlieb Daimler. Der wilde Osten, in dem Zar Peter der Große regiert, ist auch für ihn Neuland.
Im Oktober 1881 betritt Gottlieb Daimler den Berliner Bahnhof. Sein Arbeitgeber hatte ihn zur Eile gedrängt, rasch musste er die außergewöhnliche Dienstreise vorbereiten, die er nun antritt. Am Schalter kauft sich Gottlieb Daimler ein Schlafbillett für den Zug, der ihn zunächst nach Warschau bringen soll. Der 47-Jährige ist ein weltgewandter Geschäftsmann, er spricht Englisch und Französisch. Die Weiten Russlands kennt er nur vom Hörensagen. Als Gottlieb Daimler in den Zug einsteigt, denkt er an seine Reiseroute, an Polen, Lettland und Russland. Aber ahnt er auch, was ihm nach seiner Rückkehr in Deutz bevorstehen könnte?
Mal schauen, was die Konkurrenz im Osten macht. Gottlieb Daimler führt Tagebuch. In Warschau notiert er: „130.000 Einwohner, 200.000 Spindeln, Gummifabriken fehlen, Gasfabriken fehlen“. In Riga besucht er die russisch-baltische Waggonfabrik, deren Geschäfte so schlecht laufen, dass er anschließend festhält: „Sie sägen Holz für England, um Leute zu beschäftigen“. Der Motorenfabrikant aus Deutschland weiß genau, dass Spitzentechnologie ohne gut ausgebildete Fachkräfte zum Scheitern verurteilt ist. In Lettland schreibt er ernüchtert: „Es ist eine Kunst, in einem Lande mit ungelehrig Leuten, Maschinen auf die Dauer gut gehend zu halten.“
Sein eigener Erfolg ist das Produkt jahrzehntelanger Erfahrungen. Er begann in Schorndorf, lernte am Stuttgarter Polytechnikum, arbeitete im Elsass und in England, übernahm in Reutlingen erstmals Führungsverantwortung, bevor er nach Karlsruhe ging und von dort nach Köln. Niemand muss ihm erklären, dass Köln nicht der Nabel der Welt ist, auch nicht München oder Berlin. Daimlers Horizont reicht darüber hinaus. In den Weiten Osteuropas wittert er Geschäfte, die nur darauf warten, abgeschlossen zu werden. Wie könnte die Gasmotorenfabrik in Deutz daraus Kapital schlagen? Wo läge sein eigener Gewinn? Akribisch notiert er in seinem Tagebuch, in welchem Zustand sich Fabriken und Anlagen befinden. Er besichtigt Messingwalzwerke, Gießereien und eine Schiffsbauwerkstatt, er erkundet Leucht- und Kraftgasfabriken. In seinen Notizen rechnet er durch, wie hoch die Preise für Roheisen liegen, er überlegt, was wohl an Löhnen und Gewerbesteuern zu zahlen wäre. Ob hier Profite möglich sind, von denen außer ihm kein anderer etwas ahnt?
Gottlieb Daimler schärft seinen Blick. Er bewertet Absatzmärkte und trifft sich mit potenziellen Handelspartnern. Die Konkurrenz sitzt nicht mehr nur vor seiner Haustür: Sie kann überall dort, wo die Eisenbahn hält, in wenigen Jahren besser und schneller sein als er selbst. Der Wettbewerb ist rau, die Karten werden neu gemischt, und nicht alle Mitspieler sind Ehrenmänner. Gottlieb Daimlers Misstrauen gegenüber seinen Geschäftspartnern ist im Laufe der Jahre gewachsen. Es wuchert in ihm wie ein Geschwür, es bemächtigt sich seines Denkens, es lässt ihn aufbrausen gegen sich selbst – und oft gegen andere. Er fährt durch Europas Osten, aber seine Gedanken kreisen immer wieder um die Zeit in Köln-Deutz: um Nikolaus August Otto, Eugen Langen und um all den fruchtlosen Streit.
In seinem Tagebuch findet sich neben seinen geschäftlichen Aufzeichnungen ein bitterer Cocktail aus Wut und Groll. Gottlieb Daimler schreibt sich seinen Frust in kurzen Stakkatosätzen von der Seele. Seine Widersacher hätten ihn um seine Ehre gebracht. Er selbst habe doch die Hauptarbeit geleistet und auch die Namen der anderen in die Welt hinausgetragen. Nun könne der Mohr wohl gehen. Daimlers Notizen offenbaren, wie tief ihn die beruflichen Kränkungen getroffen haben und wie sehr seine Familie unter seinem Unglück leidet. Seine Frau hätten sie krank gemacht, schreibt Daimler. Er selbst sei durch die „selbstmörderischen Fehler“ der anderen zum Greis geworden. In seinen Tagebüchern vermengen sich Kritik und Anklage, Selbstkritik äußert er selten.
Wie konnten sie es in Deutz nur so gegen ihn treiben? „Hölle siegst Du, Lügenbude, Verdummungsanstalt.“ Die Gespenster aus der Gasmotorenfabrik tanzen Daimler in dunklen russischen Nächten vor Augen. Vorahnungen beschleichen ihn, dass sein Abschied dort bevorsteht – und dass dieser nicht so ehrenvoll ausfallen könnte, wie es ihm zustünde. „Die Hölle der Niedertracht hat gesiegt über die Geradheit? Recht und stille Arbeit, aber auch die Planlosigkeit feiern Triumphe.“
Der Kapitalismus boomt, und viele fahren ihre Ellenbogen aus. Gottlieb Daimler ist nicht mehr der Jüngste, seine Gesundheit ist angegriffen, doch er besitzt noch genug Kraft für einen Neuanfang. Sein größter Triumph steht noch bevor, seine bitterste Niederlage auch. Auf seiner Reise durch die oft menschenleeren Weiten Russlands zeichnet Gottlieb Daimler Bilder einer Landschaft. In zierlichen Strichen bannt er Kirchen und Paläste auf Papier, in seinem Notizbuch folgt er den Konturen barocker Kloster und nüchterner Fabrikfassaden. Der Fortschritt hat in Russland Einzug gehalten, auch wenn es nur Inseln in einem Meer aus Rückständigkeit sind, die Gottlieb Daimler vorfindet. Eben noch hat er Kühe neben „faulen Bauern“ gesehen, da beeindruckt ihn die Werft Peters des Großen.
Immer wieder notiert Gottlieb Daimler seine Einfälle und Ideen, mitunter lässt er auch Dampf ab, wenn es um die Unterkünfte geht. Sein Hotel in Riga kann er leider nicht weiterempfehlen. „Sonderbar rußiger Geruch und unsäglich schlechte Zimmer.“ Das abschätzige Urteil passt zu dem Bild, das er bereits in den Vorstädten Rigas gewonnen hat. Die Menschen leben in schlichten einstöckigen Holzhäusern, die Straßen, wie auch die Trottoirs sind grob gepflastert. Armut und Schmutz sind Gottlieb Daimlers ständige Reisebegleiter. Der Glanz des Zaren strahlt nur in wenigen Ecken seines Reichs.
Am 28. Oktober 1881 geht es von Riga aus weiter ostwärts. Gottlieb Daimler hat im Nichtraucherabteil einen Platz gefunden, er ist beschwingt, die Sonne scheint – wie schön muss in dieser Gegend der Sommer sein! Doch solche Sentimentalitäten bleiben in Gottlieb Daimlers Notizbuch eine Ausnahme. Nur selten schreibt er über Eindrücke, die über das Geschäftliche hinausreichen und einen kurzen Einblick in seine Gemütslage geben.
Am 29. Oktober wird Gottlieb Daimler von Morgenröte und Kälte geweckt. Auf dem Zugfenster blühen Eisblumen und endlich, zur Mittagszeit, erreicht der Zug den Bahnhof von Petersburg, wo viele Kutscher mit ihren Droschken auf die Passagiere warten. Gottlieb Daimler lässt sich ins „Angleterre Hotel“ bringen, die lange Fahrt hat ihn ermattet. Am nächsten Morgen, einem Sonntag, erwacht er in seinem Hotel, blickt aus dem Fenster und findet die Welt wie verwandelt vor: „Über Nacht geschneit, alles fährt jetzt Schlitten …, ganz anderes Bild. Stille geräuschlos. Tiefe Brummklänge der Glocken.“
Aber Poesie liegt für ihn auch im Stampfen der Maschinen, im Brummen der Betriebe. Russland jedoch macht es einem Mann, der von einem protestantischen Ehrgefühl für Arbeit durchdrungen ist, nicht leicht. Anfang November besichtigt Gottlieb Daimler täglich Betriebe. Was er in den Petroffsky Oil Works von einem deutschen Vor gesetzten erfährt, passt nicht in sein Weltbild. Die Arbeiter machten häufig blau, manche ließen sich in der Woche erst donnerstags blicken und kämen nur dann, wenn man ihnen vorher ordentlich Komplimente mache.
Das Elend der Industriearbeiter, die in Russland meist unter noch härteren Bedingungen schuften, als ihre Leidensgenossen im Westen, kommt ihm in diesem Moment nicht in den Sinn. Russland bietet genug Blendwerk für den Durchreisenden – Gottlieb Daimler sieht die im klassizistischen Stil erbauten Prunkbauten St. Petersburgs, er speist in Luxusrestaurants und lässt sich von weiß gekleideten und Schärpen tragenden Kellnern bedienen. An manchen Abenden folgen Ballett oder Oper – Gottlieb Daimler sitzt im Parkett und erlebt auf der Bühne Spektakel. „Die Jungfrau von Orleans wird verbrannt“, notiert er in seinem Tagebuch.
Trotz der schönen Künste wird seine Reise allmählich zur Tortur: Warschau, Riga, St. Petersburg, Moskau und von dort weiter gen Osten, wo jenes Öl zu finden ist, das für Gottlieb Daimler bald wichtig wird. In diesen Tagen mag sich Gottlieb Daimler an die Erzählungen seines Ziehsohns Wilhelm Maybach erinnern, der vor fünf Jahren die Vereinigten Staaten bereiste und dort bei Pittsburgh Zeuge des Ölrauschs wurde. Er selbst lebt nun schon seit Wochen aus dem Koffer, Mütterchen Russland strengt ihn an – Gottlieb Daimler ist ein Manager im Außendienst, unterwegs im Auftrag eines Unternehmens, das ihn lieber heute als morgen loswerden möchte. Noch ist die Businessclass nicht erfunden, aber der Geschäftsreisende betritt die große Bühne.
Wie lange ein Mensch wohl braucht, um die ganze Welt zu umrunden? Diese Frage beflügelt die Fantasie im späten 19. Jahrhundert, und ein Roman des französischen Science-Fiction Autors Jules Verne beantwortet sie: „Reise um die Welt in 80 Tagen“. Jules Verne lässt den englischen Gentleman Phileas Fogg gemeinsam mit dessen Diener nach einer Wette um die Welt reisen. Die Fahrt gerät zu einem verzweifelten Kampf um Pünktlichkeit: In Indien müssen die beiden zwischen Bombay und Kalkutta auf einem Elefanten weiterreiten, weil eine Eisenbahnstrecke wider Erwarten noch nicht vollendet wurde. Die Reisegemeinschaft verliert wertvolle Zeit, als der Diener in einer Opiumhöhle versumpft. In Amerika verhindert eine die Gleise überquerende Bisonherde das Vorankommen. Später lässt Jules Verne, ganz im Klischeebild seiner Zeit, wilde Indianer den Zug überfallen.
Natürlich gelingt es Phileas Fogg und seinem Diener, buchstäblich in letzter Sekunde pünktlich in London einzutreffen und die Wette zu gewinnen. Jules Verne entfaltet in seinem Roman, der sich an die reale Weltreise eines Amerikaners anlehnt, ein Kaleidoskop der modernen Fortbewegungsmittel, das die Möglichkeiten der menschlichen Muskelkraft oder der Pferde weit übersteigt: Es geht mithilfe von Lokomotiven und Dampfschiffen voran, auch ein von Segeln angetriebener Schlitten hilft Fogg, seine Wette zu gewinnen. Natürlich sehen die Helden auch den Suezkanal, dessen Erbauung überhaupt erst eine Reise um die Welt in 80 Tagen ermöglicht.
Mit Phileas Fogg gibt Jules Verne dem modernen Helden einen Namen. Der mobile Mensch sitzt nicht mehr im Schaukelstuhl und schmaucht im Biedermeierstil seine Pfeife – der Held dieser modernen Zeiten bricht zu neuen Ufern auf. Er probiert, er wagt, er entdeckt oder erfindet. Er ist fast immer ein Mann der Tat, noch spielen die meisten Frauen nur Nebenrollen in diesem weltgeschichtlichen Theaterstück über die großen Veränderungen. Die Gesellschaft lässt es nur in Ausnahmefällen zu, dass neben Gründervätern wie Gottlieb Daimler, Werner von Siemens und Thomas Alva Edison auch Gründermütter stehen.
Die Armee ist eine frauenfreie Zone. Obwohl: Außerhalb der Kasernen sieht die Welt für die Soldaten, die in der Garnisonsstadt Ulm stationiert sind, völlig anders aus. Dabei treffen württembergische oft auf bayerische Soldaten, die ihre Freizeit gerne auf der anderen Seite der Donau verbringen. Es herrscht Frieden im Land, aber befeuert von Bier und Schnaps prügeln sich die Soldaten „notfalls auch um Damen“, und man wirft einander, so schreibt es Robert Bosch, „bei Tanzmusiken wechselseitig durch die Fenster“.
Am 1. Oktober 1881 rückt der 20-Jährige in der Donaustadt zu seinem Dienst im Pionier-Bataillon 13 ein. Für ein Jahr hat er sich beim Militär verpflichtet. Schnell lernt er die Spielregeln der Armee kennen, zu denen der sonntägliche Wirtshausbesuch in der Stadt gehört. Bei den gelegentlichen Prügeleien wird Robert Bosch nicht aktenkundig, und das ist besser für ihn, weil im Disziplinarkatalog des württembergischen Militärs unerfreuliche Dinge stehen: Die Vorgesetzten disziplinieren ihre Untergebenen mittels Arrest. Je nach Schwere des Vergehens erfolgt das Wegsperren in drei abgestuften Härtegraden. Ab Stufe zwei erwartet den Soldaten ein einsames Gefängnis mit Pritsche. Erst am dritten Tag bekommt er etwas Warmes zu essen, vorher hält man ihn bei Wasser und Brot. Die unteren Dienstgrade werden für die Hälfte der Arrestzeit zusätzlich mit Eisenketten gefesselt.
Für das Militär gilt also: raue Schale, rauer Kern. In dieser Welt muss Robert Bosch einen Drill aushalten, der den barschen Ton jedes Handwerksmeisters, den er bisher kennengelernt hat, bei Weitem übersteigt. Die Stadt Ulm lebt gut mit und von ihren Soldaten – das gilt für die Wirtschaften und für die Wirtschaft. Seit dem siegreichen Deutsch-Französischen Krieg 1871 begeistern sich viele Menschen für alles Militärische, der Sieg hat der Armee einen enormen Image -gewinn gebracht. Man schwelgt in Patriotismus: Wer eine Uniform trägt, der ist wieder wer, das war in der württembergischen Armee der armen Leute lange Zeit anders. Inzwischen leisten die Ulmer Soldaten neben dem Eid auf den württembergischen König einen weiteren Schwur, der nach dem Frankreichkrieg der Eidesformel hinzugefügt wurde. So schwört der Pionier Robert Bosch in seiner Uniform auch dem deutschen Kaiser Wilhelm I. die Treue. Ausgerechnet dem Preußen – sein Vater Servatius würde sich wohl im Grab umdrehen.
Glanz und Gloria gibt es jedoch nur bei den Truppenparaden. Als Robert Bosch im Herbst 1881 seinen Dienst aufnimmt, erleben er und seine Kameraden in ihren Unterkünften Mangel und Mief. In der Ulmer Deutschhauskaserne dient ein großer Saal als Schlafstätte für die Mannschaftsdienstgrade. Auf einer Fläche von gut 300 Quadratmetern sind 67 Soldaten untergebracht. Dass jeder Soldat sein eigenes Bett hat, gilt beim Militär schon als Einführung der Komfortzone: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten sich zwei Soldaten ein Bett teilen und abwechselnd darin schlafen.
Aber für die Kameraden von Robert Bosch sind die Bedingungen noch immer hart: Die Wände vieler Zimmer sind feucht, die Böden faulig, die Luftzufuhr schlecht. Das gilt insbesondere für den Schlafsaal, vor dessen Fenster die Entlüftungsrohre eines Klosetts ins Freie münden. Der Gestank ist bestialisch, aber für die Soldaten kommt es noch schlimmer. Vermutlich über eben jene Entlüftungsschläuche gelangen Krankheitserreger in ihre Unterkunft. Bald wütet eine Typhusepidemie in der Kaserne, die im Schlafsaal ihre Brutstätte hat. Die Patienten leiden nicht nur unter der Seuche, sondern auch unter den Ärzten. Die verabreichen den Kranken verdünnte Salzsäure und ordnen gegen das Fieber kalte Wannenbäder an. Denjenigen unter den Geschwächten, die dabei der Ohnmacht nahe kommen, verabreichen die Mediziner ein „reichliches Quantum guten Rotweins“. An Robert Bosch geht dieser Kelch vorüber.
Der Mechaniker behauptet sich in der Armee. Er profitiert von seinen jahrelangen Turnübungen, wenn sich die jungen Soldaten wieder einmal wie ein Rudel junger Hunde aufführen und es gilt, Mutproben zu bestehen. So springt der drahtige Robert Bosch über einen vielleicht vier Meter breiten Wallgraben, während seine Kameraden zögern. Als seine Einheit in der Nähe von Koblenz den Brückenbau über den Rhein probt, trifft er dort einen Sergeant, den er aus dem Turnverein kennt. Nach Dienstschluss erfrischen sich beide beim Bad im Rhein. Einer der beiden weist auf eine entfernte Insel in der Nähe des anderen Ufers hin. Der Sergeant sieht ihn an. Ob er sich wohl traue? Schon schwimmt Robert Bosch auf die Insel zu. Er fürchtet sich nicht vor dem Sprung ins kalte Wasser – auch später im Leben nicht, wenn ein Ufer für ihn weit entfernt liegt. Es sind jene Momente, in denen er seine körperlichen Grenzen austestet, die ihn schließlich mit seiner Militärzeit halbwegs versöhnen werden. Robert Bosch geht bei solchen Mutproben weit, aber nie zu weit. Sie sind für ihn eine Abwechslung im sturen Alltag von Befehl und Gehorsam. Die Armee verlangt den Gleichschritt, Robert Bosch aber will seine eigenen Wege gehen.
Das Schießen liegt ihm im Blut. Er beherrscht es seit seiner Jugend und hat Glück, dass er dieses Talent nie auf einem Schlachtfeld unter Beweis stellen muss. In den Krieg zu marschieren bleibt Robert Bosch erspart. In Ulm visiert er seine Ziele auf den Übungsplätzen der Armee an. In der Nachbarschaft der Plätze lebt es sich riskant – die Armee hat die Schutzwälle rund um ihre Anlagen derart niedrig gebaut, dass Zivilisten mitunter die Kugeln um die Ohren fliegen. So beschweren sich einmal Bauern, sie seien während der Feldarbeit beschossen worden. Aber das Militär muss sich nun mal in Schuss halten – ob zu Lande oder im Wasser. Dort lauern mehr Gefahren für die Soldaten, als sie ahnen können. An den Ufern der Donau unterhält die Armee zwei Militärschwimmanstalten. Was an den Soldaten vorbeitreibt, ist manchmal nichts für schwache Nerven. Immer wieder werfen die Bewohner umliegender Gemeinden Tierkadaver in den Fluss. Aufgrund des stark verkeimten Wassers erkranken zahlreiche Soldaten an gefährlichen Infektionskrankheiten.
Typhus, Gelbsucht, Prügeleien und Arrest – beim Militär können die Soldaten froh sein, wenn sie am Ende ihrer Dienstzeit ähnlich vorzeigbar sind wie zuvor. Robert Bosch hinterlässt bei seinen Vorgesetzten offenbar den Eindruck, dass aus ihm ein strammer Soldat werden könnte. Als seine Dienstzeit endet, schlägt ihm der Kommandeur seines Bataillons vor, er solle Berufsoffizier werden. Doch mit diesem Wunsch ist der Mann an den Falschen geraten. Vom Soldatenleben will Robert Bosch nichts wissen, für ihn heißt es jetzt: Freiheit statt Militarismus! So scheidet er, wie viele anderer seiner Kameraden, nach einer einjährigen Dienstzeit aus der württembergischen Armee aus. Beim Abschied sind Souvenirs beliebt, die Andenkenindustrie bietet reichlich Auswahl: Neben den Fotoaufnahmen von feschen jungen Männern in Uniform gibt es auch Reservistenkrüge, Reservistenpfeifen – und, doch, wirklich: Reservistennachttöpfe.
Robert Bosch braucht keinen Nippes, um sich später für immer an seine Dienstzeit in Ulm erinnern zu können. In seinem Bataillon dient mit ihm der Ingenieur Eugen Kayser, der drei Jahre älter ist als er selbst. Beide verbindet ein technischer Berufsweg und bald eine Freundschaft, die Robert Bosch in das Haus der Familie Kayser im beschaulichen Obertürkheim bei Stuttgart führt. Bei der Kaufmannsfamilie lernt Robert Bosch Eugens Schwester Anna kennen. Aus der Begegnung der beiden wird mehr als Freundschaft.
In Köln-Deutz kümmert sich Gottlieb Daimlers Frau Emma um die fünf Kinder. Die Aufgaben in der Familie sind verteilt, sie müssen nicht erkämpft werden, sie sind ja vermeintlich von Gott vorgegeben. In Deutschland zweifeln nur wenige daran. Emma Daimler schreibt ihrem Mann nach Russland, aber die Briefe sind lange unterwegs, und was sie ihrem Gottlieb schreibt, bedrückt ihn oft. Die Nachrichten aus der Heimat erinnern ihn daran, dass es schlecht um seine Sache steht und man ihn zur Seite schieben will. Auch er schickt ihr Briefe. Am 12. November 1881 weilt er an Bord eines Dampfers und blickt in die tief stehende Sonne. Bären, Wölfe und Auerhähne leben in diesem wilden Land. Vom Schiff aus sieht er Sümpfe, manchmal glaubt Gottlieb Daimler, selbst zu versinken.
Aber das kommt erst noch. Am 22. November 1881, während Gottlieb Daimler in Moskau weilt, setzt sein Gegenspieler Nikolaus August Otto in Deutz alles auf eine Karte. Er schreibt dem Aufsichtsrats vorsitzenden der Deutzer Gasmotorenfabrik einen Brief, der einem Ultimatum gleichkommt. Er wolle nicht mehr länger mit Gottlieb Daimler zusammenarbeiten – wenn dieser allerdings aus dem Unternehmen ausscheide, wolle er seinen Vertrag im Werk gerne verlängern. Otto weiß, dass er auf ein starkes Argument zählen kann: Der neue Viertaktmotor ist auf seinen Namen patentiert – wenn er die Gasmotorenfabrik verließe, könnte diese die Vermarktungsmöglichkeiten ihres wichtigsten Produkts verlieren. In diesem Schachspiel um die Macht droht Otto nicht nur, er schmeichelt auch: Es wäre sein Herzenswunsch, wenn man auch ferner zusammenstehen könnte. In diesem Fall wäre er mit ganzem Herzen für und nicht gegen ein Werk, das seine Größe nicht zuletzt ihm, Otto, verdanke.
Otto oder Daimler. Nun gibt es keinen Ausweg mehr, es muss eine Entscheidung fallen. Mitte Dezember ist Gottlieb Daimler endlich in Deutz zurück. Er sprüht vor Tatendrang und sortiert die Notizen seiner Russlandreise. Am 22. Dezember 1881 tagt der Aufsichtsrat. Ein letztes Mal darf Gottlieb Daimler seine Weltsicht verbreiten, über Chancen und Risiken eines russischen Abenteuers reden. Man nickt, man gibt sich interessiert, die Chefetage gewährt Gottlieb Daimler sechs Tage Schonfrist.
Der Weihnachtsfrieden endet für die Familie Daimler am 28. Dezember mit einem Schreiben. Die Direktion sei beeindruckt von den Absatzchancen, die er für Motoren in Russland aufgezeigt habe, und biete ihm an, in St. Petersburg eine Zweigstelle der Gasmotorenfabrik zu leiten. Ferner sei in seinem Vertrag eine sechsmonatige Kündigungsfrist festgelegt, von dieser mache man nun Gebrauch.
Gottlieb Daimler ist von der Nachricht erschüttert. Neun Jahre, nach dem man nichts unversucht ließ, um ihn von Karlsruhe nach Deutz zu locken, hält er nun seine Kündigung in den Händen. Die Schroffheit des Schreibens ist kaum verhüllt durch das Alibi-Ange bot, nach St. Petersburg zu gehen. Die Gasmotorenfabrik hat ihn kaltgestellt. In seinem Tagebuch entwirft Gottlieb Daimler ein Schreiben an seinen Konkurrenten Otto. Schon früher hätten Ehrsucht und Eifersucht all dessen Schritte bestimmt. Damit aber hätte er die gemeinsame Sache verpfuscht. Wenn Otto nur seine diplomatisch vollendete Schlaumeierei gegenüber Konkurrenten angewendet hätte – und nicht ihm gegenüber!
Das neue Jahr steht im Zeichen von Trennung und Neuanfang. Die Härte, mit der Gottlieb Daimler nun mit seinem Arbeitgeber über seine Abfindung verhandelt, zeigt einen kühl kalkulierenden Geschäftsmann. Sie zeigt aber auch dessen enttäuschte Liebe. Für die Kündigung soll Daimler mit 50.000 Talern entschädigt werden. Doch abgesehen von seinen finanziellen Forderungen entbrennt zwischen ihm und der Gasmotorenfabrik ein Streit um etwas noch Wertvolleres: um die Eigentumsrechte an den Patenten. Das Unternehmen beauftragt einen Gerichtsvollzieher. Der schreibt an Daimler, dieser solle die während der Deutzer Zeit erworbenen Patente an die Fabrik übertragen. Tief gekränkt antwortet Gottlieb Daimler, man werde es „begreiflich finden“, dass es ihm nicht möglich sei, „derart mit denjenigen zu verkehren, die mich in so beispielloser Weise aus meiner Stellung herausgedrängt haben“. Notfalls werde er sich nicht scheuen, die Sache vor Gericht zu bringen. „Der Prozess wird mir, selbst wenn ich ihn verlieren sollte, den Gewinn bringen, dass die Welt erfährt, wer den Boden zu dauerhafter Prosperität der Gasmotorenfabrik Deutz gelegt hat und warum jetzt der Techniker zur Untätigkeit verurteilt werden soll, unter dem die Fabrik groß geworden ist.“
Fast ein Jahrzehnt lang hat Gottlieb Daimler sich in den Dienst des Unternehmens gestellt, er hat Opfer gebracht – und andere Opfer für sich bringen lassen, vor allem seine Frau Emma. Gottlieb Daimler bleibt oft ein unsichtbarer Vater, der selbst in seinen freien Stunden über der Fachliteratur brütet oder am Zeichentisch sitzt. Der Haus -halt und die Erziehung der fünf Kinder lasten auf den Schultern sei -n er Frau Emma, die schon seit Jahren an einer Herzerkrankung leidet, genau wie Gottlieb Daimler selbst. Mit seinen Plänen und Ideen strebt Gottlieb Daimler weit in die Zukunft – sein Familienmodell verharrt in der alten Zeit und in einem klassischen bürgerlichen Rollenverständnis: Die Karriere besitzt für ihn Vorrang vor der häuslichen Familienwelt. Sein Lebensglück muss Gottlieb Daimler am Ende seiner Zeit in Köln zerbrechlich vorkommen: Er selbst und seine Frau Emma sind gesundheitlich angeschlagen, sein jüngster Sohn Gottlieb Wilhelm ist noch kein Jahr alt, die Kräfte der Familie sind erschöpft. Emma Daimler wünscht sich nichts sehnlicher, als dass in ihrem rastlosen Leben endlich Ruhe einkehren möge. Die Abfindung, die ihr Mann erhält, würde ein solches Leben ermöglichen. Man könne die Gesundheit schonen. Auch die Nerven.
Eigentlich sollte sie ihren Mann besser kennen. Gottlieb Daimler entscheidet sich gegen ein Leben als Vorruheständler und damit auch gegen den Wunsch seiner Frau. Seine Familie ist mit dem bevorstehenden Abschied aus Köln-Deutz an einem kritischen Punkt angelangt: Beide Elternteile sind krank und geschwächt, gleichzeitig verlässt Gottlieb Daimler eine Führungsposition in einem etablierten Großunternehmen, um noch einmal ganz von vorn anzufangen. Als selbstständiger Unternehmer, mit 48 Jahren. Das ist kein geringes Alter in diesen Tagen, doch Gottlieb Daimler ist noch lange nicht am Ziel seiner Träume angelangt.
In all den Jahren in Köln hatte die Direktion nur auf den Bau von Gasmotoren gesetzt. Daimler musste sich als Diener seiner Herren dieser Firmenpolitik unterordnen. Es war eine Strategie, die nach einem mühsamen Aufbau des Geschäfts auf sichere Gewinne dank bewährter Modelle setzte. Gottlieb Daimler selbst sieht in einem anderen Antriebskonzept weitaus größere Chancen. Er glaubt, dass der Verbrennungsmotor, der an jedem Ort eingesetzt werden kann, dem Gasmotor überlegen ist. Dieser ist von den Zulieferungen einer Gasanstalt abhängig. Die Frage nach dem besten Motor ist für ihn auch eine Frage nach dem besten Treibstoff. Klein muss der Motor der Zukunft sein, viel kleiner als die schwerfälligen Apparate, auf die man in Köln setzt. Gleichzeitig muss die Leistung wachsen.
So sieht Gottlieb Daimler die Zukunft. Aber worauf setzt in Mannheim eigentlich der zehn Jahre jüngere Carl Benz? Der Mannheimer formuliert seine Idee von einem leistungsfähigen Motor in einem Satz: „Baut einen Motor – einen Zwerg an Gewicht, aber einen Titanen an Kraft!“ Im Wettrennen der Motorenentwickler und Konstrukteure denken Benz und Daimler jetzt in eine ähnliche Richtung.
Gottlieb Daimler will den Erfolg mit einer Innovation erzwingen, bei deren Entwicklung ungelöste technische Probleme auf ihn warten: Der Benzinmotor ist vielversprechend – aber es ist unklar, ob er ihn jemals zur Serienreife bringen und Käufer für ihn finden wird. Daimler riskiert viel: seine Gesundheit, das Glück seiner Familie und sein über viele Jahre aufgebautes Vermögen. In diesem Jahr 1882 lebt er ohne inneren Frieden im Ungewissen darüber, was die Zukunft für ihn bereithält.
Die Schriftwechsel mit der Deutzer Gasmotorenfabrik gewinnen unterdessen an Unterhaltungswert: Er habe im Direktionsgarten Obstbäume und Reben angepflanzt, schreibt Daimler seinem langjährigen Arbeitgeber, darüber hinaus habe er ein Gartenhäuschen errichten lassen. Ob die Direktion ihm die Unkosten dafür direkt erstatten wolle oder ob er sich in dieser Angelegenheit an seinen Nachfolger wenden solle? In Köln will man das „Kapitel Daimler“ so schnell wie möglich beenden. Am Rhein sorgen allein die Nennung seines Namens und der fortlaufende Schriftwechsel wegen seiner Vertragsauflösung für ein beständiges Reizklima. Im Mai schreibt der Firmenchef Eugen Langen in die USA: „Ich kann gar nicht abwarten, bis der über alle Beschreibungen dickköpfige Daimler unserem Schwager Platz macht. Ich und auch Otto werden dann mit Freudigkeit wieder angreifen.“ Am 30. Juni 1882 ist es so weit: Daimler scheidet in Deutz aus, für alle Beteiligten ist der Weg frei für einen Neubeginn.
Gottlieb Daimler zieht zurück in den Süden. Sein neuer Wohnort liegt nicht allzu weit entfernt von seinem Geburtsort Schorndorf, und auch die Klosterstadt Maulbronn, in der seine Frau Emma aufgewachsen ist und in der ihr Vater immer noch lebt, rückt in erreichbare Nähe. Gottlieb Daimlers neue Heimat liegt fernab von dem hektischen Getriebe der Gasmotorenfabrik in Deutz, sie liegt auch weit entfernt von den Aufgeregtheiten der Großstadt Köln. Dennoch ist er in Bad Cannstatt keinesfalls ganz aus der Welt: Auf der anderen Seite des Neckars liegt Stuttgart, dort befindet sich auch die Technische Hochschule, die Daimler einst selbst besucht hat.
Vom Juni 1882 an lebt die Familie in Cannstatt. Daimler hat sich wohl auch wegen seiner Herzerkrankung für diesen Ort entschieden: Von den dortigen Heilquellen verspricht er sich eine Linderung seiner Beschwerden. Vielleicht signalisiert seine Wahl auch ein kleines Zugeständnis an seine Frau, die sich mehr Ruhe wünscht. Aber noch ein zweiter Punkt spricht für die süddeutsche Provinz: Gottlieb Daimler liegt viel daran, in aller Diskretion an seinem neuen Motor zu arbeiten. Er ist jetzt ein freier Mann, der nur noch seinen eigenen Plänen folgt. Dass ihm endlich niemand mehr reinredet, -pfuscht und ihn gängelt, muss für ihn befreiend sein. Andererseits fehlt ihm jetzt auch das Team aus Mechanikern, Schlossern und Konstrukteuren, die zuvor in Deutz seine Ideen in die Tat umsetzten. Gottlieb Daimler ist sein eigener Chef, aber er steht auch fast allein vor der größten Herausforderung seines Lebens.