Im Stuttgarter Bohnenviertel bricht ein bitterkalter Tag an. Es ist der 8. März 1886 und Wilhelm Wimpff findet vor der Tür seines Geschäfts in der Rosenstraße 30 noch keine Anzeichen eines nahenden Frühlings. An der Fassade des Hauses hat er, gut sichtbar für seine Kundschaft und möglichst werbewirksam, vor einiger Zeit ein Schild anbringen lassen: „Wilhelm Wimpff & Sohn – Königlicher Hofkutschenlieferant“. Schon als Junge hat Wilhelm Wimpff im Schmiedebetrieb seines Vaters mit angepackt. Von ihm hat er ein Handwerk gelernt, das sich an seinen Händen ablesen lässt, die voller Schwielen und Hornhaut sind. In seinen Wanderjahren war der Vater von Stuttgart nach Wien und zurück gelaufen. In der Ferne hatte er die Kunst des Wagenbaus gelernt. Sein Sohn Wilhelm führt das Geschäft nun weiter fort.
Im Bohnenviertel hat das Handwerk eine Heimat gefunden, viele ehrbare Leute arbeiten hier: In der Rosenstraße führt der Schuhmacher Menner seinen Laden, genau wie der Küfer und Kübler Carl Diem und der alte Rudolph Dieffenbacher, der eine Sägerei betreibt. Hier macht man sich die Hände schmutzig, und es lohnt sich anzupacken: Der Aufschwung, den das Deutsche Reich seit dem 1871 gegen Frankreich gewonnenen Krieg erlebt, ist auch in der Residenzstadt Stuttgart angekommen. Manchmal erreicht er sogar die kleinen Leute, vielleicht sogar die beiden Näherinnen, die in Wimpffs Wohnhaus im dritten und vierten Stock leben, den Tagelöhner oder die Trödelhändlerin aus dem Nachbarhaus, in dem auch ein Bildhauer lebt.
Vor wenigen Tagen hat sich die ganze Stadt am Geburtstagsfest von König Karl berauscht, der 63 Jahre alt wurde. Obwohl: Womöglich war die eine oder der andere doch etwas enttäuscht, dass beide Majestäten an diesem Tag vor allem durch ihre Abwesenheit glänzten. Sie waren, gemeinsam mit weiteren Angehörigen des königlichen Hauses, dem späten Schneegestöber in der Heimat gen Nizza entflohen. Trotz der fehlenden Monarchen schwärmte das Neue Stuttgarter Tagblatt von der Geburtstagssause: „Schon von 7 Uhr an war es schwer geworden, auf dem Schloßplatz durchzukommen angesichts der Menschenmassen, welche sich vor dem königlichen Schloß angesammelt hatten. Das Musikcorps der hiesigen Regimenter marschierte unter den Klängen des russischen Zapfenstreichs, begleitet von Fackelträgern.“ Am selben Abend gab das Hoftheater „Silvana“, eine romantische Oper von Carl Maria von Weber. Die Damenwelt brillierte mit Perlenschmuck und Edelsteinen. Im Zuschauerraum des Hoftheaters finden 1800 Menschen einen Platz. Bei solchen Anlässen tuschelt man gerne, auch über König Karl, den viele seiner Untertanen für einen Sonderling halten. Schlimm genug, dass der König sich kaum um die Regierungsgeschäfte schert – dass er schwul ist und sich wenig Mühe gibt, dies zu verheimlichen, kommt in der Öffentlichkeit noch schlechter an. Karl könne seiner Gemahlin, Olga Nikolajewna, nicht das Wasser reichen, heißt es. Olga gibt sich volksnah und sozial, sie kümmert sich um die Versorgung Behinderter und Kriegsverwundeter und übernimmt die Schirmherrschaft über die Stuttgarter Heilanstalt für Kinder. Bei aller Begeisterung für höfischen Pomp ist es unübersehbar, wie sehr sich die Stadt in den vergangenen Jahren verändert hat. Die Macht residiert noch im Schloss, aber ihr gefällt es in den stolzen Bürger- und Rathäusern immer besser. Wenn Wilhelm Wimpff durch das Bohnenviertel läuft, sieht er oft ratternde Umzugswagen, die von schnaubenden Pferden gezogen werden. Viele Menschen verlassen das Land und suchen ihr Glück in der Stadt, die in atemberaubendem Tempo wächst. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat sich die Einwohnerzahl verdoppelt. In Stuttgart leben inzwischen 126.000 Menschen, ein Ende des Zuzugs ist nicht abzusehen. Der Aufbruch füllt die Anzeigenspalten der Zeitungen: Hausknechte, tüchtige Schreiner, Köchinnen und Zimmermädchen, die Erfahrungen im Bügeln und Kleidernähen haben – gesucht! Dringend gesucht! Die Stadt benötigt Arbeitskräfte, es weht der Gründergeist. Abends trifft sich der junge Arbeiterbildungsverein zur geselligen Weiterbildung in der Bachner’schen Bierbrauerei.
Stuttgart verwandelt sich in eine Großstadt, die eine moderne Infrastruktur benötigt. Arbeiter verlegen Wasserleitungen, bauen ein Kanalisationssystem und versenken Gasrohre in den Straßen. Die neue Technik erleichtert den Menschen das Leben, aber sie ist auch tückisch, manchmal lebensgefährlich. Die Einwohner des Bohnenviertels erinnern sich noch gut an die durch Leuchtgas verursachte Explosion, die vor einigen Jahren das Haus eines Flaschners in der Eßlinger Straße in ein Trümmerfeld verwandelte. Skeptikern scheint der Pakt mit der Technik ein Pakt mit dem Teufel zu sein: Hat sich der Mensch zu weit vorgewagt? Lässt sich das alles beherrschen?
Die Rosenstraße, in der sich Wilhelm Wimpffs Laden befindet, mündet in eben diese Eßlinger Straße. Täglich hört der Kutschenbauer von dort das leise Klappern der Pferdehufe, das auf dem Kopfsteinpflaster allmählich zu einem Dröhnen anschwillt. Dann sieht man schon die stattlichen Schimmel aus der Normandie, die den Wagen der Stuttgarter Pferdeeisenbahn ziehen. Es ist ein mühsames Geschäft, die Bahn fährt langsam, ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Sie schafft es kaum hinauf, auf die steilen Hügel der Stadt. Oft hört Wilhelm Wimpff den Spottgesang der Jungen und Mädchen, die aus den Gassen herausspringen, wenn sich die Rumpelbahn ankündigt: „Das ist ja recht gemütlich, bei der Pferdeeisenbahn. Das eine Pferd, das zieht nicht, das andere, das ist lahm!“
Noch rollen keine Autos – vor dem Stuttgarter Königsbau ziehen Pferde die Bahnen.
So kriecht die Bahn mehr durch die Stadt, als dass sie fährt. Immer wieder bleiben Sitzplätze frei, weil viele Menschen die bequemeren Droschken bevorzugen. Anfällig ist die klobige Pferdebahn auch, die Reparaturen geraten zu einem schweißtreibenden Kraftakt. Immer wieder wuchten Tagelöhner die Waggons mühsam über Balken und Bretter durch das Bohnenviertel. Wimpff sieht die Plackerei wohl öfter mit an, da schräg gegenüber von seinem Betrieb ein Lackierer seine Werkstatt hat. Hautnah bekommt der Kutschenbauer seiner Majestät mit, wie es um den öffentlichen Nahverkehr in der Stadt bestellt ist. Der Direktor der Pferdeeisenbahn ist sein Nachbar, er wohnt im selben Haus.
Die Verkehrsemissionen in der Stadt bemessen sich an der Anzahl der Pferdeäpfel, denen die Menschen auf den Straßen ausweichen müssen. In Stuttgart muss sich Wilhelm Wimpff gegen starke Konkurrenz durchsetzen: 27 Wagenbauer bieten ihre Dienste an. In der Rosenstraße setzt Wimpff auf Qualität, das soll ruhig jeder wissen. Reklame schadet nicht, das sieht er jeden Tag in den Zeitungen, wo die Angebote für dieses und jenes in den höchsten Tönen gelobt werden. Ein in England patentiertes Korsett verspricht die „vollendete Brustform“ bei der Dame – was kein geringes Versprechen ist. Dem Herrn soll eine wundersame Bart-Erzeugungs-Pomade endlich zu einem vollen und kräftigen Bartwuchs verhelfen. Solche Hochstapelei hat Wilhelm Wimpff nicht nötig. Er verspricht lediglich, was er auch halten zu können glaubt: „Hochwertige Pferdewagen für Sport und Verkehr“.
Einen solchen Oberklassewagen sucht jener gesetzte Herr mit Hut, der am 8. März 1886 das Geschäft des Wagenbauers im Bohnenviertel betritt. Mit der Zeit ist Gottlieb Daimler um die Leibesmitte herum füllig geworden. Vor knapp einem Jahr hat er für eine Kraftmaschine ein Patent angemeldet. Der Apparat ähnelt einer Pendeluhr, weshalb bald von einem Standuhrmotor die Rede ist. So unscheinbar der Motor ist, so groß sind die Erwartungen, die Gottlieb Daimler an das Gerät knüpft. Endlich funktioniert der Benzinmotor, an dem er jahrelang gemeinsam mit Wilhelm Maybach gearbeitet hat – doch ein Wagen, in den er diesen Motor einbauen kann, fehlt ihm noch. Für diesen Schritt in die Zukunft benötigt er die Hilfe eines Mannes, der mit seinem Betrieb in der Gegenwart verharrt: Wilhelm Wimpff, der Königliche Wagenbauer.
Bei einem Hofkutschenbauer bestellt Gottlieb Daimler 1886 jene Kutsche, in die er später einen Motor einbaut.
Es versteht sich, dass Daimler auf eine Premiumkutsche besteht. Zur Sonderausstattung gehören unter anderem Sitzbezüge in schwarzem Leder und eine Laterne „mit Schein“, die nachts Licht ins Dunkel bringt. Der Privatier Daimler erzählt dem Handwerker Wimpff, dass es sich bei dieser Kutsche um eine Geburtstagsüberraschung für seine Gattin handle. Deshalb sei Wimpff verpflichtet, diese Bestellung als Geschäftsgeheimnis zu behandeln und den fertigen Wagen nachts unauffällig nach Cannstatt zu überführen. Dass Daimler niemals ein Pferd vor diesen Wagen spannen lassen will, dass dieser Wagen einmal als Motorkutsche Furore machen soll – davon kein einziges Wort.
Schwer vorstellbar, dass in Gottlieb Daimler keine Unruhe brennt, als ihm der Kutschenbauer den Liefertermin nennt: Erst in fünf Monaten soll der Wagen, es handelt sich um ein luxuriöses Modell der Baureihe Americain, nach Cannstatt rollen. Gottlieb Daimler ist nicht allein auf der Technikwelt, um den Fahrzeugbau ist längst ein Wettbewerb entbrannt, und es liegt etwas in der Luft. Etwas Großes. Am 29. Januar des Jahres hat Carl Benz in Berlin das Patent mit der Nummer 37.435 angemeldet und das dreirädrige Gefährt als „Fahrzeug mit Gasmotorenantrieb“ beschrieben. Als er davon erfährt, weiß Daimler, was die Stunde geschlagen hat. Andererseits kann er den Wagenbauer auch nicht zu sehr unter Zeitdruck setzen: Qualitätsarbeit verträgt keine Schludrigkeit. Gottlieb Daimler und Wilhelm Wimpff werden sich einig: Im August soll die Kutsche fertig sein.
Die Kälte lässt an diesem Märztag kaum einen Gedanken an den nahen Frühling zu. Noch immer liegt Schnee über den Dächern der Stadt, auch über der Leonhards- und der Stiftskirche. Von hier aus sind es nur ein paar Meter hinüber bis zum Marktplatz, wo sich Erker, Giebel und Balkone zum freien Platz hin wölben. Hier haben das Glas & Porzellan Warenhaus Tritschler und die C. W. Kurtz Zinngießerei & Spielzeugwarenmagazin ihren Sitz. Auf dem Platz schlägt an Markttagen das Herz der Stadt: Marktweiber stellen in ihren Körben Bohnen und Kartoffeln zum Verkauf aus. Händler bieten Stoff an, den sie in Bahnen aufrollen und der in den Händen kundiger Frauen auf seine Qualität hin untersucht wird.
Dicken Stoff benötigt jeder, der an diesem Montag das Haus verlässt. Die Kälte packt nicht nur Stuttgart mit ihrem Eisgriff. Im Norden Englands sind nach unaufhörlichem Schneefall mehrere Eisenbahnzüge eingeschneit. Für die Passagiere hält sich das Vergnügen nach zwei Tagen Stillstand in engen Grenzen, das an Bord befindliche Vieh geht größtenteils zugrunde.
Extrembedingungen lassen die moderne Technik an ihre Grenzen stoßen – aber niemand würde deshalb auf die Idee kommen, von einer Pannenbahn zu sprechen. Das Neue Tagblatt vermeldet, dass die Länge der Bahnstrecken im Königreich Württemberg inzwischen 1442 Kilometer betrage und die württembergische Bodensee-Schifffahrt stolz bekannt gebe, dass sie sieben Dampfboote sowie vier eiserne Schleppboote in Betrieb genommen habe. Das wirkt beschaulich, verglichen mit jener Nachricht, die die Redaktion aus Norddeutschland erreicht: Zwischen Hamburg und New York wird die „erste direkte regelmäßige Dampferfahrt“ eingerichtet.
Über das winterliche Wetter könnte man sich aufregen. Klüger ist es, gegen die Kälte auch etwas zu unternehmen. So ist die Nachfrage erheblich, als in den frühen Morgenstunden des 8. März im Stadtwald der Verkauf von Brennholz beginnt. Im Übrigen leiden nicht nur Volk, Tiere und Eisenbahn unter dem schlimmen Frost, auch die Spitze des deutschen Staats, Wilhelm I., ist laut dem Neuen Tagblatt betroffen: „Der Kaiser ist durch anhaltende Heiserkeit verhindert, das Zimmer zu verlassen.“
Als sich die Dunkelheit in die engen Gassen des Stuttgarter Bohnenviertels hinabsenkt, kann der Kutschenbauer Wilhelm Wimpff nicht ahnen, dass er an diesem Tag selbst seinen Teil dazu beigetragen hat, dass die Pferdekutsche einmal ein Fall für die Geschichtsbücher wird. In der Rosenstraße werfen Petroleumlampen ein trübes Licht aus den Fenstern, hell erleuchtet sind lediglich die Paläste und die großen Bürgerhäuser. Nur in mondscheinlosen Nächten liefert die Gasbeleuchtungsgesellschaft ihr Gas für die Laternen. Die Wolken haben sich verzogen, die Nacht ist sternenklar, und wer sein Tagwerk abgeschlossen hat, findet Zerstreuung in den Wirtschaften, beispielsweise in den Gaststätten „Zur Pferdebahn“ oder „Zur Kiste“.
An den Stammtischen wird über Gott und die Welt verhandelt. Man gewöhnt sich in diesen Jahren besser daran, sich über nichts mehr zu wundern, werden doch Neuigkeiten beständig wie Wellen an Land gespült. Im Konzertsaal der Stadt gibt ein bekannter Magnetiseur aus Heidelberg sein Gastspiel. Der Herr spricht über menschlichen Magnetismus und versucht sich an einer Erklärung der Hypnose. Daraufhin lässt er auf der Bühne Menschen erstarren und versetzt sie in einen unergründlichen Schlaf, der sie unempfindlich machen soll – selbst gegen Nadelstiche. Im überfüllten Konzertsaal lauscht ihm ein staunendes Publikum. Noch tagelang reden die Menschen über diesen denkwürdigen Auftritt und die vermeintlichen Wunder dieser Nacht.