18

Neustiftgasse, Wiener Werkstätte

Wie jeden Morgen war die Neustiftgasse noch fast menschenleer, als Lili sich der Werkstatt näherte. Umso überraschter war sie, als sie eine männliche Gestalt davor warten sah. Sie erkannte den hochgewachsenen blonden Mann mit dem zerknitterten Anzug sofort wieder, es war Herbert Rossberg, der Reporter, der vor ein paar Monaten über den brutalen Mordfall in der Wiener Werkstätte berichtet hatte. Er hatte sie damals ins Kaffeehaus eingeladen, Lilis erster und bisher einziger Kaffeehausbesuch in ihrem Leben. Der Nachmittag war ihr noch gut in Erinnerung.

»Guten Morgen«, sagte sie überrascht.

Er schien auf sie gewartet zu haben und wirkte keinesfalls erstaunt. Mit derselben Freundlichkeit, mit der er ihr vor ein paar Monaten begegnet war, begrüßte er sie.

»Fräulein Feigl, ich hatte gehofft, Sie hier anzutreffen. Wie schön, dass Sie immer noch in der Wiener Werkstätte arbeiten.«

»Sie wollen zu mir?«

Er nickte lächelnd und sah sie dabei eine Spur zu lange an. Das Blau seiner Augen kam Lili noch heller und strahlender vor, als sie es in Erinnerung hatte, es verlieh ihm eine jugendliche Frische. Aber die Intensität seines Blicks machte sie nervös.

Lili wandte sich ab, kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüsselbund und sperrte die Tür auf. »Wollen Sie reinkommen?«

»Sehr gern.«

Er folgte ihr in die Werkstätte.

»Ich kann Ihnen Kaffee anbieten. Zum Essen hab ich noch nichts. Die Semmeln bringen die Künstlerinnen in einer Stunde mit.«

»Kaffee klingt gut.«

Während Lili aus dem Mantel schlüpfte und in die Küche ging, um den Ofen anzufeuern und Wasser aufzusetzen, schaute Rossberg sich in der Werkstatt um. »Es hat sich nichts verändert«, meinte er.

»Was soll sich denn in ein paar Monaten verändern?«, fragte Lili.

»Sie haben recht.« Er lachte. »Es ist noch nicht lange her, dass ich hier war.«

Er kam zu ihr in die Küche und nahm ungefragt am Küchentisch Platz.

»Also«, sie drehte sich zu ihm um, »warum sind Sie hier? Sie wissen doch, dass so zeitig noch keine Künstler da sind.«

Er schmunzelte verschmitzt. »Ich hatte Sehnsucht nach Ihnen.«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig.«

Für gewöhnlich war Lili unempfänglich für charmante Lügen, doch Rossberg schaffte es, dass ihr das Blut in die Wangen schoss. Zum Glück hatte sie die Gasbeleuchtung in der Küche noch nicht entzündet, weshalb er im Halbdunkel die Röte ihrer Haut nicht sehen konnte.

»Und was ist der Grund für diese unerwartete Sehnsucht?« Sie klang schroffer, als sie beabsichtigt hatte.

»Gestern wurde in der Linken Wienzeile eine Nobelprostituierte brutal ermordet. Sie hieß Elisabeth Helm.«

»Jeden Tag werden in Wien Frauen überfallen. Was hab ich damit zu tun?«

»Ich habe nur durch Zufall von dem Fall gehört, weil ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war. Nämlich vor dem Narrenturm, als man die Leiche abgeliefert hat. Der Fahrer vom grünen Heinrich ist ein alter Bekannter von mir. Die Polizei will, dass der Mord nicht an die große Glocke gehängt wird. Dabei soll es schon der zweite Mord an einer käuflichen Frau innerhalb kurzer Zeit sein.«

Lili war auf der Hut. Bestimmt sah es der Kommissar nicht gern, wenn sie zu viel erzählte. Andererseits hatte die Öffentlichkeit ein Recht darauf, so etwas zu erfahren. Vielleicht lief ja ein Mörder oder eine Mörderin durch die Stadt.

»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie hergekommen sind«, sagte sie vorsichtig.

»Ich tappe ziemlich im Dunkeln«, gab Rossberg zu. »Wie schon erwähnt, der Kutschenfahrer ist mir wohlgesonnen und schuldete mir noch einen Gefallen. Von ihm habe ich erfahren, dass es zwei tote Frauen gibt. Es ist ein Skandal, dass die Polizei der Presse nichts davon berichtet hat.«

Lili brühte den Kaffee auf. Langsam tropfte die schwarze Flüssigkeit durch den weißen Porzellanfilter und verströmte den aromatischen Duft gerösteter Kaffeebohnen.

»Der Mann wusste selbst nicht viel. Aber der untersuchende Kommissar ist ein alter Bekannter von uns beiden: Kommissar Max von Krause.«

Allein die Erwähnung des Namens löste ein warmes Gefühl in Lili aus. Sie kam sich vor wie ein törichtes junges Mädchen und verbot dem Schmetterling, der in ihrem Bauch sachte die Flügel bewegte, aufzusteigen.

»Angeblich wurde der Kommissar in ein Hotel gerufen, wo man die erste Leiche fand. Danach hat ihn einer seiner Wege in die Wiener Werkstätte geführt. Ich frage mich, warum. Gibt es bei Ihnen Damen, die sich mit dem Verkauf ihres Körpers ein Zusatzgeld verdienen?«

»Nein, natürlich nicht!« Empört schüttelte sie den Kopf. »Warum weiß der Fahrer vom grünen Heinrich, wo der Kommissar herumläuft? Fährt von Krause etwa mit einem Leichenwagen durch die Stadt?«

»Der Kutscher lenkt auch einen Dienstwagen, der den Polizeiagenten in dringenden Fällen zur Verfügung steht.«

Lili hob den Filter hoch. Es befand sich bereits genug Kaffee in der Kanne, um zwei Häferl zu füllen. »Die Polizei sollte sich fragen, ob der Kutscher der richtige Mann für diesen Posten ist. Wenn herauskommt, dass er plaudert, wird er sich bald nach einer anderen Arbeit umschauen müssen.«

»Er zählt auf meine Verschwiegenheit, so wie ich auf Ihre!« Rossberg nahm das Häferl entgegen, das Lili ihm über den Tisch zuschob. Er sah sie nun mit einem gewinnenden Lächeln an. Lili konnte sich noch gut daran erinnern, dass er ein ungewöhnliches Talent besaß, Menschen zum Reden zu bringen. Sie selbst blieb vorsichtig und wog genau ab, was sie dem neugierigen Reporter erzählte.

»Männer wie der Kutscher sind wichtig. Sie unterstützen die Presse und sorgen so dafür, dass die Menschen in dieser Stadt erfahren, was vor ihrer Nase auf den Straßen passiert. Finden Sie nicht, dass alle ein Recht auf die Wahrheit haben?«

»Was ist schon die Wahrheit?«, fragte Lili.

»Wenn zwei Frauen in Wien brutal ermordet werden, ist das eine Nachricht, die für jedermann von Interesse ist. Denn es bedeutet, dass ein Mörder frei herumläuft und vielleicht schon auf der Suche nach seinem dritten Opfer ist.«

»Was hat Ihnen der Mann sonst noch erzählt?«, fragte Lili.

»Ich habe Ihnen bereits alles gesagt. Zwei brutale Morde an Prostituierten innerhalb kurzer Zeit, eine Polizei, die sich ausschweigt, und ein Kommissar, dessen erster Weg in die Wiener Werkstätte führt. Das ist alles, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte.«

Lili glaubte ihm nicht. »Sie wollen mir einreden, dass Sie nicht in diesem Hotel waren oder an dem Ort, wo die zweite Frau getötet wurde?«

»Im Hotel streitet man alles rigoros ab. Im Wohnhaus auf der Linken Wienzeile war ich noch nicht. Das steht auf meiner Liste, sobald unser Gespräch beendet ist.«

»Kennt man die Namen der Toten?«

»Lisi Helm und Constanze Brühl. Beide haben im Salon Riehl gearbeitet. Eine konnte fliehen, die andere hat sich freigekauft. Es heißt, sie hätte nicht mehr in dem Gewerbe arbeiten müssen, aber offenbar mochte sie ihre Arbeit. Sie hat sogar als wohlhabende Frau noch angeschafft.«

»Wie kann man das freiwillig tun?«

»Hat ihr wohl Spaß gemacht.« Rossberg hob beide Hände. »Soll ja nicht die unangenehmste Tätigkeit auf dieser Welt sein.« Als er Lilis missbilligenden Blick wahrnahm, fügte er hinzu: »Sie hat ordentlich viel Geld von ihren Kunden verlangt, und wenn es stimmt, was man sich über sie erzählt, hat sie sich ein sehr kostspieliges Leben gegönnt. Mit Austern und Champagner vom Naschmarkt und Kleidern aus dem Modesalon Zwieback.«

Lili rührte Milch und Zucker in ihren Kaffee und reichte Kännchen und Zuckerdose dem Reporter, der dankend ablehnte. »Ich trinke den Kaffee schwarz.«

Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee und schien überrascht über das volle Aroma. »Mmmh, wie im Kaffeehaus!«

»Danke. Ich hab so lange experimentiert, bis ich die richtige Mischung hatte.«

»Wirklich köstlich«, lobte Rossberg und kam dann wieder zu seinem Anliegen zurück. »Verraten Sie mir, warum von Krause hier war?«

Lili zögerte. Der Reporter hatte anstandslos seine Informationen mit ihr geteilt. Was konnte sie verraten, ohne Probleme mit dem Kommissar zu bekommen? Schließlich sagte sie: »Er hat sich erkundigt, wer ein bestimmtes Schmuckstück in Auftrag gegeben hat.«

»Ein Schmuckstück, das mit der Toten in Verbindung stand?«

»Glauben Sie wirklich, dass der Kommissar uns das auf die Nase gebunden hat?« Sie beugte sich über den Tisch und sah Rossberg offen ins Gesicht. Seine hellblauen Augen musterten sie schon wieder eindringlich. Er schien abzuwägen, ob sie ihn anlog oder die Wahrheit sagte.

Lili wollte auf keinen Fall irgendwelche Probleme mit der Polizei bekommen, die Gefahr, dass von Krause sich eingehender mit ihr und ihrem Vater beschäftigte, war zu groß.

Ob Adele von Krause ihrem Sohn die Information auf dem Zettel weitergegeben hatte? Es war wichtig, dass der Kommissar den Namen der Gräfin noch vor Rossberg erfuhr. Aber Lili vermutete, dass die vornehme Dame damit nicht wartete. Sie hatte einen sehr neugierigen Eindruck auf sie gemacht und wollte sicher mehr über den Mordfall wissen.

»Constanze Brühl war ein einfaches Freimadel«, sagte Rossberg. »Wenn sie im Besitz eines wertvollen Schmuckstücks gewesen war, muss es sich um ein Geschenk eines Kunden gehandelt haben.«

»Gut möglich«, stimmte Lili zu.

»Ich nehme an, dass Sie mir den Namen nicht verraten werden.«

»Sie werden von mir keine Namen erfahren.« Lili stellte sich vor, was passieren würde, wenn die Wiener Werkstätte mit einem weiteren Mordfall in Verbindung gebracht würde. Sollte Koloman Moser erfahren, dass sie Informationen an die Presse gab, wäre sie ihren Arbeitsplatz sofort los.

»War es ein sehr wertvolles Schmuckstück?«, fragte Rossberg.

»Alle Schmuckstücke, die hier angefertigt werden, sind etwas Besonderes.«

Rossberg sah sie mit einem schrägen Lächeln an. »Sie wissen genau, wie ich das meine. Sind auch die Materialien, die verwendet wurden, wertvoll? Kann ein Schmuckstück der Grund für den Mord gewesen sein.«

Lili kniff die Augen zusammen. Sie zweifelte am Verstand des Reporters. »Wie soll ein Schmuckstück der Grund für einen Mord sein, wenn es beim Mordopfer bleibt?«

»Das heißt, dass man das Stück bei der toten Frau gefunden hat?«

Verärgert presste Lili die Lippen zusammen. Rossberg war geschickt. Er entlockte ihr Antworten, die sie gar nicht geben wollte. Es lag wohl an diesen irritierenden hellblauen Augen.

»Sie werden hier keine Hinweise finden«, sagte Lili bestimmt.

»Wer war der Auftraggeber des Schmuckstücks?«

Lili stützte die Ellbogen auf der Tischplatte ab: »Fragen Sie bei der Polizei nach.«

Rossberg seufzte so enttäuscht, dass Lili doch einlenkte.

»Der Name würde Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte sie. »Das Schmuckstück wurde mindestens zwei- oder gar dreimal verkauft. Es war ein sehr beliebtes Motiv.«

Die letzte Bemerkung machte sie nicht ganz ohne Stolz.

»Danke für den Kaffee«, sagte Rossberg und stand auf.

Bevor er sich verabschieden konnte, hielt Lili ihn zurück: »Darf ich Sie ebenfalls um einen Gefallen bitten?«

Fragend hob er die Augenbrauen.

»Würden Sie mich zum Spittelberg begleiten? Ich muss dort für jemanden ein Paket abliefern.«

»Am Spittelberg? Wo denn genau?«

»Bei Dragan Zardic im ›Goldenen Vogerl‹.«

Rossbergs Kinnlade klappte nach unten. Genau in diesem Moment wurde die Tür zur Werkstatt geöffnet, und Helene trat ein.

»Guten Morgen«, rief sie fröhlich und hielt erstaunt inne, als sie den Reporter erblickte.

Er erwiderte den Gruß und wandte sich dann an Lili: »Wann müssen Sie an den ungewöhnlichen Ort?«

»Morgen Abend um sieben.«

»Ich werde mitkommen«, versprach er ritterlich.

Kurz überlegte Lili, ob ihre Entscheidung klug war. Doch dann stellte sie sich vor, wie es wäre, allein zu Dragan zu gehen, und sofort war sie Rossberg dankbar für seine Zusage.

»Wo wollen wir uns treffen?«, fragte er.

»Am unteren Ende der Burggasse.«

»Abgemacht!« Rossberg verabschiedete sich und verschwand eilig.

Fragend sah Helene ihm hinterher. »Gibt es etwas, das ich als deine Freundin wissen sollte?«, fragte sie.

Lili fasste das Gespräch zusammen, ohne die Lieferung an Dragan Zardic zu erwähnen.

»Und warum triffst du dich noch einmal mit ihm?«, wollte Helene wissen.

»Er lädt mich ins Kaffeehaus ein«, log Lili. Sie tat es nicht gern, aber sie konnte Helene unmöglich verraten, dass sie zwei Ölgemälde nackter Frauen in einem Bordell ablieferte, um die Spielschulden ihres Vaters zu begleichen.

Helene seufzte laut. »Du hast wirklich Glück.«

»Er ist Reporter«, sagte Lili.

»Na und, er ist attraktiv und charmant.« Helene holte die Frühstückssemmeln aus ihrem Korb. »Das ist mehr, als so mancher andere Mann zu bieten hat.«

»Wenn du mich fragst, ist er eine Spur zu charmant«, sagte Lili. »Der bandelt bestimmt mit jeder Frau an.«

»Auch wieder wahr!« Helene lachte. »Besser, ich bleibe bei meinem Josef, der ist zwar ein bisserl langweilig, dafür gehört er mir ganz allein.«

Lili musste lachen. Sie wusste, dass Helene es nicht so meinte. Sie kannte den Buchbinder Josef Zögling seit ein paar Wochen. Er war zwar nicht Helenes große Liebe, aber im Grunde ihres Herzens mochte sie den zurückhaltenden, stillen Mann. Was auch immer daraus werden würde, sie traf sich gern mit ihm.

»Wann siehst du Josef wieder?«, fragte Lili.

»Heute Abend. Wir gehen ins Carltheater, und davor lädt Josef mich zum Essen ins Hotel Kaiserkrone ein. Angeblich gibt es dort die besten Rindsrouladen der Stadt.«

Lili wurde hellhörig. »Das ist der Hotelname, den Rossberg zuvor genannt hat.«

»Wie bitte?«

»Angeblich wurde dort die erste Tote gefunden.«

»Die Tote, von der niemand etwas wissen darf?« Helenes Neugier war geweckt.

»Ja, die Tote, die meine Kette umhängen hatte«, fügte Lili hinzu.

»Ich verstehe.« Helene schenkte sich Kaffee ein. »Ich nehme an, dass ich mich ein bisserl umhören soll?«

»Willst du denn nicht auch wissen, was es mit der Geschichte auf sich hat?«

Mit einem Mal schien sich Helene auf den Abend doppelt zu freuen. »Und ob ich das wissen will!«, sagte sie entschlossen. »Ich werde Ohren und Augen offen halten und eine Menge lästiger Fragen stellen.«