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Alser Straße, Palais von Krause

»Du hast eine Nachricht von einer jungen Frau bekommen.« Adele von Krause schob Max über den Tisch einen zusammengefalteten Zettel zu. Die Reste ihrer trockenen Frühstückssemmel lagen noch auf dem Teller. Wie jeden Morgen begnügte sie sich mit einer Tasse Tee und ein paar Bissen Gebäck. Aber ihre Bemühungen, Max von ihrer asketischen Lebensweise zu überzeugen, scheiterten regelmäßig. Er bestrich seine Semmel mit einer dicken Schicht Butter, was ihm einen tadelnden Blick seiner Mutter einbrachte. Am liebsten hätte Adele von Krause zur Gänze auf den Kauf von Lebensmitteln verzichtet und das Geld stattdessen für anderes ausgegeben.

»Wann ist die Nachricht gekommen?« Max nahm den Brief entgegen.

»Die Frau war Anfang der Woche da, glaube ich.«

»Dann gibst du mir den Zettel jetzt erst?«

»Weil ich dich davor nicht zu Gesicht bekommen habe.« Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Du hättest mir den Brief auf den Schreibtisch legen können.«

Adele von Kraus tat so, als hätte sie die Bemerkung nicht gehört. »Das war eine fesche Person, diese Künstlerin aus der Wiener Werkstätte. Mit blondem Haar und veilchenblauen Augen. In der richtigen Kleidung würde sie bei jeder Gesellschaft die Aufmerksamkeit auf sich ziehen können.«

»Hat sie gesagt, dass sie eine Künstlerin ist?«

»Das war nicht notwendig, das habe ich sofort gesehen.«

»Ach ja«, Max unterdrückte ein Schmunzeln, »das war Liliane Feigl.« Rasch entfaltete er das Blatt und überflog die Worte. Zwei Namen standen am Ende der Nachricht, wobei neben Simon Goldberger zwei Striche waren. Bedeutete das, dass der Uhrmacher zwei Schmuckstücke bestellt hatte? Oder hatten am Ende Sohn und Vater das gleiche Stück in Auftrag gegeben? Max hob den Kopf. »Gräfin Linda von Falkenstein. Ist das nicht diese alte Bekannte von dir, mit der du regelmäßig Bridge spielst?«

»Ja, natürlich«, sagte Adele von Krause. »Linda hat mit dem neuen Schmuckstück aber noch nicht angegeben, was merkwürdig ist.«

Max erinnerte sich daran, dass die Gräfin gern Duplikate erstand. Vor ein paar Monaten hatte sie Keramiken von einer Künstlerin gekauft, die dafür mit ihrem Leben bezahlen musste.

»Es scheint, als hätte Linda von Falkenstein nicht dazugelernt«, sagte er finster. »Sie kauft immer noch Kunstwerke aus der Wiener Werkstätte, ohne die Werkstätte daran verdienen zu lassen.«

Adele von Krause konnte darin keine kriminelle Handlung erkennen. »Wenn die Künstler bereit sind, ihre Werke auf diese Weise an den Mann beziehungsweise an die Frau zu bringen, sehe ich darin nichts Verwerfliches.«

»Dem Kaiser entgehen Steuern«, sagte Max. »Und der Wiener Werkstätte selbst entgeht der Gewinn.«

Seine Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bitte dich. Die Habsburger können sich wahrlich nicht über fehlende Einnahmen beschweren. Es gibt nichts in diesem Reich, das nicht besteuert wird. Selbst beim Wasser, das ich im Kaffeehaus trinke, verdient Franz Joseph mit.« Sie schnaufte verächtlich. »Und was die Wiener Werkstätte betrifft: Wenn die Künstler sich gegenseitig betrügen, ist das nicht die Angelegenheit der Käufer.«

»Das sehe ich anders«, sagte Max. Auf dem Zettel standen der Name des Uhrmachers und der der Gräfin. Es gab aber mindestens drei Ketten. Frau Goldberger hatte eine, und je eine war bei den ermordeten Prostituierten gefunden worden. Jetzt schien bei der Gräfin noch eine vierte aufzutauchen.

Es war höchste Zeit, dass Alfred Pribil aus Mähren zurückkehrte und erklärte, wie viele Ketten er angefertigt und ohne das Wissen der Werkstätte verkauft hatte.

»Ich habe mich erneut mit Anastasia von Aehrenthal unterhalten«, sagte Adele von Krause.

»Worüber?«, fragte Max misstrauisch. Er befürchtete, dass seine Mutter die Hoffnung auf eine Ehe mit Sibille noch nicht aufgegeben hatte.

»Über den Polizeipräsidenten.«

Erstaunt hob er die Augenbrauen.

»Die Position des Mannes ist unsicher geworden. Wenn sich herausstellt, dass er über die Vorgänge im Salon Riehl Bescheid wusste, dann droht ihm ein Disziplinarverfahren.«

»Er kann seine Aussage wegen drohender Schande verweigern«, sagte Max. Die Formulierung, die er erst kürzlich gelesen hatte, war ihm noch allzu gut im Gedächtnis.

»Anastasia meint, dass man im Ministerium nervös ist. Es geht um Frauenhandel im großen Stil.«

Max faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in seine Westentasche. Immer wieder war er erstaunt, worüber sich seine Mutter im Kaffeehaus unterhielt. Manchmal hatte er den Eindruck, sie erfuhr bei Kaffee und Kuchen ebenso viele Details wie er in mühevoller Kleinarbeit.

»Wenn der Präsident die eigene Haut retten muss, kann er seine schützende Hand nicht über einen Oberkommissar halten, der eventuell Dreck am Stecken hat«, sagte sie geradeheraus.

»Was meinst du?«

Adele von Krause beugte sich über den Tisch und sah ihren Sohn eindringlich an. »Wenn dein Vorgesetzter sich etwas zuschulden hat kommen lassen, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, es bei den passenden Stellen zu deponieren.«

»Es ist nicht meine Art, andere anzuschwärzen.« Auch wenn Max mit dem Gedanken bereits gespielt hatte, so war es ihm doch zuwider, hinter Sobotkas Rücken zu tratschen.

»Ich frage mich, woher du deine hohen moralischen Ansprüche hast«, sagte Adele von Krause. Sie verzog leidend die geschminkten Lippen. »Von deinem Vater ganz gewiss nicht.«

Max grinste. »Und von dir offenbar auch nicht, sonst würdest du mir nicht immer wieder vorschlagen, gegen Sobotka zu intrigieren.«

Adele von Krause schüttelte ablehnend den Kopf. »Die Wahrheit zu sagen ist keine Intrige.«

»Jeder weiß, dass Sobotka im Kaffeehaus sitzt und Zeitung liest, während alle anderen arbeiten. Das ist kein Geheimnis«, meinte Max. »Es hat bisher niemanden gestört, warum sollte das jetzt plötzlich der Fall sein?«

»Weil der Mann, der Sobotka schützte, jetzt andere Probleme hat.«

»Vergiss es, Mama. Ich werde mich nicht auf dieses Niveau herablassen.«

»Wie du meinst«, sagte Adele von Krause. »Aber dann jammere nie wieder über deinen vertrottelten Vorgesetzten.«

Erneut hob Max die Augenbrauen.

Seine Mutter benutzte nur selten vulgäre Ausdrucksweisen. Die Tatsache, dass Oberkommissar Sobotka ihren Sohn herumkommandieren konnte, missfiel ihr offenbar noch mehr als ihm selbst.

Max wechselte das Thema. »Wann siehst du die Gräfin von Falkenstein wieder?«

»Morgen Nachmittag.«

»Könntest du sie fragen, ob sie kürzlich eine Kette mit einem Weintraubenmuster von einem Künstler der Wiener Werkstätte gekauft hat?«

»Beteilige ich mich damit an polizeilichen Ermittlungen?«

»Ja. Wäre das schlimm?«

»Nur wenn dieser unmögliche Mann Sobotka davon profitiert.«

Max kniff die Augen zusammen und musterte seine Mutter eingehend. Hatte er sich so oft über seinen Vorgesetzten beschwert?

»Da gibt es doch irgendetwas. Warum willst du Sobotka schaden?«

Adele von Krause verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen. Sie schien mit sich zu ringen. Schließlich sagte sie: »Seit Jahren besuche ich den Kultursalon von Berta Zuckerkandl.«

Max wusste von den Einladungen. Seine Mutter war ein beliebter Gast. Seit ihrer frühesten Kindheit bewegte sie sich auf dem Parkett der gehobenen Gesellschaft. Geschickt verstand sie es, anregende Gespräche zu führen und Menschen zu unterhalten. »Bei einer Soiree hat Sobotkas Ehefrau hinter meinem Rücken getratscht.«

»Bist du über derlei Boshaftigkeiten nicht erhaben?«

»Für gewöhnlich ja. Aber wenn nicht nur ich, sondern meine ganze Familie beleidigt wird, hört sich der Spaß auf.«

»Was hat Frau Sobotka behauptet?«, fragte Max.

»Sie hat gemeint, dass es an der Zeit sei, Frauen nicht nur wegen ihres Namens einzuladen. Alle Welt wisse, dass ich eine verarmte Adelige sei, deren Sohn nicht mehr ist als ein einfacher Kommissar bei den Polizeiagenten.« Adele von Krause richtete sich auf und streckte die Schultern durch. »Unser Familienstammbaum reicht über dreihundert Jahre zurück«, sagte sie stolz. »Ich lasse mir von dieser plumpen Frau, deren Vater ein Baumeister war, nicht meinen guten Ruf ruinieren. Sie mag Geld haben, aber sie hat keinen Stil. Und ich werde dafür sorgen, dass sie ihre Worte bereut.«

Das Gesicht seiner Mutter zeigte entschlossene Kampfbereitschaft. Max war sich sicher, dass sie bereits einen Plan hatte. Nichts würde sie davon abhalten, sich an der Frau seines Vorgesetzten zu rächen. Max wurde schlecht.

»Bitte tu nichts Unüberlegtes«, warnte er, obwohl er wusste, dass kein Argument der Welt Adele von Krause von ihrem Vorhaben abbringen konnte.

»Keine Sorge«, sagte sie. »Ich handle nie überstürzt.«

Ihre Worte konnten ihn nicht beruhigen.

»Und ich werde in Erfahrung bringen, ob Linda im Besitz einer Kette aus der Wiener Werkstätte ist.«

»Danke.« Solange Adele von Krause mit der Gräfin beschäftigt war, konnte sie nichts anderes anstellen. Das war gut.