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Alser Straße, Palais von Krause

»Max, du musst dir dringend einen Termin bei Monsieur Pierre vereinbaren. Du schaust aus wie ein Lumpensammler.« Adele von Krause schenkte Tee aus der bauchigen geblümten Kanne in hauchdünne Porzellantassen. Das Service war ein Erbstück ihrer Mutter und stammte angeblich von Maria Theresia, die es ihrer Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Max’ Mutter holte das Geschirr nur zu ganz besonderen Anlässen aus der Kredenz.

»Gibt es einen Grund zum Feiern?« Max setzte sich an den gedeckten Tisch. Ein mit Staubzucker bestreuter Gugelhupf stand in der Mitte. Das veilchenlila Verpackungspapier, das zusammengefaltet auf einem der Sessel lag, bewies, dass die Mehlspeise aus dem Hause Demel stammte. Diesen Luxus gönnte Adele von Krause sich nur zweimal im Jahr: zu Weihnachten und am Todestag ihres Ehemanns.

»Ja, setz dich!« Adele schob ihrem Sohn vorsichtig die Tasse über den Tisch zu. Max nahm sie entgegen. Als er Zucker in die dunkle Flüssigkeit rührte, achtete er darauf, dass der Löffel das kostbare Porzellan nicht berührte. Er wusste, wie heikel seine Mutter mit den Tassen war.

»Ich habe eine Menge Neuigkeiten für dich.«

Adele von Krause genoss es, Geschichten zu erzählen. Niemand konnte es besser als sie. Gespannt lehnte Max sich zurück. »Warst du bei Linda von Falkenstein zu Besuch?«

»Bei Linda?«, fragte Adele irritiert. Sie hob die schmalen Augenbrauen. Wie immer war sie dezent geschminkt. Ein Großteil ihrer Falten war geschickt unter einer Schicht Puder verborgen. Max hatte nie verstanden, warum sein Vater fremdgegangen war. Seine Mutter war eine attraktive und intelligente Frau. Wahrscheinlich war sie zu klug für einen Mann wie seinen Vater gewesen, der seinen fehlenden Selbstwert in Affären und windigen Geschäften gesucht hatte.

»Du erinnerst dich bestimmt: Sie hat ein Schmuckstück in der Wiener Werkstätte bestellt. Die gleiche Kette haben beide ermordeten Frauen getragen. Du wolltest sie danach fragen. Sonst muss ich zu ihr.«

»Ja, richtig. Ich erinnere mich wieder.« Adele von Krause schenkte sich auch selbst Tee ein und nahm einen winzig kleinen Schluck. Völlig geräuschlos stellte sie die Tasse zurück auf den Teller.

»Linda war mit dem Stück nicht zufrieden. Zuerst wollte sie es nicht nehmen, aber weil Koloman Moser das Design so begeistert lobte, hatte sie sich schließlich überreden lassen. Doch dann hat sie festgestellt, dass es nicht zu ihrer Garderobe passt.« Adele schnitt zwei Stück vom Gugelhupf ab. Ein sehr dünnes für sich selbst und ein deutlich dickeres für Max. »Linda hat die Kette weiterverkauft.« Sie kräuselte vielsagend die Lippen. »Wie du dir vorstellen kannst, hat sie dabei einen ordentlichen Gewinn gemacht.«

»An wen hat sie die Kette verkauft?« Max nahm den Gugelhupf entgegen und sah seine Mutter gespannt an.

»An einen ihrer Neffen«, sagte Adele. »Ich glaube, dass er nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, denn er hat ihr tatsächlich den doppelten Preis für die Kette bezahlt.«

»Wie heißt der Neffe?«

»Ich weiß es nicht. Sie hat nur seinen Vornamen genannt, und Linda hat so viele Nichten und Neffen. Alle bemühen sich um sie.« Sie verzog den Mund. »Was wohl mehr mit ihrem Erbe zu tun hat als mit ihr, denn Linda kann mitunter sehr anstrengend sein. Sie versteht gar nicht, warum der junge Mann die Kette gekauft hat. Angeblich ist er weder verheiratet noch verlobt. Er ist einer von denen, die jeden Sonntag in die Kirche laufen und so tun, als würden sie sich nicht für Frauen interessieren.«

»Vielleicht hat er eine Vorliebe für Männer?«

»Also bitte!«, empörte sich Adele von Krause. »Das ist geschmacklos.«

»Ich glaube nicht, dass diese Männer sich aussuchen, in wen sie sich verlieben.«

»Davon will ich nichts hören!« Adele von Krause machte eine abwehrende Handbewegung.

»Es kann ja auch sein, dass er eine Geliebte hat«, fuhr Max fort. »Das würde er seiner Tante auch nicht auf die Nase binden.«

Nur zu gut konnte Max sich an die hochnäsige und unfreundliche Frau erinnern, die ihm eine seiner Ermittlungen erheblich erschwert hatte. Es war Max ein Rätsel, wie seine Mutter die Gesellschaft dieser Person ertragen konnte. Er würde keine Minute freiwillig in ihrer Gegenwart verbringen.

Adele von Krause hingegen schätzte die Einladungen ins Palais Falkenstein. Die Gräfin war bekannt für ihre ausgefallenen Kunstveranstaltungen, zu denen sie die gehobene Wiener Gesellschaft einlud. Alles, was Rang und Namen hatte, war bei ihren Soireen vertreten.

»Hat sie nicht irgendeine Andeutung gemacht, aus der wir schließen könnten, welcher Neffe es war?« Max kannte einige der Verwandten der Gräfin. Er war ihnen bei diversen Bällen und Abendessen begegnet.

»Schon möglich, aber ich kann mich nicht daran erinnern«, sagte Adele von Krause. »Linda hat erwähnt, dass er sich für Fotografie interessiert.«

»Wie bitte?« Max ließ die Gabel fallen. Sie landete klirrend auf dem Porzellanteller.

»Max, so pass doch auf!« Sofort sprang Adele von Krause auf und starrte angsterfüllt auf den Teller. Er war heil geblieben.

»Es ist nichts passiert«, beteuerte Max. »Der Teller ist noch ganz.«

Erleichtert ließ sich Adele von Krause wieder in den Sessel sinken. »Manchmal bist du wie ein Elefant im Porzellanladen.«

Max überging die Bemerkung. »Bitte überleg, welcher der Neffen war es?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Aber warum ist die Sache so wichtig?«

»Wir nehmen an, dass die beiden Toten fotografiert wurden. An den Tatorten fanden sich Spuren von Magnesiumpulver, und es roch nach Schwefel. Beides benötigt man, um genügend Licht für eine Fotografie zu erzeugen.«

»Ich halte nichts von diesen modernen Methoden«, sagte Adele von Krause. »Solche Momentaufnahmen können niemals ein Gemälde ersetzen. Ein Maler kann die schmeichelnden Eigenschaften seines Modells einfangen und die besten Züge zeigen.«

»Ich denke, dass gute Fotografen das auch können«, widersprach Max. »Außerdem würde ich mir die Fotografie als Ermittlungsmethode wünschen. Stell dir vor, welche Vorteile es brächte, wenn man den Tatort genau so festhalten könnte, wie man ihn vorgefunden hat.« Max seufzte laut. »Leider wird das niemals möglich werden, solange Sobotka mein Vorgesetzter ist.«

Nun richtete Adele von Krause sich auf. »Genau das ist der Grund, warum ich heute das gute Porzellan herausgeholt habe.«

Verständnislos sah Max seine Mutter an.

»Der Polizeipräsident wird seine schützende Hand nicht länger über den Oberkommissar halten.«

»Das wissen wir bereits«, sagte Max. »Der Präsident hat im Moment genug Probleme. Er hat alle Hände voll zu tun, seinen eigenen Namen aus dem Riehl-Prozess herauszuhalten.«

»Und deshalb wird er sich jetzt, da bekannt ist, dass Sobotka einen Mord vertuscht hat, weil er Geld in das Hotel investiert hat, in dem die Leiche gefunden wurde, nicht einmischen. Die Zeitungen der Stadt sind voll davon. Sobotka ist Geschichte. Endlich hat sich der Mann selbst eine Falle gestellt.«

Ein gefährliches Leuchten blitzte in Adele von Krauses Augen auf. Max kannte es nur allzu gut. Wenn er als Kind seine Mutter wegen eines Missgeschicks angelogen hatte und dieses Leuchten in ihren Augen sah, hatte er mit Sicherheit gewusst, dass sie ihn durchschaute und jede weitere Lüge sinnlos war. Auch jetzt schien sie ihm zwei Schritte voraus. Sie wusste etwas, was ihm noch verborgen war.

Er kniff die Augen zusammen und musterte sie eindringlich. »Ich hoffe, es warst nicht du, die die Zeitungen informiert hat.«

»Natürlich nicht!« Empört griff Adele von Krause sich an die Brust, um dann etwas weniger echauffiert hinzuzufügen: »Erstens wusste ich bis zu dem Zeitpunkt nichts von Sobotkas Machenschaften, und zweitens muss man sich die Hände nicht selbst dreckig machen.«

»Was hast du getan?« Max machte sich aufs Schlimmste gefasst. Er hätte sich ohrfeigen können. Warum hatte er gegen seine eiserne Regel verstoßen und zu Hause über seine Arbeit gesprochen? Er wusste doch, dass das immer Probleme mit sich brachte.

Unschuldig zuckte Adele von Krause die Schultern. »Ich habe nichts Verwerfliches getan. Es ist ganz normal, dass man sich in angenehmer Gesellschaft angeregt unterhält.«

»Kannst du dich bitte ein bisserl deutlicher ausdrücken?«, forderte Max ungehalten.

»Beim Kammermusikabend im Palais Lichtenberg war auch der Herausgeber des Wiener Tagblatts, und wir haben über Wiener Hotels geplaudert. Jeder weiß, dass nach dem schrecklichen Desaster der Wiener Weltausstellung zahlreiche Betriebe in Konkurs gegangen sind. Über dreißig Jahre hat es gedauert, bis sich die Situation wieder vollständig erholt hat. Die Menschen kommen jetzt gern nach Wien, und man kann mit Übernachtungsbetrieben viel Geld verdienen. So mancher branchenferne Unternehmer investiert in ein Hotel.« Max konnte sich lebhaft vorstellen, wie dieses Gespräch verlaufen war. Niemand verstand es geschickter als seine Mutter, eine scheinbar harmlose Plauderei genau in die Richtung zu lenken, die sie geplant hatte.

»Der Reporter wusste über Sobotkas Investitionen Bescheid. Für mich war die Information neu. Alles, was der Mann benötigte, war die Bestätigung, dass Sobotka höchstpersönlich den Mord geheim halten wollte.«

»Wie kannst du etwas behaupten, von dem du gar nicht weißt, dass es so war?« Max erhob die Stimme.

»Also bitte. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen und kann eins und eins zusammenzählen. Wer sonst soll die Geheimhaltung veranlasst haben? Ich habe dich in den letzten Tagen genau beobachtet. Du warst unrund und unzufrieden. Über wen solltest du dich ärgern, wenn nicht über diesen korrupten Einfaltspinsel Sobotka?«

»Ich hoffe, dass durch den Artikel nicht alles noch schlimmer wird«, meinte Max düster.

»Das ist unmöglich«, meinte Adele von Krause zuversichtlich. »Die Wiener haben ein Recht darauf, über die Verbrechen, die auf den Straßen der Stadt passieren, informiert zu werden. Ich habe noch am selben Abend Anastasia von Aehrenthal kontaktiert. Sie hat mir versichert, sollten die Gerüchte stimmen, wird ihr Mann dafür sorgen, dass Sobotkas Kaffeehaustage bald ein Ende haben.«

Erstaunt schüttelte Max den Kopf. Seine Mutter hatte ihren Reichtum verloren, nicht aber ihre gesellschaftlichen Kontakte. Immer noch beherrschte sie das Spiel aus Intrigen und Tratsch. Geschickt zog sie im Hintergrund die Fäden.

»Wenn Sobotka gehen muss, wird es einen neuen Oberkommissar brauchen«, sagte Adele von Krause gut gelaunt.

»Hoffen wir für die Stadt, dass es ein Kandidat mit besseren Voraussetzungen wird«, meinte Max.

Adele von Krause nickte. »Gewiss, mein Lieber, gewiss.« Mit spitzen Fingern brach sie ein winziges Stückchen von ihrem Gugelhupf ab. »Genieß die Mehlspeise, die nächste gibt es erst zu Weihnachten.«

Obwohl der Gugelhupf köstlich war, flaumig und süß zugleich, wollte er Max nicht so recht schmecken. Er wurde den beunruhigenden Gedanken nicht los, der sich in ihm festgesetzt hatte. Eine dunkle Vorahnung, dass Adeles Plan nicht so aufgehen könnte, wie sie das wünschte.