Ermittlungszeitraum: Oktober 1947–Februar 1948
»Mutter! Hilfe!« Ein gellender Schrei. Danach wieder: »Mutter! Hilfe!« Maria Häberle realisiert sofort, dass nur sie gemeint sein kann. Es muss ihre Tochter Vera sein, die ganz in der Nähe um Hilfe ruft, verdeckt vom dichten Baumbestand. Sie sind kurz nach dem Frühstück zusammen in den Wald gegangen, um Holz zu sammeln. Irgendwann haben sich ihre Wege getrennt.
»Vera!« Mehr bringt Maria Häberle nicht heraus. Die 68-Jährige, sonst eher resolut und couragiert, packt die nackte Angst. Denn das scheußliche Verbrechen an einer jungen Frau, verübt nur wenige Kilometer entfernt in einem anderen Waldgebiet, liegt nicht lang zurück, und der unbekannte Täter soll sich immer noch in der Gegend herumtreiben. »Vera!« Maria Häberle hastet in die Richtung, aus der die Hilferufe ihrer Tochter zu hören gewesen sind. Sie folgt dabei einem Trampelpfad, den sie und andere Holzsuchende im Laufe der Zeit ausgetreten haben. »Vera! Halt durch!«
Augenblicke später kommt ihr Vera entgegengelaufen, leicht hinkend, sich ängstlich umblickend, einen Ast noch krampfhaft in den Händen haltend, schwer atmend. »Ich – bin – überfallen – worden! Der – wollte – was – von – mir!« Stakkatoartig bricht es aus der 43-Jährigen hervor. »Der – wollte – mich – umbringen!« Maria Häberle nimmt die Überfallene erleichtert in die Arme und versucht sie zu beruhigen: »Es ist vorbei.« Als sie ihrer weinenden Tochter über die langen schwarzen Haare streichelt, ertastet sie eine dicke Beule am Hinterkopf. »Mein Gott, Kind, was ist denn passiert?«
Dieselbe Frage stellt etwa eine Viertelstunde später auch der zuständige Beamte des Landespolizeipostens Hamberg, Landkreis Pforzheim. Die 43-Jährige erzählt, immer noch erkennbar unter Schock stehend, dass sie beim Holzsammeln von einem jungen Mann angegriffen worden sei, der sie zunächst mit einem Holzknüppel auf den Kopf geschlagen und dann versucht habe, sie zu vergewaltigen. »Durch den Schlag wurde ich kurz ohnmächtig. Als ich dann wieder zu mir gekommen bin, hat der Täter auf mir gesessen und mich gewürgt. Ich habe mich aber schließlich aus seinem Griff befreien können«, berichtet die Frau unter Tränen. »Ich habe sofort um Hilfe gerufen und bei dem anschließenden Handgemenge einen dicken Ast zu fassen bekommen, mit dem ich den Mann im Gesicht verletzt habe. Daraufhin hat der Täter von mir abgelassen und ist talwärts geflüchtet … Ach, und da war noch etwas«, ergänzt Vera Mertens, »der hatte einen braunen Brotbeutel dabei.«
Ihren Peiniger beschreibt Vera Mertens als einen etwa 20-jährigen Mann, groß und kräftig, mit dunklem, kurz geschnittenem Haar und einer verkrusteten Narbe auf der Stirn. »Diese Narbe sah ziemlich frisch aus, die stammt bestimmt vom Kampf mit der Hilde Beutelspacher.«
Drei Wochen zuvor.
Der Goldschmied Karl Beutelspacher erscheint gegen 19 Uhr auf dem Landespolizeiposten Huchenfeld und teilt mit, dass seine Tochter Hilde vor einigen Tagen mit dem Zug nach Kusterdingen zu ihrem Verlobten gefahren sei. Gestern habe er seinen zukünftigen Schwiegersohn angerufen, weil er sich darüber gewundert habe, dass Hilde entgegen ihrer Ankündigung noch nicht wieder zurückgekehrt sei. Ihr Verlobter habe auch bestätigt, sie bereits einen Tag zuvor, am Morgen des 29. Septembers, zum Bahnhof gebracht zu haben. »Es kann gut sein, dass sie auf dem Heimweg noch eine Freundin in Bruchsal besucht hat«, überlegt Karl Beutelspacher. »Vielleicht klärt sich alles auf, meine Mitteilung verstehen Sie bitte als reine Vorsorge.«
Der Postenführer in Huchenfeld lässt die Angelegenheit jedoch nicht auf sich beruhen. Er ruft noch am selben Abend bei der Kripo in Bruchsal an und bittet darum, zu klären, ob Hilde Beutelspacher ihre Freundin besucht hat. Am nächsten Tag kommt die Antwort: Die junge Frau ist nicht in Bruchsal gewesen.
Nun erscheint das Fernbleiben der 21-Jährigen doch recht mysteriös, zumal sie nach Urlaubsende nicht an ihrer Arbeitsstelle erscheint. Grund genug, jetzt doch eine Vermisstenanzeige aufzunehmen, die mit der Bitte um Mitfahndung bundesweit an alle Polizeidienststellen gesteuert wird. Die Kripo Stuttgart teilt daraufhin mit, dass sich die Vermisste am 29. September kurz in der Stadt aufgehalten habe. Sie sei dort bei einer Freundin zu Besuch gewesen und habe sich gegen 12 Uhr wieder verabschiedet, um die Heimreise mit dem Zug fortzusetzen. Das letzte Lebenszeichen. Und dabei bleibt es auch. Die Eltern der Gesuchten und ihr Verlobter verbringen sechs qualvoll lange Tage zwischen Hoffen und Bangen.
Es kommt erst wieder Bewegung in die Vermisstensache 1275/47, als sich eine Zeugin meldet, die angibt, Hilde Beutelspacher am 29. September gesehen zu haben, und zwar gegen 16 Uhr auf der Landstraße von Pforzheim nach Huchenfeld. Offenbar befand sich die junge Frau auf dem Weg nach Hause.
Dass die Vermisste ausgerechnet auf diesem knapp vier Kilometer langen und von vielen Industriearbeitern genutzten Fußweg entlang einer stark befahrenen Landstraße Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte, erscheint nicht unbedingt naheliegend; doch die zuständigen Fahnder der Kripo Pforzheim wollen nichts unversucht lassen, um diesen Fall zu lösen und den Verwandten und Freunden der Frau Gewissheit zu verschaffen. Schon am nächsten Morgen suchen Polizeikräfte und mehrere Spürhunde das an die Landstraße angrenzende Waldstück ab – und stoßen in einer Mulde etwa 15 Meter neben der Straße auf die Leiche einer Frau. Schon bald ist man sicher. Es ist Hilde Beutelspacher.
Der Tatortbefund deutet zweifelsohne auf ein Kapitalverbrechen hin: Habseligkeiten des Opfers liegen am Fundort verstreut herum; inzwischen nicht mehr zu identifizierende Fuß- und Schleifspuren führen zum Leichnam und von dort wieder weg in Richtung des Fußwegs; am Hals des Opfers sind deutlich ausgeprägte Würgemale zu erkennen. Da die Handtasche der jungen Frau, Bargeld und eine Armbanduhr fehlen, dürfte der Täter aus Habgier gehandelt haben, schlussfolgern die Ermittler. Allerdings hat der Unbekannte auch die Unterwäsche der Frau zerrissen und bei seinem anscheinend sexuell motivierten Übergriff Kratzspuren an beiden Oberschenkeln hinterlassen. Welche Zielrichtung vorrangig gewesen ist, muss zunächst offenbleiben. Gewiss ist aufgrund der Spurenlage nur, dass der Mörder den Tatort fluchtartig verlassen hat.
Nachdem die Tat publik gemacht worden ist, melden sich unabhängig voneinander sieben Zeugen, die zur tatkritischen Zeit in der Nähe des Leichenfundortes dieselbe Person gesehen haben wollen: einen jungen Mann, etwa 18 bis 20 Jahre alt, ärmlich gekleidet, neben sich einen dunklen Brotbeutel. Zudem berichtet eine der Zeuginnen, von diesem Mann nach der Uhrzeit gefragt worden zu sein. Ab sofort gilt der Unbekannte als Verdächtiger Nummer eins. Doch der Mann bleibt namenlos. Erst als Vera Mertens von dem Überfall berichtet, hat die Kripo eine heiße Spur.
Der Amtsarzt stellt bei der 43-Jährigen Würgemale und eine schwere Gehirnerschütterung fest, der Täter muss mit großer Brutalität vorgegangen sein. Ihre Mutter bestätigt die Vorkommnisse im Wald und sagt aus, dass ihre Tochter auf dem Weg zur Polizei einmal bewusstlos zusammengebrochen sei. Den Täter habe sie indes nicht sehen können, als dieser geflüchtet sei. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Mörder von Hilde Beutelspacher wieder zugeschlagen hat. Nicht nur die Kripo ist alarmiert, auch die Bevölkerung fürchtet sich vor dem mysteriösen Mann mit dem Brotbeutel, dem alles zuzutrauen ist und vor dem niemand sicher zu sein scheint. Kaum jemand traut sich noch in schlecht beleuchtete Straßen oder abgelegene Gegenden. Im gesamten Landkreis Pforzheim herrscht der emotionale Ausnahmezustand.
Nachdem ein Großaufgebot von 150 Beamten die angrenzenden Waldgebiete nach dem Gesuchten erfolglos durchkämmt hat, werden Vera Mertens 12 Männer gegenübergestellt, die etwa so alt sind wie der Täter, ungefähr so aussehen und einschlägig vorbestraft sind. Langsam schreitet sie die Front der Verdächtigen ab, mustert jeden genau – bis sie spontan auf einen Mann zeigt und noch im selben Augenblick bewusstlos zusammensackt.
Endlich! Der Mann mit dem Brotbeutel hat jetzt einen Namen: Karol Nowak, 19 Jahre alt, Landarbeiter aus Danzig. Der junge Mann, den die Kripo für den Täter hält, streitet in seiner Vernehmung jedoch alles ab und behauptet, sich zur Tatzeit im Fall Hilde Beutelspacher in einem Lokal aufgehalten zu haben und während des Überfalls auf Vera Mertens im Wald bei der Arbeit gewesen zu sein. Und tatsächlich: Nach eingehenden Überprüfungen bestätigen sich die Angaben des jungen Mannes. Karol Nowak wird freigelassen.
Vera Mertens muss sich geirrt haben. Für die Ermittler keine neue Erfahrung – die Aussagen vieler Opfer von Gewalttaten sind gekennzeichnet von mitunter gravierenden Wahrnehmungs- und Erinnerungsfehlern. Trotzdem wird die Fahndung in den nächsten Wochen insbesondere auf Männer ausgerichtet, die dem ehemals Verdächtigen ähnlich sehen. Doch alle Bemühungen bleiben fruchtlos.
Drei Monate später ereignet sich wieder Bedeutsames, als Kinder auf einem Spielplatz der Gemeinde Hamberg in einem Gebüsch eine Handtasche finden. Der darin enthaltene Personalausweis verrät die Eigentümerin: Hilde Beutelspacher. Die Fahnder nehmen an, der Täter habe sich hier während seines Heimweges dieses wichtigen Beweismittels entledigt. Der Gesuchte dürfte demnach in Hamberg wohnen oder sich dort regelmäßig aufhalten.
Dieser wichtige Fund spricht sich im Ort und den angrenzenden Gemeinden schnell herum. Zwei Tage darauf meldet sich ein junger Mann bei der Polizei und erzählt, dass einen Tag nach dem Mord an Hilde Beutelspacher ein Arbeitskollege mit zerkratztem Gesicht im Geschäft erschienen sei und als Grund für seine Verletzungen eine Schlägerei erwähnt habe. Diese Erklärung habe der Zeuge zunächst für glaubwürdig gehalten. Dann aber stellt er einen wichtigen Zusammenhang her: »Ich bin erst jetzt stutzig geworden, als mir aufgefallen ist, dass der Fundort der Handtasche und die Wohnung meines Kollegen nur einige Hundert Meter auseinanderliegen.«
Die Ermittler staunen, als sie herausfinden, dass der jetzt verdächtige Rüdiger Mertens der Sohn von Vera Mertens ist, dem zweiten Opfer. Noch am selben Tag wird der bisher unbescholtene 18-Jährige auf seiner Arbeitsstelle kassiert und vernommen. Ja, er gibt zu, am Tattag im Geschäft gefehlt zu haben. Da sei er mit seinem Vater in der Stadt unterwegs gewesen. Und ja, er habe die Handtasche auf der Dorfstraße in Hamberg gefunden und später auf dem Spielplatz ins Gebüsch geworfen. Aber nein, er habe mit der Sache sonst nichts weiter zu tun.
Unverzüglich wird der Vater herbeigeholt, und der 54-Jährige bestätigt die Aussage seines Filius. Allerdings erwähnt er beiläufig, dass er sich am 29. September gegen Mittag von Rüdiger getrennt habe – und zwar so lange, dass ausreichend Zeit geblieben wäre, um den Mord an Hilde Beutelspacher zu begehen, errechnen die Ermittler. Der Verdächtige hat nun kein Alibi mehr und wird festgenommen.
Die anschließende Durchsuchung der elterlichen Wohnung verstärkt den Mordverdacht, weil im Zimmer des jungen Mannes ein brauner Brotbeutel, ein Taschenspiegel und eine Armbanduhr gefunden werden, versteckt hinter einem Bild an der Wand. Und als Hilde Beutelspachers Mutter die Armbanduhr zweifelsfrei als Eigentum ihrer Tochter wiedererkennt, fehlt den Fahndern nur noch die Krone des Beweises, das Geständnis.
In den Vernehmungen geht es noch eine Weile hin und her, doch am nächsten Tag gibt Rüdiger Mertens seinen Widerstand auf und erzählt, wie sich die Tat zugetragen haben soll: Nachdem er sich von seinem Vater verabschiedet habe, sei er noch eine Weile durch die Stadt geschlendert und plötzlich auf die Idee gekommen, eine Armbanduhr zu klauen, mit oder ohne Gewalt, das sei ihm egal gewesen. Da er noch nie viel Geld besessen habe, sei dies schon lange sein größtes Begehren gewesen. Sein karger Lohn habe dafür jedoch nicht ausgereicht. Um seinen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, habe er sich an die Landstraße in Richtung Huchenfeld gesetzt und Passanten nach der Uhrzeit gefragt, um so feststellen zu können, ob sich ein Überfall lohnen würde.
Nach mehreren vergeblichen Anläufen sei Hilde Beutelspacher gekommen, die auf seine Frage nach der Uhrzeit ihren Koffer abgestellt und mit einer Hand den Ärmel ihres Mantels zurückgestreift habe. Daraufhin sei er blitzschnell aufgesprungen und habe versucht, der Frau die Uhr wegzureißen. Als sich Hilde Beutelspacher dagegen gewehrt habe, sei er wütend geworden und habe sie so lange gewürgt, bis sie sich nicht mehr bewegt habe. Die Leiche habe er anschließend in eine Bodensenke gezogen.
Der Mord an Hilde Beutelspacher ist nach dem glaubhaften und durch zahlreiche Beweismittel gestützten Geständnis aufgeklärt; es bleibt der Überfall auf die Mutter des Täters. Die Kripo bezweifelt mittlerweile, dass tatsächlich ein Verbrechen stattgefunden hat. Vera Mertens wird mehrfach vernommen und rückt nach hartnäckigem Leugnen schließlich doch mit der Wahrheit heraus: Sie habe sich beim Holzsammeln im Wald – als ihre Mutter außer Reichweite gewesen sei – selbst gewürgt und anschließend mit dem Hinterkopf mehrmals auf einen umgefallenen Baumstamm fallen lassen, bis sie tatsächlich kurz bewusstlos geworden sei. Danach habe sie ihrer Mutter mit gespieltem Entsetzen das Märchen vom Mann mit dem Brotbeutel aufgetischt. Den angeblichen Täter habe sie bei der Polizei äußerlich so beschrieben, dass er möglichst keine Ähnlichkeit mit ihrem Sohn aufweise, den sie schon damals für den Mörder von Hilde Beutelspacher gehalten habe.
Der durch die passenden Verletzungen und die gespielte Ohnmacht so überzeugend wirkende »Notzuchtversuch« ist demnach ein schlichtes Ablenkungsmanöver gewesen, auf das selbst der Amtsarzt und die Experten der Kripo hereingefallen sind.