Ermittlungszeitraum: April 1999–Oktober 2001
Um das Mahnmal aufzubauen, haben sie nicht lange gebraucht. Es besteht aus einer Holzstaffelei, einem Bilderrahmen mit mehreren Farbfotos und zwölf auf dem Boden stehenden Glasgefäßen mit brennenden Teelichtern, für jedes Lebensjahr eins. Die Aufnahmen stammen aus einem Familienalbum und zeigen ein Mädchen mit blonden Locken. Kaum jemand, der im Justizzentrum zu tun hat, geht achtlos daran vorbei. Chantal ist Opfer eines grausamen Sexualverbrechens geworden, das die gesamte Stadt bewegt hat. Der Prozessauftakt ist heute. Zwei Cousinen des ermordeten Mädchens haben dieses Mahnmal errichtet, um Chantal endlich auch ein Gesicht zu geben, wenigstens das. Dieser Mordfall ist besonders tragisch. Denn höchstwahrscheinlich hätte der Tod des Mädchens verhindert werden können, wenn sich nicht so viele Personen und Institutionen geirrt hätten, einschließlich der Polizei.
Anderthalb Jahre zuvor.
Gegen 16 Uhr ruft die Verkäuferin Gerlinde Rotbuch bei der Kripo an und berichtet, sie mache sich Sorgen um ihre 12-jährige Tochter. Die 46-Jährige deutet an, Chantal könnte von einem in der Familie verkehrenden Mann sexuell missbraucht worden sein, allerdings gebe es dafür keinen Beweis. Es wird vereinbart, dass in Kürze zwei Kriminalbeamte in die Wohnung der Anruferin kommen, um die Angelegenheit persönlich zu erörtern.
Gerlinde Rotbuch, alleinerziehende Mutter und offenkundig unter Alkoholeinfluss stehend, gibt eine halbe Stunde später zunächst kurz Auskunft über die Familienverhältnisse: Chantal stamme aus ihrer Beziehung mit einem britischen Soldaten, erzählt die Frau, der sie schon vor der Geburt der Tochter verlassen und sich danach nie mehr gemeldet habe. Daher kenne Chantal ihren leiblichen Vater nicht. Später habe sie dann einen somalischen Asylbewerber geheiratet, der sich nach anderthalb Jahren ebenfalls abgesetzt und die Familie sich selbst überlassen habe.
Schließlich kommt Gerlinde Rotbuch auf jenen Mann zu sprechen, den sie verdächtigt, nicht nur freundschaftliche Gefühle für Chantal zu hegen. Jochen Jüttner ist 32 Jahre alt, ledig, von Beruf Installateur und gilt als ausgesprochen hilfsbereit. »Ich habe ihn vor etwa einem Jahr kennengelernt, als ich umgezogen bin und er in der neuen Wohnung Handwerkerarbeiten ausgeführt hat«, erzählt Gerlinde Rotbuch. »So ist auch die Beziehung zu Chantal entstanden, die ich zunächst ausdrücklich gebilligt und auch gefördert habe, da Jochen Jüttner sehr verständnisvoll mit meiner Tochter umgegangen ist, als ich mich wegen eines Krankenhausaufenthaltes nicht ausreichend um sie kümmern konnte. Auf Jochen Jüttner war in dieser Zeit immer Verlass, er hat Chantal gelegentlich zur Schule gebracht oder abgeholt, ist mit ihr mal Eis essen gewesen und hat sie einige Male zum Reitunterricht begleitet. Hauptsächlich hat sich aber Chantals Großmutter um sie gekümmert.«
Als Grund für ihre Missbrauchsvermutung beschreibt Gerlinde Rotbuch einen Vorfall, der bereits zwei Monate zurückliegt. Seinerzeit sei sie abends nach Hause gekommen und habe gesehen, wie ihre Tochter vor Jochen Jüttner gestanden und sich ihm halb nackt präsentiert habe. Das sei ihr komisch vorgekommen. Die mutmaßlich Ertappten hätten ihr jedoch übereinstimmend und unbeeindruckt erklärt, zuvor beim Reiten gewesen zu sein, wobei Chantal stark geschwitzt und sich nun lediglich umgezogen habe. Da die Kleidung ihrer Tochter tatsächlich teilweise durchgeschwitzt gewesen sei und nach Pferd gestunken habe, sei die Angelegenheit für sie erledigt gewesen, auch wenn sie immer noch ein ungutes Gefühl habe.
Die Kommissare können natürlich nicht wissen, welchen Hintergrund dieses Ereignis tatsächlich gehabt hat, doch erscheint ihnen die Begründung der Tochter nicht unbedingt glaubhaft. Sie stellen Chantal zur Rede. Das Mädchen erzählt abermals die Geschichte vom verschwitzten T-Shirt und versichert, dass sonst nichts passiert sei, ihr Begleiter habe sie nicht berührt und auch nicht berühren wollen. Da die Mutter den Beamten zuvor unmissverständlich zu verstehen gegeben hat, dass sie keinen weiteren Kontakt zwischen ihrer Tochter und Jochen Jüttner wünsche, wird Chantal eindringlich ermahnt und darauf hingewiesen, dass sie sich den Anordnungen der Mutter entsprechend zu verhalten habe. Nach Abschluss der Befragungen sehen die Kommissare keinen weiteren Handlungsbedarf, zumal ein konkreter Tatverdacht nicht begründbar erscheint.
Eine Woche später erstattet Gerlinde Rotbuch Anzeige gegen Jochen Jüttner, und zwar nicht wegen sexuellen Missbrauchs der Tochter, sondern wegen »Entziehung Minderjähriger«. In Paragraf 235 des Strafgesetzbuchs heißt es dazu in Absatz 1: »Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. eine Person unter achtzehn Jahren mit Gewalt, durch Drohung mit einem empfindlichen Übel oder durch List oder 2. ein Kind, ohne dessen Angehöriger zu sein, den Eltern, einem Elternteil, dem Vormund oder dem Pfleger entzieht oder vorenthält.«
Gerlinde Rotbuch gibt besorgt zu Protokoll, dass sich die Beziehung zwischen ihrer Tochter und Jochen Jüttner mittlerweile intensiviert habe, der Mann warte jeden Tag vor dem Schulgelände auf Chantal und fahre sie nach Hause, obwohl dafür kein mütterlicher Auftrag vorliege. Sie habe Jochen Jüttner mehrfach auf seinen Anrufbeantworter gesprochen und sich dieses Verhalten ausdrücklich verbeten, nur habe es darauf keine Reaktion gegeben. Indirekt kommt bei dieser Schilderung aber auch heraus, dass Chantal wohl freiwillig mitfährt und das Mädchen offenbar nicht gewillt ist, sich an die Verbote der Mutter zu halten. Eine Strafbarkeit ist somit nicht gegeben. Vielmehr entsteht bei den Kripobeamten der Eindruck, dass es in erster Linie um eine Mutter-Kind-Problematik geht und Gerlinde Rotbuch sich von der Polizei eine Erziehungshilfe erhofft. Als der Mutter geraten wird, sich besser ans Jugendamt zu wenden, und sie realisiert, dass ein polizeiliches Handeln auf dieser Sachverhaltsgrundlage nicht zu erwarten ist, bringt sie abermals den Verdacht ins Spiel, Jochen Jüttner könnte Chantal zu sexuellen Handlungen überredet oder genötigt haben. Sie weist aber auch ausdrücklich darauf hin, dass sie dies nicht beweisen könne. Obwohl die Vernehmungsbeamten die Missbrauchsvorwürfe für eher unwahrscheinlich halten, nehmen sie eine Strafanzeige auf und leiten sie an das zuständige Fachkommissariat.
Nur drei Tage später ruft Gerlinde Rotbuch wieder bei der Kripo an und teilt mit, dass es Probleme mit Chantal gebe, die Sache habe sich soeben vor Jochen Jüttners Wohnung ereignet. Dort treffen die Beamten wenig später die Mutter, Chantal und ihre Tante an, die daraufhin ins Präsidium gebracht und getrennt voneinander vernommen werden. Dabei stellt sich heraus, dass die Tante drei Wochen in Kur gewesen ist und von der Strafanzeige gegen Jochen Jüttner nichts gewusst hat. Als sie vor einigen Stunden ihre Nichte und Jochen Jüttner wie ein Liebespärchen durch die Innenstadt hat schlendern sehen, ist ihr das komisch vorgekommen, und sie hat ihre Schwester informiert. Einige Familienmitglieder haben schließlich nach Chantal gesucht, allerdings vergeblich. Nachdem das Mädchen spätabends nach Hause gekommen ist, sind Mutter und Tante gemeinsam mit Chantal zu Jochen Jüttners Wohnung gefahren, um ihn zur Rede zu stellen. Da der Mann jedoch niemanden in seine Wohnung hineingelassen hat, haben sie die Polizei alarmiert.
Chantal wird zu ihrem Verhältnis zu Jochen Jüttner befragt. Das Mädchen empört sich, ihre Mutter habe in der letzten Zeit nur schlecht über ihn gesprochen und Unwahrheiten behauptet. Chantal bestätigt zwar die Beobachtung der Tante, doch erklärt sie durchaus glaubhaft, Jochen Jüttner habe sie nur wegen der Probleme mit ihrer Mutter trösten wollen. Die Kommissarin fragt auch konkret nach, ob der Mann sie gegen ihren Willen angefasst, geküsst oder sich ihr sexuell genähert habe. Nein! Wirklich nicht? NEIN!
Während der Vernehmung der Tante sieht sich die Kripo in ihrer Annahme bestätigt, dass Gerlinde Rotbuch ein handfestes Alkohol- und Erziehungsproblem hat und deswegen überreagiert haben dürfte. Jochen Jüttner tue ihr mittlerweile leid, erzählt die Zeugin, er werde von ihrer Schwester aus nichtigem Anlass mitunter regelrecht schikaniert, besonders dann, wenn sie betrunken sei. Darunter habe aber vor allem Chantal zu leiden, die in solchen Konfliktsituationen von ihrer Mutter auch schon beschimpft und geschlagen worden sei. Überhaupt habe Gerlinde Rotbuch keinen Grund, sich zu beklagen, denn es sei Jochen Jüttner gewesen, der sich geradezu rührend um das Kind gekümmert und sogar eine deutliche Verbesserung des Sozialverhaltens herbeigeführt habe.
Natürlich ist auch den Fachleuten der Kripo aufgefallen, dass es zwischen dem körperlich sehr gut entwickelten Mädchen und Jochen Jüttner eine besondere Nähe gibt und der intensive Kontakt bei einem so großen Altersunterschied durchaus ungewöhnlich ist. Deshalb wird Gerlinde Rotbuch nochmals zu ihrem Verdacht befragt, dass Jochen Jüttner für Chantal eben nicht nur eine Art väterlicher Freund sei, sondern sie auch sexuell missbraucht haben könnte. Die Mutter gibt sich jedoch zugeknöpft und zeigt wenig Verständnis für die Nachfragen der Kripobeamten. Vielmehr sei sie an einer strafrechtlichen Verfolgung des Mannes nicht mehr interessiert, es gehe ihr allein darum, den Kontakt zwischen Chantal und Jochen Jüttner künftig zu unterbinden.
Nach Abschluss der Vernehmungen werden die Befragten vor dem Präsidium von Chantals Onkel erwartet, der von den Frauen wissen möchte, ob seine Nichte nun endlich die Wahrheit gesagt habe. Ja, wird versichert, Chantal habe ausgesagt, es sei zwischen ihr und Jochen Jüttner nichts vorgefallen. Der Mann gibt sich damit indes nicht zufrieden und befragt das Mädchen in einem Vieraugengespräch. Chantal berichtet ihm nun, dass sie mit Jochen Jüttner mehrfach Strip-Poker gespielt habe. Sie erzählt auf Nachfrage ihres Onkels jedoch auch, dass die Kripo davon bereits erfahren habe. Und weil der Onkel annimmt, die Mutter des Kindes müsse bei der Vernehmung dabei gewesen sein und die Polizei sei entsprechend informiert, lässt er die Sache auf sich beruhen.
Dass sie mit Jochen Jüttner Strip-Poker gespielt habe, erzählt Chantal später auch anderen Familienangehörigen. Sie versichert jedoch jeweils glaubhaft, dies sei der Kripo längst bekannt. Alle, die von den sexuellen Annäherungen des Mannes erfahren, sind empört, doch man möchte der Polizei lieber nicht ins Handwerk pfuschen und bleibt untätig – ein folgenschwerer Irrtum.
Zwei Tage darauf fällt Passanten auf, wie ein Mann, der in einem blauen Ford-Kombi sitzt, sehr aufmerksam Kinder beobachtet, die sich auf einem Abenteuerspielplatz tummeln. Als schließlich ein Mädchen zu dem Mann in den Wagen steigt, das zuvor nicht auf dem Spielplatz gewesen ist, und der Ford-Kombi davonfährt, wird die Polizei alarmiert. Aufgrund des von den Zeugen abgelesenen Kennzeichens kann man den Halter des Wagens ermitteln – Jochen Jüttner. Da das Ermittlungsverfahren wegen Kindesentziehung gegen diesen Mann nach wie vor anhängig ist, wird nach dem Wagen und dem Fahrer gefahndet.
Nach einer Dreiviertelstunde steht der Ford-Kombi wieder vor dem Spielplatz, und die Polizisten nehmen Jochen Jüttner fest. Etwa zeitgleich suchen zwei uniformierte Beamte Chantal in der mütterlichen Wohnung auf. Das Mädchen schimpft abermals über die Mutter, die nichts verstehen und Jochen Jüttner als Kinderschänder verunglimpfen würde, dabei müsse man ihm doch dankbar sein und anerkennen, dass er sich in seiner Freizeit so um sie bemühe und ihr so viele Geschenke mache. Das Mädchen behauptet auch jetzt mit Nachdruck, dass es keine sexuellen Kontakte mit Jochen Jüttner gegeben habe. Nur erwähnt sie einmal eher beiläufig, dass der Mann im Brust- und Bauchbereich stark behaart sei. Als die Beamten diesbezüglich nachfragen, erzählt Chantal, sie habe Jochen Jüttner einmal während einer Autofahrt kurz mit nacktem Oberkörper gesehen. Es sei so heiß gewesen, nur deshalb habe er das T-Shirt ausgezogen.
Zur selben Zeit wird auch Gerlinde Rotbuch vernommen. Sie berichtet wieder von dem Vorfall, als sie Chantal und Jochen Jüttner in ihrer Wohnung »in flagranti« erwischt habe. Diese Schilderung weicht allerdings in einem ganz wesentlichen Punkt von der vorherigen Version ab: Chantal soll nämlich nur mit einem T-Shirt bekleidet gewesen sein. Gerlinde Rotbuch sagt den Beamten aber auch, dass die Fachdienststelle der Kripo von dieser Sache wisse. Daher wird diese brisante Erweiterung des Sachverhalts nicht dokumentiert, und es werden auch keine weiteren Ermittlungen und Benachrichtigungen durchgeführt. Jochen Jüttner selbst macht von seinem Schweigerecht Gebrauch.
Am nächsten Tag ruft Gerlinde Rotbuch beim Leiter der Kripo an und beschwert sich über die angeblich lasche und schleppende Bearbeitung ihrer Anzeige. Der Frau wird mitgeteilt, dass alle notwendigen Schritte unternommen worden seien und die Staatsanwaltschaft in Kürze den Vorgang prüfen werde. Gerlinde Rotbuch ist mit dieser Verfahrensweise einverstanden und lässt wiederum durchblicken, dass es ihr in erster Linie um die Probleme mit ihrer Tochter gehe, nicht so sehr um den Beschuldigten. Auch diesmal erwähnt sie, keine Beweise für einen sexuellen Missbrauch der Tochter zu haben, es sei eben nur eine Vermutung. Mittlerweile hat die Glaubwürdigkeit dieser Frau arg gelitten, zumal unterdessen Familienangehörige geäußert haben, Gerlinde Rotbuch habe selbst auf eine intime Beziehung zu Jochen Jüttner hingearbeitet und sei deshalb nun eifersüchtig auf die eigene Tochter.
Genau zwei Wochen später telefoniert Gerlinde Rotbuch um 16.35 Uhr erneut mit der Polizei und meldet Chantal als vermisst. Ihre Tochter hätte bereits um 13 Uhr zu Hause sein sollen, sei jedoch zum Mittagessen nicht erschienen – unentschuldigt. Gerlinde Rotbuch vermutet ihre Tochter in der Wohnung von Jochen Jüttner. Vielleicht sei der Mann mit Chantal auch nach Holland geflüchtet, ergänzt Gerlinde Rotbuch. Ihre Tochter habe vor Kurzem entsprechende Andeutungen gemacht. Schließlich wird nach Beendigung des Telefonats eine Vermisstenanzeige aufgenommen und an den Bereitschaftsdienst der Kripo weitergeleitet.
Kurz darauf klingeln zwei Kriminalbeamte an Jochen Jüttners Wohnung. Es wird nicht geöffnet. Die Nachbarn werden befragt, die niemanden gesehen haben wollen, der in den letzten Stunden die Wohnung betreten oder verlassen hat. Den Kommissaren fällt aber auf, dass Jochen Jüttners Wagen vor dem Haus parkt. Nur können sie Chantals Fahrrad nicht ausfindig machen, mit dem sie von zu Hause aus losgefahren ist. Die Beamten werten das fehlende Rad letztlich als Indiz für die Abwesenheit des Mädchens.
Dennoch überlegt man, gewaltsam in die Wohnung einzudringen. Die Kommissare wollen aber zuvor mit der Mutter des Kindes sprechen, vielleicht hat sich die Angelegenheit schon auf andere Weise erledigt. Gerlinde Rotbuch steht wieder deutlich unter Alkoholeinfluss und erzählt, dass sie vor einigen Tagen einen Zettel gefunden habe, auf dem Anschrift und Rufnummer eines Hotels in Holland vermerkt gewesen seien. Vermutlich seien Jochen Jüttner und Chantal mit dem Zug gefahren, diese Absicht habe die Tochter bei ihrer letzten, besonders heftigen Auseinandersetzung erwähnt. Die Beamten sehen aufgrund der Gesamtumstände von einer gewaltsamen Öffnung der Wohnung ab und beschränken sich auf sporadische Kontrollen, die zu nichts führen.
Am nächsten Vormittag ruft die Tante von Jochen Jüttner bei der Polizei an und berichtet, ihr Neffe sei verschwunden, und sie mache sich Sorgen um die Katzen, die sie am Tag zuvor in seine Obhut gegeben habe. Außerdem sei es merkwürdig, dass Jochen heute nicht zur Arbeit erschienen sei, ohne sich krankzumelden. Zudem erzählt Jochen Jüttners Vater auf Nachfrage der Polizei, dass er in den vergangenen 36 Stunden mehrfach vergeblich versucht habe, seinen Sohn zu erreichen. Hat die Kripo gestern das gewaltsame Eindringen in die Wohnung des nun Vermissten noch abgelehnt, liegen die Dinge heute anders. Es besteht dringender Tatverdacht und Handlungsbedarf.
Die Feuerwehr bricht kurz darauf die nicht nur verschlossene, sondern auch von innen mit Möbeln verbarrikadierte Wohnungstür auf. Im Schlafzimmer liegt auf dem Bett unter einer Decke etwas, das wie ein Mensch aussieht. Nach Entfernen der Wolldecke herrscht Gewissheit – auf dem Bett liegt ein Mädchen: nackt, die Beine gespreizt, blaue Flecken an den Innenseiten der Oberschenkel, am Hals ist eine Drosselmarke zu erkennen, das Betttuch ist teilweise durchnässt. Chantal ist offenbar Opfer eines Sexualverbrechens geworden. Die Tat muss bereits am Tag zuvor passiert sein, darauf lassen die fortgeschrittenen Fäulniserscheinungen schließen.
Die Badezimmertür ist ebenfalls verschlossen und muss gewaltsam geöffnet werden. In der Badewanne sitzt Jochen Jüttner, kaum ansprechbar. Ein Elektrokabel hängt neben ihm im Wasser, das sich blutrot verfärbt hat, ein mechanisches Summen ist zu hören. Am Rand der Wanne wird ein Brotmesser gefunden, mit dem der Mann sich am linken Handgelenk verletzt hat. Jochen Jüttner hat seinen Selbsttötungsversuch überlebt und wird ins Krankenhaus gebracht.
Anderthalb Jahre später.
Das an Chantal erinnernde Mahnmal lässt die Juristen, Polizisten und Zivilisten, die in das Justizzentrum strömen, nicht unbeeindruckt, viele Besucher bleiben stehen und halten einen Moment inne. Eine halbe Stunde später verliest der Staatsanwalt in diesem tragischen Fall die Anklageschrift. Demnach besuchte Chantal am Tattag ihren Freund, obwohl ihr die Mutter dies ausdrücklich untersagt hatte. Jochen Jüttner versteckte ihr Fahrrad unter dem Treppenabsatz im Haus, damit keiner der Angehörigen des Kindes annehmen konnte, dass sich Chantal bei ihm aufhalte. Anschließend kam es zu von beiden Seiten gewünschten Intimitäten. Als Chantal zum Mittagessen nach Hause wollte, befürchtete Jochen Jüttner, dass die Mutter des Mädchens wieder unbequeme Fragen stellen würde und so herauskommen könnte, dass ein Treffen stattgefunden hat.
Aus Angst, dass die Kripo erneut gegen ihn ermitteln könnte, entschied sich Jochen Jüttner, das Kind zu töten. Er nahm ein Kopfkissen und versuchte Chantal zu ersticken. Das Mädchen wehrte sich jedoch heftig, konnte sich befreien und versicherte dem Peiniger, keinem etwas zu sagen, der Mutter schon gar nicht. Doch Jochen Jüttner glaubte Chantals flehentlichen Beteuerungen nicht, weil sie der Mutter bisher fast alles erzählt hatte. Er packte seinen Hosengürtel und erdrosselte das Kind. Anschließend missbrauchte er den Leichnam über mehrere Stunden. Erst als der tote Körper zunehmend unansehnlich wurde, ließ er davon ab. Da ihm seine Situation aussichtslos erschien, versuchte er sich anschließend das Leben zu nehmen.
In der Tatortwohnung fand die Kripo auch Kassetten des Anrufbeantworters, auf denen mehrere Anrufe der Mutter des Opfers zu hören waren. Gerlinde Rotbuchs Äußerungen ließen keinen Zweifel daran, dass sie der Kripo wesentliche Dinge vorenthalten hatte. Sie hatte, warum auch immer, schon bei der ersten Anzeige gegen Jochen Jüttner verschwiegen, dass bei ihrem besagten Nachhausekommen Chantals Unterhose bis zu den Knien heruntergezogen war und Jochen Jüttner schwitzend und mit hochrotem Kopf vor ihr gesessen hatte. Diese durchgängige Desinformation hatte letztlich wesentlich dazu beigetragen, dass die Kripo irrigerweise nicht der Mutter, sondern der Tochter glaubte und keine weiterführenden Maßnahmen ergriff. Und so konnte das Unheil seinen Lauf nehmen.
Doch auch Chantals Onkel und andere Familienangehörige irrten, als sie von den Strip-Poker-Spielchen mit Jochen Jüttner erfuhren, sich aber von dem Mädchen überzeugen ließen, die Polizei habe bereits Kenntnis davon und gehe der Sache nach. Dabei hätte wahrscheinlich ein einziger Anruf bei den Kripobeamten ausgereicht, um das sich anbahnende Drama zu verhindern.