Die Sache mit dem Schemel

Ermittlungszeitraum: März 1967

In einer hügeligen Landschaft am südwestlichen Rand oberhalb der Gemeinde liegt der Bauernhof der Familie Moosgruber, die hier seit Generationen Vieh- und Landwirtschaft betreibt. Direkt an das Haupthaus grenzt das ausgebaute und frisch renovierte zweigeschossige Stall- und Wirtschaftsgebäude, in dem seit 14 Jahren die Eheleute Simeth untergebracht sind – Xaver Simeth arbeitet auf dem Bauernhof als Knecht, Amrei Simeth als Haushaltshilfe. Ihre beiden erwachsenen Kinder haben das Elternhaus bereits verlassen, kommen aber regelmäßig zu Besuch. Die Wohnung der Simeths liegt im ersten Stock des Hauses und besteht aus drei Zimmern mit Küche und Bad. Gegenüber befindet sich eine Abstellkammer, über die man den Dachboden erreicht, auf dem Heu gelagert wird. Neben ihren Tätigkeiten im Haushalt muss Amrei Simeth jeden Tag auf den Dachboden steigen, um Heu für die Tiere in den Hof zu werfen.

Es ist 14.30 Uhr, als Annegret Moosgruber überrascht feststellt, dass immer noch kein Heu im Hof liegt. Amrei Simeth ist nirgendwo zu sehen und reagiert auch nicht, als nach ihr gerufen wird. Die Bäuerin geht ins Wirtschaftsgebäude, sie will sich nun selbst um das Tierfutter kümmern. Im ersten Stock trifft die 54-Jährige auf Xaver Simeth, der vor seiner verschlossenen Wohnung steht. Annegret Moosgruber grüßt den Knecht kurz, öffnet die Tür zur Abstellkammer und sieht zunächst zwei Beine vor sich auf dem Boden, dann erst, als sie rechts an der Tür vorbei in den Raum hineinsieht, erkennt sie Amrei Simeth – die zierliche und kleinwüchsige Frau liegt im Morgenrock auf dem grauen Zementboden, wie tot.

»Xaver, komm schnell! Hier ist was passiert!« Der Knecht steht Sekunden später neben ihr, schaut kurz in die Abstellkammer und schreit: »Mutter! – Mutter! – Tot! – Aufgehängt! – Es war ja nichts! – Es war ja nichts!« Der 56-Jährige kniet sich neben seine Frau und öffnet ihren Morgenrock. Annegret Moosgruber kann erkennen, dass die Frau sonst unbekleidet ist. »Ich gehe rüber und rufe die Polizei.« Die Bäuerin läuft hinüber ins Haupthaus, Xaver Simeth folgt ihr einige Minuten später.

Den verständigten Kriminalkommissaren und dem Gerichtsmediziner bietet sich folgendes Bild: Die 55-jährige Amrei Simeth liegt auf dem Rücken, das rechte Bein ist ausgestreckt, das linke nach oben angewinkelt, die Zehen haben Kontakt mit der Türzarge. Neben dem Kopf der Toten steht in ungefähr 50 Zentimetern Entfernung ein Holzschemel. Etwa in der Mitte des in zwei Metern Höhe angebrachten Querbalkens der Holzlattentür hängt ein drei Zentimeter dicker Hanfstrick, der mehrfach um den Türpfosten gewickelt und verknotet worden ist. In der rechten Tasche des Morgenrocks finden die Beamten den Schlüsselbund der Toten. Die doppelt um den Hals der Frau geschlungene Schnur ist noch fest angezogen. Ober- und unterhalb der Strangfurche sind an der rechten Unterkieferseite im Bereich des Kehlkopfes bläulich verfärbte Hautveränderungen zu erkennen, an der linken Kinnseite befindet sich eine Hautpartie, die violett schimmert. Am Hinterkopf kann eine leichte Schwellung ertastet werden. Die Totenstarre hat sich in sämtlichen Gelenken voll ausgebildet. Nach Einschätzung des Rechtsmediziners ist der Tod in den Morgenstunden eingetreten, spätestens vier Stunden vor der Auffindung.

Xaver Simeth wird vernommen und gibt zu Protokoll, dass er von 5 Uhr bis 13.30 Uhr außer Haus gewesen sei, frühmorgens auf dem Großmarkt, vormittags bei einem Bekannten, mit dem er über den Kauf eines gebrauchten Pkws verhandelt habe. Als er in der Früh die Wohnung verlassen habe, sei seine Frau noch im Bett liegen geblieben. Obwohl sie niemals Selbstmordabsichten geäußert habe, sei seine Gattin in der letzten Zeit sehr deprimiert gewesen, wahrscheinlich wegen ihrer Schwerhörigkeit, über die sie sich bei ihm mehrfach bitterlich beklagt habe. Bei seiner mittäglichen Rückkehr sei die Wohnung zweimal abgeschlossen gewesen, es habe keine Auffälligkeiten gegeben, keine Unordnung, keine Hinweise auf einen Einbruch, es habe auch nichts gefehlt. Die Abwesenheit seiner Frau habe er sich mit Besorgungen im Dorf erklärt. Allerdings habe er sich darüber gewundert, dass sie einkaufen gegangen sei, ohne – wie sonst üblich – eine Nachricht zu hinterlassen. Nachdem er einen Tee gekocht habe, sei er ins Schlafzimmer gegangen und habe gestutzt, weil die Betten nicht gemacht gewesen seien. Außerdem habe er bemerkt, dass von dem Kaffee, den er frühmorgens habe stehen lassen, getrunken worden sei – das müsse seine Frau gewesen sein, da sonst niemand einen Schlüssel für die Wohnung besitze.

»Gegen 14.30 Uhr ist dann die Frau Moosgruber ins Wirtschaftsgebäude gekommen und hat mich zu sich in die Abstellkammer gerufen«, erzählt er nach einer kurzen Pause weiter. »Dort habe ich dann meine Frau mit dem Strick um den Hals auf dem Rücken liegen sehen – das Seil hat am oberen Türpfosten gehangen. Erst als ich ihren ausgestreckten Fuß berührt habe, ist mir vollends bewusst geworden, dass Amrei tot ist – ihr Fuß hat sich eiskalt angefühlt. Neben ihrem Kopf hat ein Hocker gelegen, den meine Frau üblicherweise zum Waschen benutzt hat. Der Schemel war umgestürzt, und die Sitzfläche hat zur Tür gezeigt. Ohne darüber nachzudenken, habe ich den Hocker aufgestellt und ein wenig nach hinten geschoben, sonst habe ich aber nichts im Abstellraum verändert.«

Der Staatsanwalt schließt sich der Einschätzung der Kripo, dass es sich um eine Selbsttötung handele, zwar grundsätzlich an, doch weist er auch auf die Gesichtsverletzungen der Frau hin, deren Ursache nicht bekannt ist. Die Leiche wird daraufhin beschlagnahmt und ins gerichtsmedizinische Institut gebracht. Das am darauffolgenden Tag vorliegende Ergebnis der Obduktion ist überraschend eindeutig und lässt eine bestimmte Handlungsabfolge erkennen: »An der Unterseite des Unterkiefers und am Vorderhals fanden sich zahlreiche Druckspuren von Fingerkuppen. Dass der Würgegriff sehr kräftig geführt wurde, ist durch die vorgefundenen Brüche beider Schilddrüsenknorpelhörner und des rechten Zungenbeins sowie durch die sehr reichlichen Erstickungsblutungen im Gesicht und an den Augenlidern bewiesen. Das belegt ebenso der Zustand der inneren Organe, insbesondere die massive Stauung des Gehirns.«

Das Gutachten beschreibt außerdem, dass sich neben den Würgemalen weitere Blutunterlaufungen am Kinn und an der Schulter des Opfers befinden, die vermutlich durch Faustschläge hervorgerufen wurden. Außerdem hat man eine doppelte Strangfurche am Hals vorgefunden, die zweifellos durch Aufhängen mit dem sichergestellten Strick entstanden ist. Allerdings muss die Frau zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen sein, da man an der Strangfurche und dem Gewebe darunter nicht die geringsten Vitalitätszeichen finden konnte. Ein weiterer Beweis dafür ist auch der Befund der vitalen Einatmung von Magen- und Darminhalt, die nur während des Würgens, keinesfalls aber durch das Aufhängen entstanden sein kann.

Amrei Simeth hat sich demnach nicht erhängt, sondern ist aufgehängt worden, nachdem jemand sie geschlagen und erwürgt hat. Weitere Nachforschungen der unterdessen eingerichteten Mordkommission am Tatort bestätigen die Kernaussagen des Gutachtens. Es wird nämlich bei einer Rekonstruktion festgestellt, dass der Hanfstrick unter Belastung durch den Leichnam quer über den Balken gezogen worden sein muss. Dazu wird Amrei Simeth selbst nicht fähig gewesen sein. Und schließlich fällt den Beamten beim nochmaligen Studium der Aussage von Annegret Moosgruber auf, dass bei der Auffindung neben der Leiche kein Schemel gestanden oder gelegen haben soll.

Gerade diesen Hinweis wertet die Kripo als erstes und ernst zu nehmendes Indiz gegen den Ehemann des Opfers. Daraufhin befasst man sich näher mit Xaver Simeth und bringt seinen Lebenslauf in Erfahrung: Der Verdächtige verbringt seine Kindheit in geordneten Verhältnissen bei den Eltern. Nach dem Besuch von Volks- und Hauptschule beginnt Xaver Simeth eine Lehre als Tischler, bricht die Ausbildung nach anderthalb Jahren ab und arbeitet nun im Tischlereibetrieb des Vaters. Mit 24 heiratet der Mann das spätere Opfer. Amrei Simeth bringt zwei Töchter mit in die Beziehung, eine aus erster Ehe, die andere ist von einem Mann, dessen Namen nur die Mutter kennt. 1940 wird Xaver Simeth zur Wehrmacht eingezogen und gerät schon bald in Kriegsgefangenschaft, aus der er sieben Jahre später entlassen wird – bis hierhin eine eher unscheinbare Vita.

Auffällig hingegen wird der Mann erst einige Zeit später, als er seine Frau wiederholt verprügelt, ihr erhebliche Verletzungen am ganzen Körper zufügt und sie auch würgt. Zwei Jahre danach bedroht er die gesamte Familie mit einem Küchenmesser, das er in der Hand hält und mit einem anderen Messer schärft. Nach seiner Festnahme sagt Xaver Simeth bei der Kripo aus, dass es wohl zur Tötung gekommen wäre, hätte man ihn nicht eingesperrt. Eine Haftstrafe bleibt ihm zwar erspart, dafür muss er aber auf Initiative der Ehefrau sein Alkoholproblem in einer geschlossenen Einrichtung behandeln lassen. Doch auch nach seiner Entlassung fällt der überaus jähzornige Mann immer wieder durch extremen Alkoholkonsum, Grobheiten und auch Gewalttätigkeiten auf, die sich in erster Linie gegen seine Frau richten. Insgesamt ermitteln die Beamten Lebensumstände, die geradezu lehrbuchhaft zur Vorgeschichte eines Beziehungsdelikts passen. Allerdings hat der umtriebige Verdächtige ein Alibi, das nicht zu erschüttern ist.

»Mutter hat sich umgebracht!«, erzählt Xaver Simeth seinen Töchtern, wann immer die Sache Thema wird. »Das war doch bestimmt so ein Sittentäter!«, empört er sich dagegen vor den übrigen Verwandten und verweist mit Nachdruck auf die fast nackte Leiche. Der Kripo indes gibt er den Hinweis, man möge sich doch einmal den Freund der älteren Tochter genauer ansehen, der sei doch vorbestraft und habe sich mit seiner Frau nicht verstanden. Doch einen Beweis für die Hypothesen und Anschuldigungen des Mannes kann die Mordkommission nicht finden.

Vielmehr gerät Xaver Simeth selbst in die Schusslinie, als bei weiteren Vernehmungen bekannt wird, dass die Schwerhörigkeit seiner Frau – angeblich Auslöser von Stimmungsschwankungen – auf eine Trommelverletzung zurückzuführen ist, die sie durch Schläge des Ehemanns erlitten hat. Außerdem soll Amrei Simeth Verwandten und Freundinnen gesagt haben, ihr Mann werde sie eines Tages umbringen. Wenn ihr etwas zustoßen sollte, dann sei er daran schuld. Zudem wird berichtet, dass Xaver Simeth besonders in jüngster Zeit lautstark mit seiner Frau gestritten und sie mitunter auch misshandelt habe. Bei diesen Auseinandersetzungen habe sie ihm wegen seiner Alkoholabhängigkeit Vorhaltungen gemacht, auf die er unwirsch reagiert und seiner Frau vorgeworfen habe, ihn seinerzeit verraten zu haben, als es zur Einweisung in die Entziehungsanstalt gekommen sei. Allmählich deutet sich ein Mordmotiv an: Hass?

Schließlich stellen die Ermittler fest, dass die Kleidungsstücke fehlen, die Amrei Simeth ihren Töchtern zufolge zur Tatzeit getragen haben könnte. Die abermalige Absuche des Bauernhofes führt die Beamten zu einem Fäkalienfass, in dem sie ein Bündel finden, das mit einer Rebschnur umwickelt ist. Bei dem Fund handelt es sich um ein geblümtes, rosafarbenes Damennachthemd und ein weißes T-Shirt. Auf dem Nachthemd findet der Gerichtsarzt Blutflecken, deren Lage darauf schließen lässt, dass sie bei der Tötung des Opfers entstanden sein müssen.

14 Tage nach der Tat meldet sich eine Frau bei der Mordkommission, die eine bedeutsame Beobachtung gemacht haben will und dadurch den Verdacht gegen Xaver Simeth weiter verstärkt. Die Zeugin berichtet, sie habe gesehen, wie der Verdächtige am Tattag gegen 11.30 Uhr mit seinem Moped vom Hof kommend in Richtung Dorf gefahren sei. Wenn das stimmt, hätte Xaver Simeth für die mutmaßliche Tatzeit kein Alibi mehr. Weitere Ermittlungen und Befragungen ergeben, dass der Mann auf dem Großmarkt letztmals gegen 10.40 Uhr gesehen worden sei. Und bei seinem Bekannten, mit dem er unmittelbar danach über einen Autokauf verhandelt habe, sei er erst um etwa 11.45 Uhr eingetroffen. Somit wäre für Xaver Simeth ausreichend Zeit verblieben, um die Tat zu begehen.

Noch am selben Tag wird der Mordverdächtige festgenommen und verhört. Er bleibt zunächst bei seinen bisherigen Angaben. Stundenlang werden Xaver Simeth Vorhaltungen gemacht, Widersprüche in seiner Aussage angesprochen, an sein Gewissen appelliert. Um 16.32 Uhr bittet der Beschuldigte darum, die Vernehmung zu beenden. Er werde, kündigt er an, am nächsten Tag jene Vorkommnisse schildern, die zum Tod seiner Frau geführt haben.

Xaver Simeth hält sich an die Vereinbarung. Er gibt zu Protokoll, dass am Tag vor der Tat die Töchter und seine Schwägerin gegen 19 Uhr zu Besuch gekommen seien. Den Gästen seien belegte Brötchen serviert worden, er selbst habe ein Wiener Schnitzel gegessen. Seine Frau sei mit einer Tasse Kaffee zufrieden gewesen. Nach dem Essen habe seine Frau alle mit Tee und Slibowitz versorgt. Er habe sich dann gegen 21 Uhr ins Bett gelegt, nachdem die Frauen eine Viertelstunde vorher gemeinsam ins Dorf gegangen seien.

Gegen 3.30 Uhr sei er aufgewacht, habe Licht gemacht und sich eine Zigarette angezündet. Kurz darauf sei er von seiner Frau angefahren worden: »Hast schon wieder gesoffen, weil es so stinkt!« Tatsächlich habe er jedoch nach dem abendlichen Schnapstee keinen Alkohol mehr getrunken. Seine Frau habe sich weiter über ihn beklagt, er könne »das Saufen doch nicht lassen«, zwei Tage zuvor sei er »doch auch schon stockbesoffen gewesen«. Er habe sich über diese ungerechtfertigten Vorwürfe sehr geärgert und seiner Frau zwei- oder dreimal mit der Faust gegen das Kinn geschlagen. Als sie ihm daraufhin gedroht habe, wieder bei der Polizei Anzeige zu erstatten, sei er zornig geworden, aus dem Bett gesprungen und darum herumgelaufen. Er habe das Opfer mit beiden Händen gepackt und kräftig gewürgt.

Seine Frau habe verzweifelt versucht, sich dagegen zu wehren, sie habe immer wieder mit ihren Händen gegen seine Arme geschlagen, doch sei er dadurch nur noch wütender geworden. Zwischendurch habe er sie wiederholt ins Gesicht geschlagen und geschüttelt. Nach einigen Minuten des Würgens, Schlagens und Schüttelns sei seine Frau auf dem Bett zusammengesackt und habe sich nicht mehr bewegt. Es sei »aber kein Mord gewesen«, vielmehr habe er seiner Frau lediglich »einen Denkzettel verpassen« wollen. Überhaupt sei er der Auffassung gewesen, seine Frau habe noch gelebt, als er zum Großmarkt gefahren sei. Als er mittags zurückgekehrt und seine Frau nicht in der Wohnung gewesen sei, habe er angenommen, sie sei ins Krankenhaus eingeliefert worden oder selbst dorthin gefahren, um ihre Verletzungen versorgen zu lassen. Mit dem Transport der Leiche auf den Dachboden und den dortigen Manipulationen – dem Schemel neben der Toten und dem Aufhängen des Opfers – habe er dagegen sicher nichts zu tun. Und dass er die Bekleidung seiner Gattin im Fäkalienfass versteckt haben soll, sei ebenfalls unzutreffend.

Dass Xaver Simeth zumindest den Würgevorgang und die dem Opfer verabreichten Schläge zutreffend beschrieben hat, ergibt sich aus dem Obduktionsprotokoll. Die Brüche beider Schilddrüsenknorpelhörner und des rechten Zungenbeins sind zweifellos auf das Würgen zurückzuführen, resümiert der Gerichtsgutachter. Und bei dieser Schilderung hat Xaver Simeth letztlich auch Wissen preisgegeben, über das nur eine Person verfügen kann – der Täter.