Kleiner Engel

Ermittlungszeitraum: September 1968–Dezember 1969

Susanne Fischin ist Hausfrau und kümmert sich um die 4-jährige Tochter, während ihr Mann als leitender Angestellter in einer Pharmafirma arbeitet und ein gutes Einkommen hat. Die 44-Jährige ist glücklich verheiratet, mit dem passionierten Briefmarkensammler Hans gibt es selten Meinungsverschiedenheiten. Die Fischins wohnen in einem ruhig gelegenen Einfamilienhaus am Rand der Stadt. Es fehlt offenbar an nichts, und viele Menschen würden Susanne Fischin um ihre recht komfortable Lebenssituation beneiden.

Allerdings gibt es im Leben dieser Frau auch eine dunkle Seite, von der kaum jemand etwas weiß: Susanne Fischin muss seit einigen Jahren regelmäßig einen Psychiater aufsuchen, weil sie fortwährend unter Angstzuständen und Panikattacken leidet, deren Ursache unklar ist. Selbst die schrille Stimme der Nachbarin kann mitunter zur Bedrohung werden, die Susanne Fischin Angst einflößt. Außerdem haben sich in den vergangenen Monaten Probleme im Umgang mit der eigenen Tochter ergeben. Nicolette erscheint Susanne Fischin unzugänglich und unversöhnlich, wenn sie beispielsweise längere Zeit wütend ist und weint, weil sie im Supermarkt keinen Schokoladenriegel bekommt – eigentlich ein gewöhnlicher Konflikt, den jede Mutter in dieser oder ähnlicher Form austragen muss. Nur weiß Susanne Fischin mit den fordernden und ablehnenden Reaktionen der Tochter nicht umzugehen. Sie ist mit der Erziehung des Kindes schlichtweg überfordert.

Die Lebenssituation von Mutter und Tochter spitzt sich dramatisch zu, als die Beklemmungen der Frau von Tag zu Tag gravierender werden und sie unvermittelt und ohne äußeren Anlass Lähmungserscheinungen im linken Arm verspürt. Sie kann nicht einmal mehr das Essen auftragen. Es ist so weit, Susanne Fischin glaubt sterben zu müssen. Ihre größte Sorge gilt allerdings Nicolette, die sie keinesfalls allein zurücklassen will – wer als sie selbst sollte sich um das Mädchen kümmern! Weil Susanne Fischin keinen anderen Ausweg sieht, vergiftet sie sich und ihre Tochter mit einem Pflanzenschutzmittel.

Doch der Ehemann kommt früher als üblich nach Hause und alarmiert den Notarzt. Später stellt sich heraus, dass die eingenommenen Mengen so gering gewesen sind, dass zu keinem Zeitpunkt Lebensgefahr bestanden hat. Überhaupt bezweifeln die Ärzte, dass Susanne Fischin die Sache ernst gewesen ist, denn es fehlen die für eine Vergiftung typischen äußeren Symptome. Sie selbst sagt aber, den festen Vorsatz gehabt zu haben, sich gemeinsam mit ihrer Tochter das Leben zu nehmen. Nun sehe sie jedoch ein, beinahe etwas ausgesprochen Törichtes getan zu haben, und verspricht, es nicht noch einmal zu versuchen. Zu dieser Einsicht verhilft ihr das überaus verständnisvolle Verhalten des Ehemanns, der auch ganz anders hätte reagieren können. Es vergehen 14 Monate, in denen Susanne Fischin immer wieder mal in eine Krisensituation gerät, die sie jedoch meistern kann.

Dann aber – es ist ein trister Novembertag – wird das 1. Kriminalkommissariat von einer Funkstreife darüber unterrichtet, dass eine gewisse Susanne Fischin versucht habe, sich durch eine Überdosis Medikamente das Leben zu nehmen. Gleichzeitig sei auch die Tochter vergiftet und mit der Mutter ins Krankenhaus gebracht worden. Dort habe man nur noch den Tod des Mädchens feststellen können. Die Mutter sei nicht ansprechbar und befinde sich in akuter Lebensgefahr.

Sofort wird eine Mordkommission gebildet, die die Wohnung der Familie Fischin aufsucht. Bei der Tatortbesichtigung finden die Beamten zwar kein Trinkgefäß, in dem Medikamente angerührt oder aufgelöst worden sind, doch liegt auf dem Küchenschrank ein Abschiedsbrief:

»Lieber Papi,

leb wohl. Verzeih mir einmal, wenn Du kannst. Ich kann nicht mehr. Diese Angst halte ich nicht mehr aus. Darum muss ich gehen. Ich muss auch unseren allerliebsten Schatz mitnehmen. Denn Du kennst sie ja. Was würde dieser kleine Engel leiden, wenn er keine Mutter mehr hätte. Du weißt ja, sie kann doch keine Stunde ohne mich leben. Wer weiß auch, was ihr dadurch alles erspart bleibt. Ich weiß, wie weh ich Dir tue, und auch meinen Geschwistern. Du bist immer so lieb und rücksichtsvoll zu mir gewesen. Du hast mich und das Kind so sehr geliebt. Ich kämpfe jetzt wieder die ganzen Wochen mit der furchtbaren Angst. Aber sie ist stärker als ich. Ich weiß, dass ich Dich als gebrochenen Mann zurücklasse. Aber mir graut vor dem Leben. Vielleicht wirst Du aus Leid um uns einmal meine Angst verstehen.

Ich habe alles versucht, um die Angst zu vertreiben, und Du hast immer versucht, mir dabei zu helfen. Nicolette hat mir heute wieder eine Szene gemacht wegen eines kleinen Döschens, welches sie dem Nachbarskind nicht zurückgeben wollte. Sie hat noch lange in meinem Arm gelegen und geweint. So geht das mit ihr auch schon viele Wochen. Sie wird immer empfindlicher und eigener. Aber bleibt das aus bei der Mutter? Die Stimmen der Leute in der Nachbarschaft regen mich auf. Ich habe versucht, darüber hinwegzukommen. Vielleicht kannst Du an unserem Leid ermessen, wie sehr ich gelitten habe. Leb wohl. Glaub mir, es ist keine Feigheit, aus dem Leben zu gehen. Es ist trotzdem schwer, aber die Angst vor dem Weiterleben ist noch viel schwerer.

Deine Susanne.«

Anhand der am Tatort gefundenen leeren Verpackungen kann man feststellen, dass 195 Tabletten der Beruhigungsmittel »Librium 5«, »Belladenal« und »Truxal« fehlen. Alle Medikamente sind Susanne Fischin wegen ihrer Angstzustände verordnet worden, zum Teil im Voraus, weil der behandelnde Arzt Urlaub machen wollte. Wie viele Tabletten die Mutter eingenommen und der Tochter verabreicht hat, bleibt fraglich. Mittlerweile hat die Mordkommission jedoch Kenntnis davon erhalten, dass Susanne Fischin außer Lebensgefahr ist und bald Rede und Antwort stehen kann.

Die Obduktion der Tochter ergibt eine Todesursache, die angesichts des Verdachts auf Vergiftung alle Beteiligten überrascht: Am Hals des Kindes sind mehrere, teils mandelgroße Oberhautdefekte mit rötlich brauner Einfärbung bemerkt worden, die in das Unterhautgewebe eingeblutet sind. Zudem konnten flohstichartige Blutungen in der Gesichts- und Halshaut, aber auch in den Lidbindehäuten des rechten Auges festgestellt werden. Nicolette ist demnach nicht an einer Überdosis Medikamente gestorben, sie ist erdrosselt worden.

Dieser Tat dringend verdächtig ist Susanne Fischin, die zur Tatzeit als Einzige am Tatort gewesen ist und die Tötung der Tochter in ihrem Abschiedsbrief eingeräumt hat. Die Angehörigen der Familie bringen in ihren Vernehmungen deutlich zum Ausdruck, dass nur Susanne Fischin für den Mord an Nicolette infrage käme. Die erzieherischen Probleme und psychischen Auffälligkeiten der Mutter seien in jüngster Zeit nicht zu übersehen gewesen – sie habe sich aber nicht gesprächsbereit gezeigt. Ein Verschulden Dritter wird kategorisch ausgeschlossen, dafür gebe es keinen Anhaltspunkt.

Susanne Fischin wird nach zweitägiger Behandlung in die psychiatrische Abteilung des Landeskrankenhauses überstellt. Sie kann noch nicht vernommen werden. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erlässt das Amtsgericht einen Untersuchungshaftbefehl, weil die Beschuldigte »einen Menschen vorsätzlich getötet hat«. Es besteht kein Zweifel, dass ein sogenannter erweiterter Suizid vorliegt, also ein Tötungsdelikt mit anschließender – in diesem Fall versuchten – Selbsttötung.

Es vergeht eine Woche, bis Susanne Fischin körperlich genesen ist und die Ärzte einer Vernehmung zustimmen. Die Frau berichtet der Kripo zunächst, dass die Entbindung von Nicolette eine komplizierte Zangengeburt gewesen sei und sie seit dieser Zeit unter Angstzuständen leiden würde. Einmal, als Nicolette an einem Magenpförtnerkrampf erkrankt sei, habe sie 13 Kilo abgenommen. Ihre psychischen Probleme seien überwiegend medikamentös behandelt worden, sie habe jedoch auch mehrfach eine Kur verschrieben bekommen. »Im vorigen Jahr habe ich einen Selbstmordversuch unternommen. Das war kein Theater! Ich konnte mit meiner Tochter aber bald wieder nach Hause gehen.«

Drei Wochen vor dem Tod der Tochter sei sie »wieder einmal am Ende« gewesen, gibt Susanne Fischin weiter zu Protokoll, sie habe darum beschlossen, »diesmal wirklich Schluss zu machen«. Sie habe jenen Abschiedsbrief geschrieben, der später in der Wohnung auf dem Küchenschrank entdeckt worden sei. Sie berichtet jedoch weiter: »Bevor ich den letzten Schritt tat, stellte ich fest, dass mein Zustand sich zusehends besserte. Ich hatte dann keinen Grund mehr, mich mit dem Kind umzubringen, und deshalb steckte ich den bereits verfassten Brief in meine Handtasche, um ihn bei nächster Gelegenheit zu vernichten. Dazu bin ich aber nicht mehr gekommen, ich hatte ihn völlig vergessen. Ich wollte auch nicht, dass er meinem Mann in die Hände fiel.«

Sie habe an dem Morgen, als die Sache passiert sei, »eigentlich überhaupt keine Beschwerden gehabt«, erzählt Susanne Fischin den Vernehmungsbeamten. Sie habe mit Nicolette im Schlafzimmer auf dem Bett gelegen. Und dann: »Nicolette band einem ihrer Stofftiere den Gürtel eines Bademantels um den Hals und spielte Hündchen. Schon bald wollte sie selbst das Hündchen sein. Sie schlang den Gürtel um ihren eigenen Hals. Neben dem Bett lag eine alte Steppdecke auf dem Boden. Darauf ist sie hin und her gekrabbelt und hat gesagt, sie sei jetzt der Hund der Nachbarsfamilie. Plötzlich wurde das Kind still und bewegte sich nicht mehr. Der Gürtel war meiner Erinnerung nach nie stramm gewesen. Als ich das Kind sah, musste ich feststellen, dass es schwer und regungslos war. Es kann sein, dass ich die Verknotung gelöst habe. Nicolette war blau. Ich horchte ihre Herztätigkeit ab und versuchte eine Mund-zu-Mund-Beatmung. Ich war von ihrem Tod überzeugt.«

In ihrer Verzweiflung habe Susanne Fischin schließlich beschlossen, sich mit einer Überdosis Beruhigungstabletten das Leben zu nehmen, ohne Nicolette sei ihr »alles sinnlos vorgekommen«. Sie habe sich die Pillen in den Mund gesteckt und mit klarem Wasser heruntergespült. Dann habe sie beschlossen, sich an einer Türklinke zu erhängen, nur »klappte das nicht, weil die Gürtel rissen«. Kurz darauf habe sie abermals versucht, sich zu töten: »Ich wollte mit dem Hornhauthobel meine Pulsadern öffnen, aber es gelang mir nicht. Nach Einnahme der Medikamente bin ich eingeschlafen. Ich erinnerte mich beim Aufwachen im Krankenhaus, dass etwas mit meiner Tochter war, aber genau wusste ich es nicht mehr. Deshalb habe ich mir bestätigen lassen, dass Nicolette auch wirklich tot ist.«

Wenn die Frau nicht gelogen haben sollte, würde kein Mordfall vorliegen, sondern ein Unglücksfall. Die Ermittlungen werden aus diesem Grund wieder forciert. Und dabei findet die Kripo heraus, dass Susanne Fischin wahrscheinlich die Wahrheit gesagt hat. Denn in der Wohnung hat man tatsächlich mehrere zerrissene Bademantelgürtel gefunden, die zunächst nicht im Kontext der Tat gesehen wurden. Und der Streit um das besagte Döschen zwischen Nicolette und dem Nachbarskind hat wirklich drei Wochen vor dem Tod der Tochter stattgefunden, womit die Entstehungszeit des Abschiedsbriefs bewiesen ist. Im Körper des Mädchens wurden keine Wirkstoffe von Medikamenten nachgewiesen – und warum hätte die Mutter ihr geliebtes Kind erdrosseln sollen, wenn sie es mit Medikamenten vergleichsweise schonend hätte töten können? Die Beschuldigte hat im Bereich des linken Handgelenks die bei Suizidabsichten typischen Schnittverletzungen. Der von Susanne Fischin beschriebene Tathergang passt haargenau zu den vorliegenden Obduktions- und Tatortbefunden. Auch eine Rekonstruktion der Ereignisse ergibt kein anderes Ergebnis, als dass Nicolette beim Hündchen-Spiel auf tragische Weise ums Leben gekommen sein dürfte.

Ungeklärt bleibt jedoch nach alldem weiterhin ein eklatanter Widerspruch, auf den die Ermittler in einer nochmaligen Vernehmung zu sprechen kommen: Wenn Nicolettes Tod ein Unfall war, warum hinterlässt Susanne Fischin dann einen Abschiedsbrief, in dem sie sich selbst des Mordes an der eigenen Tochter bezichtigt? Sie antwortet darauf: »Zum Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme war mir das egal. Ich erinnerte mich an den Brief und legte ihn einfach heraus. Mir wäre es gleichgültig gewesen, als Mörderin dazustehen, wenn ich nicht überlebt hätte. Mein Kind ist durch den Unfall zu Tode gekommen, nicht durch mein aktives Einwirken. Keinesfalls habe ich den Tod meiner Tochter gewollt!« Die Staatsanwaltschaft entscheidet sich schließlich dazu, Susanne Fischin zu glauben. Nachdem der abschließende Bericht der Mordkommission vorliegt, wird das Verfahren eingestellt.