Ermittlungszeitraum: Juni–Juli 1949
Johannes Hansen-Spinger arbeitet seit nunmehr 16 Jahren für einen international renommierten Finanzdienstleistungs- und Versicherungskonzern. Zu den Aufgaben des 45-jährigen studierten Juristen gehören neben der telefonischen Kundenbetreuung, der selbstständigen Auftrags- und Vertragskontrolle und der Bearbeitung von Kleinprojekten auch die fallbezogene Sachbearbeitung. In letzterer Funktion hat er eine Unfallanzeige zu prüfen, in der vom tragischen Tod eines zweieinhalbjährigen Mädchens berichtet wird. Marion Kettler sei leblos am Rand eines Baches mit durchnässten Kleidern aufgefunden worden, teilt ihr Vater mit. Todesursächlich sei »wahrscheinlich ein Starrkrampf« gewesen. Im ärztlichen Befund steht dagegen: »Tod durch Ersticken nach Fall in einen Bach«.
Um diesen offenkundigen Widersprüchen nachgehen zu können, ersucht Johannes Hansen-Spinger die Staatsanwaltschaft um Überlassung der Verfahrensakten. Wenige Tage später liegen sie vor: ein Bericht des Tatortbefundes, verschiedene Vernehmungsprotokolle, Lichtbilder des Leichnams vor und während der Obduktion, Fotos von einer Rekonstruktion des Unfallgeschehens und das rechtsmedizinische Gutachten. Diesen Unterlagen ist die abschließende Verfügung der Staatsanwaltschaft beigefügt, in der festgestellt wird, dass ein Unfall vorliege und ein Verbrechen ausgeschlossen werden könne.
Aus den Akten ergibt sich folgender Sachverhalt: Südlich des Wohnortes der Eltern, einer größeren Gemeinde, liegt ein freies Wiesengelände. Etwa 200 Meter von der äußeren Begrenzung des Dorfes entfernt durchzieht ein etwa anderthalb Meter breiter Bach das Wiesenstück. Die beidseitig steil ansteigenden und mit hohem Gras bewachsenen Böschungen münden vom Wasserspiegel aus gemessen in einer Vertikalhöhe von 60 Zentimetern in den ebenen Wiesenboden. Als der Unfall passiert, beträgt die Wassertiefe 23 Zentimeter. Das offene Wasser fließt an der Fundstelle unter einer zwei Meter hohen Holzbrücke hindurch.
Gegen 19 Uhr finden ein Rentner und sein 14-jähriger Enkel das bereits tote Kind, als sie sich zufällig der besagten Brücke nähern. Marion liegt direkt daneben an der Böschung. Auffällig erscheint Johannes Hansen-Spinger die von den Zeugen beschriebene Fundsituation des Mädchens: bäuchlings, Kopf und Gesicht im Wasser, Arme und Hände nach hinten ausgestreckt, während die Handflächen nach oben zeigend auf dem Gesäß aufliegen. Die Kleider des Kindes sind durchnässt. Unmittelbar unterhalb der gespreizten Füße steckt ein altes Küchenmesser im Wiesenboden, an dem die Spitze der 7,5 Zentimeter langen Klinge abgebrochen ist.
Die noch am selben Abend begonnenen Ermittlungen ergeben, dass der 51 Jahre alte Nachbar der Familie Kettler das Küchenmesser Marions 5-jährigem Bruder Michael überlassen hat, weil der Junge damit Holz schneiden wollte. Bei Michaels Befragung kommt heraus, dass er seiner Schwester am tatkritischen Abend erzählt habe, unterhalb der Brücke am Rand des Baches liege ein Blechfrosch versteckt. Zuvor habe er das Küchenmesser an der Stelle in den Boden gesteckt, an der es später gefunden wurde. Er habe noch gesehen, wie Marion in Richtung des Baches gegangen sei, um, wie er angenommen habe, nach dem Blechfrosch zu suchen. Er selbst sei kurz darauf nach Hause gelaufen und habe in seinem Zimmer gespielt.
Blutspuren am Leichenfundort können mit bloßem Auge weder am Küchenmesser noch dort, wo das Kind gelegen hat, festgestellt werden. Dagegen ist das Gras an der Unfallstelle großflächig niedergedrückt. Schreie eines Kleinkindes zur Tatzeit sind nirgends gehört worden.
Dem Gutachten des Gerichtsarztes zufolge weist die Leiche am linken Fuß eine dreieinhalb Zentimeter lange und tief gehende Schnittwunde auf, deren Ränder gezackt sind. In diesem Bereich finden sich auch oberflächliche Kratzspuren. Der Sachverständige vertritt die Auffassung, dass aus den deutlichen Zeichen von Quetschungen in der Stirngegend geschlussfolgert werden könne, Marion sei mit dem Kopf voran heftig ins Wasser gestürzt. Durch diesen Aufprall könnte sich das Kind eine Gehirnerschütterung zugezogen haben, und aufgrund der damit verbundenen Bewusstseinstrübung dürfte es dem Mädchen nicht mehr möglich gewesen sein, sich aus dieser lebensbedrohlichen Lage zu befreien.
Dass das Kind mit dem Fuß gegen das Küchenmesser geschlagen sei und sich die Wunden am Fußrücken zugezogen habe, soll auf die beim Ertrinken häufig auftretenden klonischen Krämpfe zurückzuführen sein. Das Fehlen einer nennenswerten Blutung aus der großen Wunde spreche dafür, dass sie in einem Moment entstanden sein müsse, in dem die Blutzirkulation schon erheblich beeinträchtigt gewesen sei. Da sich die Beine des Mädchens deutlich außerhalb des Baches befunden haben, könnte eine Blutung nicht durch das Wasser weggespült worden sein.
Nachdem Johannes Hansen-Spinger die Akten ein zweites Mal studiert hat, bezweifelt er, dass Marion tatsächlich wie angenommen ums Leben gekommen ist. Sonderbar erscheint ihm vor allem die merkwürdige Haltung der Arme und Hände. Der Versicherungsmann vermutet vielmehr, dass auch ein Kleinkind die Arme instinktiv nach vorn strecken würde, um sich durch abstoßende Bewegungen aus der Zwangslage zu befreien und so dem drohenden Ertrinkungstod zu entgehen. Zudem will Johannes Hansen-Spinger nicht einleuchten, wie sich Marion die gravierende Verletzung am Fuß zugezogen haben soll, wenn das Küchenmesser doch im Boden gesteckt hat.
Der Versicherungsexperte schreibt eine ausführliche Stellungnahme und begründet darin, warum die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wieder aufgenommen werden sollten. Dort teilt man die vorgetragenen Einwände und Bedenken, und so wird die örtliche Kripo beauftragt, sich dieses Falls abermals anzunehmen.
Im Fokus der Untersuchungen steht nach Einschätzung der Kripo naturgemäß derjenige, der als letzter mit Marion Kontakt gehabt hat – ihr Bruder. Zunächst hört man jedoch seine Eltern an, die nach dem Tod ihrer Tochter immer noch um Fassung ringen. Übereinstimmend berichten Marianne und Wolfgang Kettler, verständnisvolle und in geordneten Verhältnissen lebende Leute, von gravierenden Problemen bei der Erziehung und Entwicklung ihres Sohnes. In regelmäßigen Abständen müssten sie mit den Erzieherinnen Nachgespräche führen, weil der Junge im Kindergarten zum wiederholten Male aggressiv oder zu laut gewesen sei, Spielzeug zerstört oder andere Kinder geschlagen und gebissen habe. Strafen würde er ignorieren und mitunter – ohne erkennbaren äußeren Anlass – wahllos um sich schlagen. Die Eltern charakterisieren Michael als impulsiven, leicht erregbaren und nur schwer zu erreichenden Jungen, der auch einen gewissen Gefühlsmangel erkennen lasse, wenn er andere Kinder drangsaliere, bedrohe oder beleidige. Auch nach dem Tod der kleinen Schwester habe er sich wenig beeindruckt gezeigt und nur Tage später ein 3-jähriges Mädchen in einen Brunnentrog stellen wollen. Schlimmeres sei durch eine Nachbarin verhindert worden, die zufällig aus dem Fenster geschaut habe und eingeschritten sei.
Mit diesen Vorerkenntnissen wird die Anhörung des Jungen anberaumt, an der neben seinem Vater auch ein Kinderpsychiater teilnimmt. Michael ist von eher zarter Statur und fällt insbesondere durch seine motorische Unruhe auf. Nachdem ihm erklärt worden ist, worüber man mit ihm sprechen möchte, sagt Michael ohne Umschweife, er habe Marion von der Brücke in den Bach fallen sehen und versucht, sie rechtzeitig aus dem Wasser zu ziehen. Vergeblich. Er bestreitet jedoch, das Mädchen mit dem Küchenmesser verletzt zu haben, vielmehr soll die Wunde durch eine Berührung mit am Fundort herumliegendem Stacheldraht entstanden sein. Aufgrund des medizinischen Gutachtens wissen die Vernehmungsbeamten, dass es so nicht gewesen sein kann, und halten Michael diesen Widerspruch vor. Doch der tut so, als ginge ihn das alles nichts an.
Nach einer Pause, in der Wolfgang Kettler seinen Sohn eindringlich zur Wahrheit ermahnt hat, gesteht Michael, seine Schwester mit dem Küchenmesser »geritzt« zu haben, weil es zwischen beiden zuvor zu einem Streit gekommen sei. Er räumt auch ein, Marion im Bach »einen Puff« gegeben zu haben, worauf sie hingefallen sei. Schließlich wird dem Jungen verdeutlicht, dass noch mehr passiert sein müsse, weil Marion ertrunken sei. Michael starrt eine Weile auf den Boden. Als er nach Minuten wieder aufschaut, schüttelt er den Kopf, beginnt leise zu weinen – und schweigt. Die Anhörung wird unterbrochen.
Eine Viertelstunde später gibt Michael seinen Widerstand auf und erzählt die ganze Geschichte: An jenem Abend schwärmt er seiner Schwester von dem kleinen Blechfrosch vor, den er im Bach versteckt hat. Marion ist neugierig geworden und möchte den Blechfrosch suchen. Michael begleitet sie. Als sie den Bach erreichen, gehen beide ins Wasser und finden den Frosch. Marion fordert das Spielzeug für sich, ihr Bruder ist dagegen und flunkert, unter der Brücke liege noch ein zweiter Blechfrosch, nur sei der viel größer und schöner. Marion sucht vergeblich, und es kommt zu einem heftigen Streit. Michael schubst seine Schwester, die darauf hinfällt. In seiner maßlosen Wut drückt er ihren Kopf unter Wasser. Seine Schwester wehrt sich und schreit, als sie zwischendurch kurz Luft bekommt. Doch Michael hält den Kopf des Mädchens schließlich so lange unter Wasser, bis es sich nicht mehr bewegt.
Anschließend nimmt er den Blechfrosch an sich und versteckt ihn an seinem alten Platz. Der Junge verlässt den Bach und geht auf die andere Seite der Holzbrücke. Dort sieht er Augenblicke später seine Schwester im Bach treiben. Michael geht zu Marion ins Wasser und sticht ihr mit dem Küchenmesser in den Fuß, damit sie weint. Sie soll wieder lebendig werden. Doch seine Schwester gibt keinen Laut von sich. Michael ist schockiert und weiß nicht, was er nun machen soll. Schließlich packt er das Mädchen an den Füßen und hebt es aus dem Wasser, klettert die Böschung hinauf und versucht Marion ganz aus dem Bach zu ziehen, was ihm jedoch nicht gelingen will; der Kopf seiner Schwester bleibt im Wasser. Er zieht noch ihre Arme aus dem Bach und steckt das Küchenmesser in den Boden. Danach läuft er weg.
Das Geständnis des Jungen, das typischerweise in Etappen erfolgt, erscheint der Kripo auch deshalb glaubwürdig, weil seine Aussagen im Wesentlichen mit dem Tatortbefund und dem Ergebnis der Obduktion übereinstimmen. Es erklärt sich nun auch, warum die kürzlich vorgenommene Benzidinprobe auf Blutspuren am Küchenmesser negativ verlaufen ist. Denn die Wunden am Fuß fügte Michael seiner Schwester unterhalb der Wasseroberfläche zu, das austretende Blut wurde unmittelbar weggespült. Johannes Hansen-Spinger hat mit seiner Vermutung also richtig gelegen. Es liegt ein Tötungsdelikt vor, für das Michael Kettler strafrechtlich jedoch nicht belangt werden kann. Dafür hätte er zur Tatzeit mindestens 14 Jahre alt sein müssen.