Der große Augenblick

Ermittlungszeitraum: November 1967

Am späten Abend wird ein Mann ins städtische Krankenhaus eingeliefert, der kurz zuvor eine Schussverletzung erlitten hat. Das Projektil ist offenbar seitlich in den Schädel eingedrungen. Bei dem Schwerverletzten handelt es sich um den 22-jährigen Fernmeldemonteur Jochen Lipp. Letztlich kommt für ihn jede Hilfe zu spät – die behandelnden Ärzte müssen eine Viertelstunde nach der Einlieferung den Tod des Patienten feststellen. Grundsätzlich sind Krankenhäuser angehalten, bei Schussverletzungen die Kripo zu informieren, und so passiert es auch in diesem Fall.

Am nächsten Tag wird eine Mordkommission gegründet, bestehend aus sieben Beamten, die zunächst jene zwei Personen vernehmen, die letztmals mit Jochen Lipp zusammen gewesen sind. Nach deren nur marginal voneinander abweichenden Angaben soll sich am Abend zuvor Folgendes zugetragen haben: Nach Arbeitsschluss trafen sich in der Kantine eines Kaninchenzüchtervereins zufällig mehrere männliche Mitglieder und tranken gemeinsam Bier. Nach etwa zwei Stunden lud Kurt Schreiner, ein 47-jähriger Fuhrunternehmer, Jochen Lipp und dessen etwa gleichaltrigen Freund Norbert Mettbach zu sich in seine nicht weit entfernte Wohnung ein, wo er ihnen eine neu erworbene Pistole präsentieren wollte. Jochen Lipp und Norbert Mettbach zeigten sich interessiert und gingen mit.

In der Wohnung angekommen, suchte Kurt Schreiner nach seiner »Haenel-Schmeisser M1 1920«, einer Selbstladepistole, die während des Zweiten Weltkriegs von Stabsoffizieren und leitenden Polizeibeamten der Wehrmacht benutzt worden war. Schließlich gab er die Suche auf und nahm an, seine Verlobte habe die Waffe an sich genommen und an einem anderen Platz verwahrt. Stattdessen kramte Kurt Schreiner aus einem Wäschekorb einen Revolver hervor, den er im Wohnzimmer auf dem Rauchtisch ablegte, damit ihn seine Gäste anschauen und selbst in die Hand nehmen konnten. Mahnend wies er darauf hin, dass die Waffe mit zwei Patronen geladen und darum besonders vorsichtig zu handhaben sei. Als der Hausherr für einen Augenblick das Wohnzimmer verlassen hatte, um aus der Küche drei Flaschen Bier zu holen, hörte er plötzlich, wie ein Schuss fiel. Kurt Schreiner rannte zurück ins Wohnzimmer und sah, wie Jochen Lipp leblos auf dem Sofa lag.

Während der Abwesenheit von Kurt Schreiner soll Jochen Lipp den Revolver mehrfach in die Hand genommen und damit herumgespielt haben, sagt später sein Bekannter Norbert Mettbach aus, der den Revolver nur einmal kurz angefasst habe. Beim Hantieren mit der Waffe habe Jochen Lipp von »russischem Roulette« als einer Art Mutprobe geschwätzt, die früher in Offizierskreisen üblich gewesen sei. Wie es zur Schussabgabe gekommen ist, will Norbert Mettbach nicht mitbekommen haben, weil er sich in diesem Moment abgewandt und in einem Buch geblättert habe. »Plötzlich hörte ich, wie der Abzug betätigt wurde. Unmittelbar darauf löste sich dann ein Schuss, und Jochen fiel rücklings aufs Sofa«, erinnert er sich. »Kurt und ich dachten beide, dass es sich bestimmt um einen Streifschuss handelt und Jochen nur bewusstlos ist. Darum haben wir ihn auch so schnell wie möglich ins Krankenhaus gefahren. Erst die Ärzte haben uns erzählt, dass der Schuss tödlich war.«

Bei der Obduktion werden ein Einschuss an der Grenze zwischen unbehaarter und behaarter Schläfenhaut rechts und ein Ausschuss links unterhalb der Scheitelhöhe festgestellt. Bei einer Körperlänge von 1,74 Meter liegt die Einschusshöhe bei 1,68 Meter, die Höhe des Ausschusses fünf Zentimeter darüber. Demnach verläuft der Schusskanal im Kopf aufsteigend. Der Obduzent schließt aus der Beschaffenheit der Schusswunde rechts auf einen »absoluten Nahschuss«, der durch den Toten selbst, aber auch durch eine dritte Person gesetzt worden sein kann.

Verdächtig erscheint der Kripo, dass Kurt Schreiner den benutzten Revolver nicht vorlegen kann – die Waffe sei nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus angeblich nicht mehr aufzufinden gewesen. Genauso verdächtig erscheint aber auch, dass die Angehörigen von Jochen Lipp übereinstimmend berichten, dass der junge Mann mit einer gewissen Bettina Görtz liiert gewesen sei, die sich wiederum wenige Wochen zuvor von Norbert Mettbach getrennt habe. Die Mordkommission verdächtigt nun Letzteren, beim »russischen Roulette« die Finger im Spiel gehabt und den Tod des Nebenbuhlers vorsätzlich verursacht zu haben. Das klassische Mordmotiv also: Eifersucht, vielleicht auch Rachsucht. Oder beides.

Unklar hingegen ist den Ermittlern noch die Rolle von Kurt Schreiner, der von Jochen Lipps Tod – soweit erkennbar – nicht profitiert haben dürfte, der aber entweder dafür gesorgt hat, dass der Revolver verschwunden ist, oder aber den Täter deckt. Dass Kurt Schreiner die Kripo tatsächlich belogen hat, stellt sich heraus, als bei einer Durchsuchung in seinem Haus auf dem Dachboden die Tatwaffe gefunden wird, ein Revolver »Orbea«, Kaliber 8 Millimeter. In der Trommel vor dem Lauf befinden sich eine abgeschossene Patronenhülse und rechts daneben eine scharfe Patrone.

Kurt Schreiner muss für seine misslungene und eher dilettantische Vertuschungsaktion einen triftigen Grund gehabt haben. Doch in seiner Vernehmung gibt er sich eher wortkarg und erklärt lediglich, dass er einfach Angst gehabt habe, man könne ihm wegen dieser Sache den Waffenschein entziehen. Darum habe der Revolver »verschwinden müssen«. Und der 47-Jährige hat dabei nicht vergessen, sämtliche Fingerspuren abzuwischen – weil sich auf der Waffe auch die des Täters befunden haben?

Bei einer erneuten Tatortbegehung wird schließlich auch ein Projektil gefunden, das in der Decke des Wohnzimmers steckt. Es handelt sich hierbei nach dem Ergebnis einer vergleichsmikroskopischen Untersuchung zweifelsfrei um die aus der »Orbea« verfeuerte Munition. Dieser Fund beweist indes lediglich, dass Jochen Lipp tatsächlich in der Wohnung erschossen wurde. Wer die Patrone verfeuert hat, bleibt nach wie vor ungewiss.

Nachdem sämtliche Verwandten und Freunde den Getöteten als lebensbejahenden Menschen mit konkreten Lebenszielen beschrieben haben und auch kein Abschiedsbrief vorliegt, schließt die Mordkommission einen Suizid aus. Ein Unglücksfall bei der Handhabung des Revolvers ist nach Einschätzung der meisten Befragten eher unwahrscheinlich. Jochen Lipp habe sich gut mit Waffen ausgekannt und sei im Umgang damit auch ausgesprochen umsichtig gewesen – er war sogar im Besitz eines Waffenscheins. Die Mordhypothese scheint sich weiter zu bestätigen.

Und im Mittelpunkt dieser Untersuchungen steht Norbert Mettbach, dessen Leben jetzt gründlich durchleuchtet wird. Der junge Mann wuchs mit zwei älteren Schwestern auf. Sie lebten zunächst in einem Stadtteil von Heilbronn, in dem überwiegend sozial schwache Familien sesshaft waren. Der Vater war gelernter Korb- und Stuhlmeister. Er arbeitete jedoch in den vergangenen Jahren im mütterlichen Betrieb mit, der im Wesentlichen Kleintransporte und Entrümpelungen anbot. Mit den Einnahmen aus diesen Tätigkeiten und der Rente des Vaters war die Familie schließlich in der Lage, ein Zweifamilienhaus zu erwerben. Durch den Umzug gelang es auch, sich aus den bisherigen belastenden sozialen Verhältnissen zu lösen. In dem neuen Domizil lebten sämtliche Familienmitglieder, zu denen auch die Enkelkinder, ein Großvater und eine Schwägerin zählten, zusammen.

Norbert Mettbach besuchte die Hauptschule und verließ diese nach der neunten Klasse mit einem miserablen Abgangszeugnis. Er fühlte sich aufgrund seiner Herkunft von den Lehrern diskriminiert. In den folgenden zwei Jahren nahm er an einer Berufsförderungsmaßnahme teil, ohne einen Abschluss zu erreichen. Danach machte er sich selbstständig und zog als Scherenschleifer von Haushalt zu Haushalt; nur war er mit dieser Tätigkeit wenig erfolgreich. Schließlich ging er auf das Angebot seines Vaters ein, ebenfalls im Betrieb der Großmutter zu arbeiten.

Bis hierhin ein eher unscheinbarer Lebenslauf, der weder eine kriminelle Vorgeschichte noch eine derartige Neigung erkennen lässt. Diese Annahme müssen die Ermittler jedoch revidieren, als Bettina Görtz vernommen wird, die ehemalige Freundin des Verdächtigen. »Anfangs war er nett und zuvorkommend«, erzählt die junge Frau der Kripo, »aber schon nach kurzer Zeit wurde er extrem eifersüchtig, obwohl ich ihm keinen Grund dazu gab. Er durchwühlte meine Sachen, fragte ständig, wo ich gewesen sei. Ich kann Ihnen sagen, das war die Hölle.« Und dann fügt die Zeugin noch ungefragt hinzu: »Dass ich vor Kurzem mit Jochen zusammengekommen bin, hat ihn rasend gemacht. Ständig hat er mich angerufen oder vor meiner Wohnung gestanden. Das war so schlimm, dass ich kurz davor war, zur Polizei zu gehen.«

Auch diese Aussage ist kein Beweis dafür, dass Norbert Mettbach ein Mörder aus Leidenschaft ist, doch scheint sich die Indizienkette allmählich zu schließen. Der verschmähte Liebhaber hätte ein aus seiner Sicht durchaus plausibles Motiv gehabt, und er hat nur etwa zwei Meter von Jochen Lipp entfernt gestanden, als der tödliche Schuss gefallen ist. Da auch in den nächsten Tagen die Verdachtslage nach weiteren Zeugenvernehmungen nicht verbessert werden kann, wird Norbert Mettbach frühmorgens von zu Hause abgeholt und ins Präsidium gebracht.

»Okay, ich gebe es zu«, beginnt er nach längeren Vorhaltungen seine Aussage. »Ja, ich war sehr traurig darüber, dass mich Bettina verlassen hat, und ich war auch sauer auf Jochen, dass er sich ausgerechnet meine Ex ausgesucht hat – wie hätten Sie das denn gefunden?« Die Ermittler lassen diese Frage unbeantwortet und möchten vielmehr wissen, wer denn auf die Idee gekommen sei, den Revolver verschwinden zu lassen. »Das wissen Sie doch schon«, gibt der Verdächtige zurück, »der Kurt hat kalte Füße bekommen. Er hatte Schiss, dass man ihm den Waffenschein abnimmt. Mir war das im Prinzip egal, weil ich mir nichts vorzuwerfen hatte. Und vergessen Sie bitte nicht, dass wir nach der Sache total unter Schock standen!« Nach einer Dreiviertelstunde versuchen die Vernehmungsbeamten, Norbert Mettbach seine missliche Lage zu verdeutlichen, und appellieren mehrfach an sein Gewissen, doch endlich die ganze Geschichte zu erzählen. Allein die Angehörigen des Getöteten hätten ein Recht darauf, die volle Wahrheit zu erfahren. Doch der Verdächtige lässt sich kein Geständnis abringen, auch nicht, als die Beamten bestimmter und deutlich lauter werden. Da die Beweislage für einen Untersuchungshaftbefehl nicht ausreichend ist, darf Norbert Mettbach das Präsidium als freier Mann verlassen.

Zwei Tage später kommt die Mutter von Jochen Lipp zur Mordkommission und übergibt den Ermittlern einen abgegriffenen Kriminalroman mit dem Titel Der lachende Tod, den sie kurz zuvor beim Aufräumen gefunden habe. Sie sagt zu den Beamten: »Auf den Seiten 21 und 22 hat mein Sohn eine ganz bestimmte Textstelle markiert. Lesen Sie mal. Ich denke, das könnte Ihnen helfen. Das kann doch kein Zufall sein.«

Die verblüfften Ermittler wissen nicht so recht, was sie von dem merkwürdig anmutenden Auftritt der Frau halten sollen, schlagen aber sofort nach. An der angegebenen Stelle, die mit gelbem Textmarker eingerahmt ist, ist von einem »großen Augenblick« die Rede, in dem der Protagonist Slade seinen Revolver kreisen lässt und brüllt: »Ich möchte Ihnen heute die Freude machen, mein russisches Roulettespielchen zu verfolgen.« Daraufhin richtet er die Waffe gegen seine Stirn und betätigt den Abzug. Doch: »Außer einem dumpfen Klicken passierte natürlich nichts.«

Tatsächlich sind die Parallelen dieser Textpassage zum tödlichen Geschehen in Kurt Schreiners Wohnung unübersehbar. Zu der Annahme, dass sich Jochen Lipp von der Romanpassage inspirieren ließ und dabei einem simplen Denkfehler zum Opfer gefallen sein könnte, passt auch die bislang eher nachrangige Erkenntnis, dass sich die Walze des Revolvers »Orbea« nach links dreht – und nicht, wie möglicherweise angenommen, nach rechts. Hat Jochen Lipp in dem Glauben abgedrückt, der Schlagbolzen würde lediglich auf eine leere Patronenkammer treffen? Um dieser durchaus plausiblen Hypothese nachzugehen, wird die Tatwaffe dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden übersandt. Die dortigen Experten sollen mitteilen, wie viele Waffen auf dem Markt existieren, bei denen sich die Walze nach links dreht.

Aus dem einige Tage später vorliegenden Antwortschreiben geht hervor, dass sich die Trommeln von 100 aus der dortigen Waffensammlung untersuchten Revolvern bei 77 nach rechts, also vom Schützen aus gesehen im Uhrzeigersinn, drehen. Auch die tägliche Praxis bei der Begutachtung von Schusswaffen zeige immer wieder, dass die nach rechts drehenden Modelle deutlich überwiegen würden.

Die Ermittler ziehen nun in Betracht, dass Jochen Lipp möglicherweise gar nicht gewusst haben könnte, dass es auch Revolver gibt, bei denen sich die Walze nach links dreht. Hat er sich also tatsächlich versehentlich umgebracht? Dazu passt jedenfalls, dass es sich um einen absoluten Nahschuss mit aufsteigendem Schusswinkel gehandelt hat. Zudem stimmt die gedachte Linie von Jochen Lipps Standort bis zu der Stelle in der Zimmerdecke überein, an der man das Projektil gefunden hat.

Nach Abwägung aller Umstände rückt die Kripo schließlich von der Mordversion ab und favorisiert nun folgenden Tatablauf: Jochen Lipp nimmt den Revolver in die Hand, nachdem Norbert Mettbach die Waffe nur kurz betrachtet und wieder beiseitegelegt hat. In einem Anflug von Imponiergehabe und inspiriert von der Lektüre des besagten Kriminalromans schwadroniert Jochen Lipp über russisches Roulette. Norbert Mettbach geht auf das Gerede seines Freundes nicht ein und ermahnt diesen, es nicht darauf anzulegen. Jochen Lipp beschäftigt sich jedoch weiter mit der Waffe in dem Bewusstsein, dass sich in der Walze zwei Patronen befinden. Das hat Kurt Schreiner zuvor mitgeteilt, und dies lässt sich auch durch bloße Inaugenscheinnahme feststellen, ohne die Walze herausschwenken zu müssen. Jochen Lipp hält sich die Waffe an den Kopf – wahrscheinlich spielt die alkoholische Beeinflussung von 0,68 Promille auch eine enthemmende Rolle –, spannt den Hahn und drückt ab. Ein fataler Irrtum. Hätte sich die Trommel wie angenommen nach rechts gedreht, würde Jochen Lipp noch leben.