Ermittlungszeitraum: Juni 1957
Im Dreiländereck zwischen Österreich, der Schweiz und Deutschland liegt der Kurort Weiler. Die 6500-Seelen-Gemeinde ist eingebettet in sattgrüne Wiesen, Weiden und Wälder des idyllischen Rothachtals. Das Kurhotel »Olympia« liegt im Stadtteil Ellhofen in der Nähe der Fußgängerzone und hat 68 Zimmer mit insgesamt 94 Betten. Am 16. Juni findet eine Reinigungskraft beim morgendlichen Putzen in einem dieser Betten die Leiche eines Mannes. Das Merkwürdige an der Sache: Zimmer 63 ist gar nicht vermietet gewesen, jedenfalls existieren keine Aufzeichnungen.
Zwei Beamte des 1. Kommissariats der Kripo Lindau, unter anderem zuständig für die Gemeinde Weiler, sind eine Dreiviertelstunde später am Tatort, einem Doppelzimmer im zweiten Stock. Auf dem Bett finden sie eine auf der linken Seite liegende, vollständig entkleidete männliche Leiche. Das Alter des Verstorbenen wird auf 45 bis 55 Jahre geschätzt. Das rechte Auge ist geschlossen, während das linke geöffnet ist und einen gläsernen Blick erkennen lässt. Anhand der Totenflecken können die Beamten feststellen, dass der Tod bereits vor mehreren Stunden eingetreten sein muss.
Das Bett ist zerwühlt, die Jacke des Unbekannten hängt über der Stuhllehne, der Hosengürtel liegt auf dem Tisch. Hemd, Unterhemd, Hose und Unterhose sind bügelglatt auf dem Sofa ausgebreitet. Das Badezimmer ist anscheinend benutzt worden, da die Handtücher teilweise klamm sind und neben dem Waschbecken liegen. In der Jackentasche finden die Kripobeamten eine Armbanduhr und Münzgeld, insgesamt 5 Mark und 34 Pfennig.
Dass es sich in diesem Fall um ein Kapitalverbrechen handeln dürfte, schlussfolgern die Beamten aus dem Fehlen der Brieftasche des Toten samt seinen Personalpapieren und dem bittersüßen Mandelgeruch, der im Bereich des Kopfes wahrnehmbar ist. Möglicherweise ist der Mann vergiftet und anschließend beraubt worden. Zu dieser Annahme passt auch, dass es offenbar keine Kampfhandlungen gegeben hat, der Körper des Toten ist äußerlich vollkommen unversehrt.
Aus diesen Gründen wird Verstärkung angefordert und eine Mordkommission gebildet. Aufgrund der Markenkleidung, die der Tote getragen hat, und der in der Jacke gefundenen »Breitling«, einer teuren Armbanduhr, vermuten die Ermittler, dass der Mann durchaus vermögend war und einen hohen sozialen Status hatte. Dafür sprechen auch seine gepflegten Hände und die modisch geschnittenen, nach hinten gekämmten, grau melierten Haare.
Auf dem Bettlaken finden die Beamten eine getrocknete Substanz, die sie nach Lage, Form und Farbe für Sperma halten. Dass während der Tat eine Frau zugegen gewesen sein muss, verrät der Lippenstift an einem der zwei benutzten Weingläser, die auf dem Tisch stehen. Beide Gläser riechen unverdächtig. Fingerspuren wurden an dem Glas mit dem Lippenstift abgewischt. Nach Messung der Körpertemperatur schätzt man, dass der Tod zwischen 2 und 3 Uhr morgens eingetreten ist. Die Identität des Toten kann zunächst nicht geklärt werden, da keiner der Hotelangestellten den Mann bemerkt haben will, der am vorherigen Tag frühestens in den späten Abendstunden in das Zimmer gelangt ist. Auch die unmittelbaren Zimmernachbarn haben nichts gehört oder gesehen.
Das Rätsel der unbemerkten Ankunft des Toten löst sich erst, als der Mordkommission mitgeteilt wird, dass der Nachtportier einen Tag Urlaub genommen und das Hotel bereits frühmorgens verlassen habe. Wegen eines Kommunikationsproblems sei der ominöse Gast namentlich nicht erfasst worden. Der betreffende Rezeptionist erzählt den Ermittlern, dass Zimmer 63 in der vergangenen Nacht gegen 2 Uhr telefonisch vorbestellt worden sei. Eine halbe Stunde später habe er einen Herrn und eine Dame auf das Zimmer gebracht. Die Vermietung sei von ihm beim Schichtwechsel versehentlich nicht gemeldet worden, sodass man im Hotel nichts davon mitbekommen habe. Auf die Feststellung der Personalien habe er verzichtet, da der Preis direkt beglichen worden sei und er ein ungewöhnlich üppiges Trinkgeld bekommen habe.
Zu dem Pärchen befragt gibt der Zeuge zu Protokoll, dass er den Eindruck gewonnen habe, als hätten sich die Gäste nahegestanden. Sie seien bester Laune gewesen und hätten viel gescherzt. Übermäßigen Alkoholkonsum habe er nicht feststellen können. Die Frau beschreibt er folgendermaßen: etwa 40 Jahre alt, zwischen 1,65 Meter und 1,70 Meter groß, vollschlank, dunkelblondes Haar – vermutlich eine Perücke, hochhackige Schuhe, auffallend elegant gekleidet mit einem roten Rock und einem schwarzen Mantel. Mehr hat der Zeuge nicht erkennen können.
Misstrauisch macht die Beamten, dass der Rezeptionist nicht mitbekommen haben will, wie die Frau aus dem Hotel hinausgelangt ist. Angeblich habe er den Eingangsbereich nur zweimal unbeaufsichtigt gelassen, um zur Toilette zu gehen. Doch auch während seiner Abwesenheit habe niemand das Hotel unbemerkt betreten oder verlassen können, da die Eingangstür nach 23 Uhr stets verschlossen sei, so auch in der vergangenen Nacht. Wenn es tatsächlich so gewesen ist, dann müsste die Frau aus 2,90 Meter Höhe auf die Straße gesprungen sein. Allerdings steht kein infrage kommendes Fenster offen. Ist die Frau vielleicht noch im Hotel? Zwei Beamte beginnen daraufhin in Begleitung einer Angestellten damit, jedes Zimmer aufzusuchen und die Personalien aller weiblichen Gäste festzuhalten, die der Beschreibung der Unbekannten auch nur entfernt nahekommen.
Bei diesen Nachforschungen berichtet ein älterer Herr den Kommissaren, in der Nacht gegen 3.15 Uhr gesehen zu haben, wie auf dem Parkplatz des Hotels ein Wagen gestartet worden und weggefahren sei. Er habe das von seinem Fenster aus beobachtet, jedoch nur noch erkennen können, dass es sich bei dem Auto um einen dunklen Sportwagen gehandelt habe. Kennzeichen, Marke und Farbe seien aus der großen Entfernung nicht zu erkennen gewesen.
Nach Einschätzung der Kripo dürfte der Tote, sollte es sich um einen Kurgast handeln, längerfristig in einer anderen Pension logiert haben. Deshalb wird in sämtlichen Hotels der Region nachgefragt, ob ein männlicher Gast vermisst wird. Im Kurhotel »Chiemgau« in Simmerberg bringt man schließlich in Erfahrung, dass dort seit anderthalb Wochen ein gewisser Fred Löhnert untergebracht und bisher nicht zurückgekehrt ist, obwohl das Zimmer noch für weitere vier Tage im Voraus bezahlt wurde. Der 49-Jährige ist nach Angaben des Hotelmanagers verheiratet, von Beruf Kaufmann und betreibt in München eine Textilfirma.
Zwei Kriminalbeamte eilen nach Simmerberg und durchsuchen das Hotelzimmer des Vermissten. Dort finden sie auch einen erst kürzlich ausgestellten Reisepass. Dem Foto nach zu urteilen sind der verschwundene Hotelgast und die männliche Leiche dieselbe Person. Außerdem entdecken die Fahnder auf dem Nachttisch einen Zettel, auf dem handschriftlich vermerkt wurde: »Vera, Sandmühle, 3410«. Vielleicht handelt es sich bei »Vera« um die Blondine, nach der händeringend gesucht wird.
Schnell bekommen die Ermittler heraus, dass es in Ellhofen ein Hotel »Sandmühle« gibt, die Telefonnummer stimmt mit der auf dem Zettel überein. Zwei Kommissare fahren zum Hotel und erfahren dort, dass seit sechs Tagen eine Frau mit blonden Haaren, die einen roten Sportwagen fährt, im Zimmer 34 untergebracht ist. Ihr Name lautet nach Auskunft der Rezeption Vera Manteuffel. Allerdings ist die Dame der Angabe ihres Geburtsdatums zufolge 62 Jahre alt. Dieses Alter passt indes nicht zu der Beschreibung, die der Nachtportier im »Olympia« abgegeben hat, wonach die weibliche Begleitung des Toten wesentlich jünger gewesen sein soll.
Als wenig später Vera Manteuffel den Ermittlern die Tür ihres Zimmers öffnet, wird schnell klar, dass man auf der richtigen Spur ist. Die Frau ist ihrem Personalausweis zufolge tatsächlich 62 Jahre alt, nur sieht sie aus wie eine etwa 40-Jährige. Vera Manteuffel erklärt sich spontan bereit, eine Durchsuchung ihres Zimmers und ihres Wagens freiwillig über sich ergehen zu lassen und anschließend die nächste Polizeidienststelle aufzusuchen, um dort vernommen zu werden – auch wenn der Frau ins Gesicht geschrieben steht, dass ihr die Angelegenheit höchst unangenehm ist.
Bei der Durchsuchung des Hotelzimmers und des Sportwagens der Verdächtigen kann man nichts Belastendes finden. Auch erste Recherchen zu den Lebensumständen der Frau führen zu keinem anderen Ergebnis: Die Schmuckhändlerin ist seit vier Jahren verwitwet, wohnt am Starnberger See in einer Villa und steht finanziell glänzend da. Kriminalpolizeilich ist sie bisher nicht in Erscheinung getreten. Vera Manteuffel erzählt den Kommissaren schließlich, dass sie Fred Löhnert vor einigen Tagen in einer Bar kennengelernt habe. Gestern Abend haben sie sich in einem Restaurant getroffen und dort bis 22 Uhr zusammen gegessen. Während sie nur ein Glas Wein getrunken habe, sei es bei ihrem Bekannten ungefähr eine drei viertel Flasche gewesen. Man habe sich glänzend unterhalten, sie habe Fred Löhnert wegen seiner charmanten und offenen Art sehr sympathisch gefunden. Und weil er ihr treuherzig versichert habe, nicht verheiratet zu sein, habe sie sich ein Abenteuer mit diesem attraktiven Mann vorstellen können, vielleicht auch eine Beziehung.
Nach dem Essen sei man in eine Hotelbar gegangen und habe dort weitergetrunken und auch getanzt. Zu vorgerückter Stunde habe Fred Löhnert von der Bar aus das besagte Doppelzimmer reserviert, allerdings ohne ihr etwas davon zu sagen. Sie sei ganz erstaunt gewesen, als beim Verlassen der Bar vor dem Hotel bereits ein Taxi gewartet habe. Schließlich sei sie eingestiegen und mit zum Hotel »Olympia« gefahren. Fred Löhnert habe dort das Zimmer bezahlt und dem Nachtportier 50 Mark Trinkgeld gegeben. Ihre Personalien seien vom Hotelpersonal nicht festgehalten worden.
Fred Löhnert habe aus der Minibar eine Flasche Wein genommen und eingeschenkt. Man habe angestoßen und sei sich nähergekommen. Ihr neuer Freund habe sich wenig später ausgezogen und sei sehr erregt gewesen – schon beim Schmusen habe er eine vorzeitige Ejakulation gehabt und noch währenddessen oder kurz danach einen Herzinfarkt erlitten. Sie habe dies an der völligen Erschlaffung des Körpers erkannt, zudem sei ihm im hohen Bogen Urin abgegangen. Außerdem habe Fred Löhnert einen starren Blick bekommen und sich nicht mehr bewegt. Als sie realisiert habe, dass der Mann tot ist, habe sie kopflos reagiert, Rock und Mantel angezogen, ihr Weinglas abgewischt – warum, könne sie gar nicht sagen, vielleicht, weil sie einfach Angst gehabt habe, man könne ihr einen Vorwurf machen – und sei aus dem Zimmer gelaufen. Da die Eingangstür des Hotels verschlossen und der Nachtportier nicht zu erreichen gewesen sei, habe sie sich kurzerhand entschlossen, durch das Fenster des Speisesaals im Hochparterre zu verschwinden. Und genau so habe sie es auch gemacht. Anschließend sei sie zu Fuß zurück zu ihrem Hotel gelaufen.
Die Beamten fragen nach, wo das Portemonnaie des Toten geblieben sei, ob sie es vielleicht eingesteckt haben könnte. »Nein! Sie haben doch mein Zimmer und meine Sachen durchwühlt, und Sie haben nichts gefunden!«, empört sich Vera Manteuffel. »Sie wollen doch wohl nicht ernsthaft annehmen, ich hätte dem armen Kerl nach seinem Tod auch noch die Brieftasche gestohlen. Für wen halten Sie mich!« Abschließend wird Vera Manteuffel gefragt, ob sie sich in der letzten Zeit Blausäure verschafft habe. »Ich verstehe die Frage nicht ganz …«, gibt sie zurück. Vera Manteuffel wird darauf mitgeteilt, dass es im Kopfbereich des Leichnams bittersüß nach Mandeln gerochen habe – ein Indiz für eine Vergiftung mit Blausäure. »Jetzt werden Sie mal nicht unverschämt!« Nach einem Moment des Schweigens ergänzt die Frau: »Ich weiß, was Sie meinen, nur hat das nichts mit Blausäure zu tun. Seine Rasierseife hat nach Mandeln gerochen. Das ist mir auch aufgefallen.«
Die Aussagen der Verdächtigen sind insgesamt widerspruchsfrei und können spontan nicht widerlegt werden. Deshalb darf Vera Manteuffel die Polizeiwache wieder verlassen. Bei Nachforschungen im Hotelzimmer des Toten, das er seit seiner Ankunft in Simmerberg benutzt hat, finden die Ermittler wenig später eine Tube »Valobra Crema di sapone purissima«. Dabei handelt es sich um eine italienische Weichrasierseife, die tatsächlich stark nach Mandeln duftet.
Außerdem erfährt die Kripo vom Hausarzt des Verstorbenen, dass diesem wegen eines chronischen Herzleidens vor zwei Wochen das Mittel »Nitrolingual« verschrieben worden sei, ein schnell und kurzzeitig wirksames Präparat, das eine Erweiterung der Koronararterien bewirke. Auf Nachfrage erklärt der Internist, dass herzkranke Menschen beim Geschlechtsverkehr üblicherweise keinen besonderen Gefahren ausgesetzt seien, da der Puls auf maximal 120 Schläge pro Minute ansteige. Das Risiko für Herzpatienten, beim Sex einen Infarkt zu bekommen, liege bei 1,5 Prozent und sei damit äußerst gering. Allerdings könne diese Aussage nicht für außereheliche sexuelle Aktivitäten gelten, da die Patienten in diesen Fällen besonders hohem Stress ausgesetzt seien.
Vera Manteuffel hat in ihrer Vernehmung von einer »hochgradigen Erregung« des Toten gesprochen, das Spurenbild auf dem Bett stützt diese Aussage. Zudem ist Fred Löhnert durch die Herzerkrankung und sein Fremdgehen zweifelsohne besonders infarktgefährdet gewesen. Auch erscheint es durchaus möglich, dass in der fraglichen Nacht nicht Vera Manteuffels Sportwagen den Parkplatz des Hotels verlassen hat, sondern ein anderer, der eben – wie vom Zeugen angegeben – wirklich »dunkel« und nicht rot gewesen ist. Diese neuen Erkenntnisse bewegen die Kripo letztlich zu der Annahme, dass kein Verbrechen vorliegt. Wenn da nicht noch das fehlende Portemonnaie wäre.
Und bei diesem Gedanken erinnern sich die Ermittler an einen kriminalistischen Erfahrungssatz, der bei den mit Hochdruck betriebenen Untersuchungen bislang vernachlässigt wurde: Wer die Leiche findet, ist immer verdächtig. Also wird die Umkleide der Putzfrau durchsucht, die den Toten entdeckt hat, und die Ermittler finden dort tatsächlich das Corpus Delicti. Die 28-Jährige räumt den Diebstahl sofort ein und begründet diesen mit erheblichen finanziellen Nöten und der sich plötzlich bietenden Gelegenheit.
Die Witwe des Verstorbenen traut dem Ermittlungsergebnis nicht und lässt den Leichnam auf eigene Kosten obduzieren. Das Resultat der Untersuchung bestätigt jedoch die Annahmen der Kripo: »Plötzlicher Herztod bei Vorerkrankung infolge ungewöhnlicher sexueller Erregung«, heißt es im Gutachten zur Todesursache – der Schlussakt in einem vermeintlichen Mordfall, der sich als einfacher Diebstahl entpuppt.