Ermittlungszeitraum: November 1946–Mai 1957
Zum Jahreswechsel werden beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg in Stuttgart turnusmäßig sämtliche Vermisstenvorgänge hervorgeholt und überprüft, die als ungeklärt gelten. Cold-Case-Management. Unter diesen Fällen ist auch der des Gregor Büttgenbach. So viel ist bisher bekannt: Der damals 12-Jährige wurde in den Abendstunden des 12. November 1946 von seiner Stiefmutter zu einem benachbarten Bauern geschickt, um Milch zu holen. Der Junge kehrte jedoch nicht zurück und blieb unauffindbar.
Bei der Wiederaufnahme der Ermittlungen stellt man fest, dass Wilhelm Büttgenbach, der Vater des Kindes, erst zweieinhalb Wochen nach dem Verschwinden die Polizei informierte. Außerdem steht in den Akten, dass der Junge von seinem Vater häufig schwer misshandelt wurde. Die Stiefmutter sagte aus, Gregor habe an dem fraglichen Abend die Wohnung mit Schuhen und Strümpfen verlassen. Eine ältere Frau will jedoch später gesehen haben, wie der Junge barfuß durch das Dorf gelaufen sei. Die Fußbekleidung wurde einige Tage darauf im Vorraum einer Scheune gefunden. Der Vater, so berichteten Zeugen, habe nach dem Verschwinden des Sohnes keine Anzeichen von Erschütterung oder Trauer gezeigt. Vielmehr soll er sinngemäß gesagt haben, dass er nun eine Sorge los sei.
Bei der Suche nach dem Vermissten fand die Kripo etwa zwei Kilometer vom Elternhaus entfernt die Jacke des Kindes, 16 Meter neben einem Waldweg unter Sträuchern versteckt. Es handelte sich um einen befestigten Weg, von dem aus das Gelände gut eingesehen werden konnte, da der Baumbestand noch nicht sehr dicht war. In einem nahe gelegenen Wasserabflussgraben entdeckte man noch einen Beutel, in dem der Junge die Milch transportieren sollte.
Aufgrund des Tatortbefundes und seines auffälligen Verhaltens gerät der Vater in Verdacht, seinen Sohn getötet und die Leiche anschließend entsorgt zu haben. In diese Richtung weisen auch die Angaben der Stiefmutter, die inzwischen von Wilhelm Büttgenbach getrennt lebt und bei einer Vernehmung erklärt, dass ihr die Sache schon damals komisch vorgekommen sei. Sie habe ihren Mann jedoch nicht belasten wollen. Merkwürdig sei gewesen, dass ihr Gatte kurz nach seinem Sohn die Wohnung verlassen habe und erst vier Stunden später mit verdreckter Kleidung zurückgekehrt sei. Zudem habe ihr Mann nicht sagen wollen, wo er sich in der Zwischenzeit aufgehalten und was er gemacht habe. Allerdings sei er während ihrer Ehe insgesamt sehr verschlossen gewesen. Sie habe sich schließlich von ihm getrennt, weil sie seine heftigen Wutausbrüche und die unbegründeten Eifersüchteleien nicht mehr länger habe ertragen können.
Da mittlerweile mehr als zehn Jahre vergangen sind, erscheinen Tatortermittlungen und Zeugenbefragungen erfahrungsgemäß wenig sinnvoll. Aus diesem Grund entscheiden die Ermittler, Wilhelm Büttgenbach ausfindig zu machen und zu vernehmen. Dies gelingt wider Erwarten sehr schnell, da der mehrfach vorbestrafte 42-Jährige in Norddeutschland eine Haftstrafe wegen gewerbsmäßigen Betruges absitzt.
Nach gründlicher Vorbereitung suchen zwei Kriminalbeamte Wilhelm Büttgenbach in der Justizvollzugsanstalt auf. Schon vor Beginn der Vernehmung fällt ihnen die Unruhe des korpulenten 1,95-Meter-Hünen auf. Die Beamten fordern ihn auf, sie bei der Aufklärung des Verschwindens seines Sohnes zu unterstützen. Er sei schließlich der Vater und zudem verdächtig, mit dem Fall zu tun zu haben. Wilhelm Büttgenbach äußert Verständnis und beteuert, genau dies tun zu wollen, er leide seitdem selbst »Höllenqualen«. Der Mann gibt zu Protokoll, dass es mit seinem Sohn jahrelang erhebliche Schwierigkeiten gegeben habe, weil der Junge aufmüpfig gewesen sei und seine Stiefmutter abgelehnt habe. Immer wieder sei man aneinandergeraten, sodass ihm auch mal die Hand ausgerutscht sei.
»An dem besagten Abend hat meine Frau den Jungen Milch holen geschickt«, berichtet der Verdächtige weiter. »Als er auch nach Stunden nicht zurückgekommen ist, habe ich mich auf die Suche gemacht … Allerdings ohne Erfolg.« Die dreckige Kleidung nach seiner Rückkehr erklärt Wilhelm Büttgenbach mit der akribischen Suche im unwegsamen und schlammigen Gelände. Auf den Vorwurf, er habe sich Zeugen gegenüber vom Verschwinden des Sohnes wenig beeindruckt gezeigt und von »Problemlösung« gesprochen, erklärt der Mann: »Da hat man mich wohl missverstanden«. Außerdem zähle er sich zu den Menschen, die mit ihren Problemen nicht hausieren gehen. Auch wenn Wilhelm Büttgenbach jede Beteiligung abstreitet, erweckt er durch sein fahriges und sprunghaftes Verhalten den Eindruck, als würde er etwas verheimlichen.
Am nächsten Tag bestätigt sich die Vermutung der Kripobeamten, als Wilhelm Büttgenbach nach einer kurzen Vorbesprechung um Unterbrechung der Vernehmung bittet. Er sei nunmehr bereit, die volle Wahrheit zu sagen. Unter fortwährendem Schlucken, Rotwerden und mehreren Weinkrämpfen schildert er schließlich, dass er Gregor an diesem Abend schwer misshandelt habe. Er sei ihm nachgegangen und habe gesehen, wie der Junge über einen Feldweg in den Wald gelaufen sei. Bei der Verfolgung habe er den Sohn nach einem Sturz aus den Augen verloren. Trotzdem habe er die Suche fortgesetzt und Gregor wenig später in der Nähe eines Baches in einer Wiesenmulde gefunden – tot. Nach längerem Überlegen habe er entschieden, den Leichnam in einem Kanal verschwinden zu lassen, weil er geglaubt habe, sonst selbst in Verdacht zu geraten.
Mehr will Wilhelm Büttgenbach nicht sagen. Die Beamten sind skeptisch und fragen den Mann, warum er das Geständnis so flüssig und klar habe ablegen können. Der Verdächtige erklärt, dass er sich jahrelang mit seiner Schuld auseinandergesetzt habe und jetzt den Wunsch verspüre, diese quälende Gewissensnot loszuwerden. Da er seine Tat zutiefst bereue, werde er auch bei allen weiteren Vernehmungen wahrheitsgemäß aussagen. Die erfahrenen Beamten ermahnen Wilhelm Büttgenbach nochmals, sie nicht hinters Licht zu führen. »Sehen Sie«, gibt er darauf zurück, »mein Geständnis beruht in allen Punkten auf der Wahrheit. Ich habe ja auch keinen Grund zu lügen, denn für die Beseitigung der Leiche bekomme ich, wenn überhaupt, doch nur eine Strafe, die ich auf einer Backe absitzen kann. Glauben Sie nur nicht, dass mich die Polizei reinlegen kann!«
Die vernehmenden Kommissare zweifeln dennoch am Wahrheitsgehalt der Aussagen. Allerdings halten sie eine weitere Befragung zu Einzelheiten des Tatablaufs aus taktischen Gründen für unzweckmäßig. Sie brechen die Vernehmung ab und leiten Wilhelm Büttgenbachs Überführung nach Baden-Württemberg ein. Gegenüber dem Ermittlungsrichter wiederholt der Mann sein Geständnis.
Drei Tage später wird Wilhelm Büttgenbach in die Justizvollzugsanstalt Schwäbisch-Gmünd überstellt. Auch dort berichtet er dem Haftrichter, dass er für den Tod seines Sohnes nicht verantwortlich sei, er habe lediglich die Leiche versteckt. Beamte der Mordkommission holen den Mann daraufhin aus seiner Zelle und bringen ihn in die Nähe des Tatorts. Dort soll er nochmals den Ablauf der Ereignisse schildern und die Beamten zur Leiche des Kindes bringen. Wilhelm Büttgenbach geht, ohne zu zögern, zu dem besagten Kanal, etwa 100 Meter von einem Waldgebiet entfernt. Dann sagt er: »Hier habe ich die Leiche mit Steinen beschwert und den Körper absinken lassen. Wo das genau gewesen ist, kann ich nicht sagen, das ist schon so lange her.«
Unter Einsatz eines Tauchers wird die von Wilhelm Büttgenbach bezeichnete Stelle abgesucht, doch die Aktion bleibt erfolglos. Man legt daraufhin dem Beschuldigten nahe, seine Aussage nochmals zu überdenken. Und noch am selben Tag widerruft Wilhelm Büttgenbach sein abgelegtes Geständnis und behauptet, über das Verschwinden seines Sohnes gar nichts zu wissen. Allerdings erfolgt schon am nächsten Tag der Widerruf vom Widerruf – seine Angaben bei der Kripo und vor dem Haftrichter seien doch wahr.
Abermals wird Wilhelm Büttgenbach vernommen und bestätigt seine bisherigen Angaben mit dem Zusatz: »Ich bin sicher, dass die Suche an der von mir bezeichneten Stelle zur Auffindung der Leiche führt.« Drei Tage später erklärt er allerdings, dass er die Leiche nach vier bis sechs Tagen aus dem Kanal geholt und in der näheren Umgebung verscharrt habe. Wieder gibt man dem Mann Gelegenheit, seine Angaben zu beweisen. Und er selbst hebt vier Gruben aus – nichts. Ein paar Tage nach dieser Suchaktion widerruft er erneut seine Aussagen, um noch am selben Tag sein wankelmütiges Verhalten zu erklären: Er habe nur dementiert, weil er sich außerstande gefühlt habe, den exakten Ablageort der Leiche zu bezeichnen.
»Es besteht gar kein Zweifel darüber, dass der Junge tot auf einer Koppel in der Nähe des Kanals begraben liegt«, behauptet er nun. »Völlig ausgeschlossen ist auch, dass ich meine Geständnisse erfunden habe und der Junge plötzlich wieder auftaucht und sich bis jetzt irgendwo verborgen gehalten hat. Das Kind war einwandfrei tot. Ich bin lange genug Soldat gewesen, um zu wissen, wann ein Mensch tot ist. Es hätte höchstens sein können, dass das Kind später wieder aus dem Grab krabbelte. Aber das ist dann ja doch wohl ausgeschlossen … Nach der Lage des Kindes in der beschriebenen Mulde möchte ich nicht annehmen, dass es sich etwa das Genick gebrochen hat. Für viel wahrscheinlicher halte ich es, dass der Junge aus Angst so schnell gelaufen ist, dass er einem Herzschlag erlegen ist. Geben Sie mir bitte Bedenkzeit, damit ich genau überlegen kann, wo das Kind begraben ist. Und ich betone noch einmal, dass alle meine Angaben über das Vergraben der Leiche in jeder Form der Wahrheit entsprechen. Ich möchte auch um Nachsicht bitten, wenn ich meine Geständnisse wiederholt widerrufen habe. Meine Nerven spielen mir hin und wieder einen Streich, sodass ich in meiner Ausweglosigkeit die Neigung habe, überhaupt alles zu bestreiten, um von der Polizei nicht mehr vernommen zu werden.«
Die Fahnder nehmen an, dass Wilhelm Büttgenbach nur deshalb das Auffinden der Leiche verhindern will, weil an ihr möglicherweise auch jetzt noch verräterische Verletzungen nachweisbar sind, die ihn in Verlegenheit bringen könnten. Fünf Tage später gibt die Kripo dem Beschuldigten nochmals Gelegenheit, seine Version zu beweisen. Wilhelm Büttgenbach gräbt mit Unterstützung von vier Arbeitslosen an insgesamt 41 Stellen, ohne dabei auf die Leiche seines Sohnes zu stoßen. Anschließend fordert er, die Kripo solle die Nachgrabungen unter allen Umständen und mit allen Mitteln fortsetzen. Zwei Wochen darauf verlangt der Mann indes, nochmals richterlich vernommen zu werden. Dabei behauptet er, alle bisherigen Angaben seien gelogen gewesen, richtig sei vielmehr, dass er seinen Sohn letztmals beim Milchholen gesehen habe. Die Darstellungen über das Vergraben des Leichnams seien frei erfunden.
Mitten in die verworrenen und festgefahrenen Ermittlungen hinein platzt eine Meldung des Deutschen Roten Kreuzes, wonach ein gewisser Gregor Kaufmann aus Minden um Aufenthaltsermittlung seiner Eltern gebeten hat, da er Papiere benötigt, um heiraten zu können. Das Besondere an diesem Ersuchen ist: Die Eltern des jungen Mannes sind Maria und Wilhelm Büttgenbach, und sie haben nur ein Kind – Gregor Büttgenbach, den die Kripo für tot hält, ermordet von seinem eigenen Vater.
Zwei Beamte der Mordkommission eilen nach Minden und stellen überrascht fest, dass es sich bei Gregor Kaufmann tatsächlich um Gregor Büttgenbach handelt. »Ich wollte mich schon länger an eine Behörde wenden, um endlich über meine Vergangenheit zu berichten«, sagt er den Ermittlern. »Ja, ich führe einen falschen Namen, den Mädchennamen meiner Mutter. Das hat mich all die Jahre sehr belastet. Bald will ich heiraten, und da muss ich ja meine Papiere in Ordnung haben. Ich bin froh, dass jetzt jemand zu mir kommt und alles ein Ende hat.«
Dass über ihn eine dicke Vermisstenakte existiert, dass sein Vater in Verdacht geraten ist, ihn getötet zu haben, dass seit Jahren in dieser Sache ermittelt wird – all das weiß Gregor Büttgenbach nicht. Auf das Verhältnis zu seinem Vater angesprochen, sagt der Industrieschlosser: »Ich stand immer zwischen meinem Vater und seinen Frauen. Sehr häufig bekam ich Prügel ohne jeglichen Grund. Sogar nachts holte er mich aus dem Schlaf, und ehe ich mich versehen hatte, erhielt ich schon Schläge. Es war einfach nur schrecklich. Ich habe nach wie vor Angst vor meinem Vater. Ich wünsche keinen Kontakt mehr.«
Weiter gibt Gregor Büttgenbach zu Protokoll, dass seine Stiefmutter ihn an dem fraglichen Abend tatsächlich zum Milchholen geschickt habe. Er habe dann bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit gesehen, vor seinem gewalttätigen Vater zu flüchten. Seine Jacke, Socken und Schuhe habe er ausgezogen und versteckt, um falsche Spuren zu legen. Barfuß und hungrig sei er in die nächste größere Stadt gelaufen und habe sich dort beim Jugendamt unter falschem Namen vorgestellt. Weil er aber befürchtet habe, man könne seinen richtigen Namen herausfinden, sei er wieder geflüchtet. Zeitweise habe er von Betteleien gelebt. Es sei eine abenteuerliche Flucht gewesen, die ihn schließlich bis nach Minden geführt habe. Hier sei er bei der Caritas und danach in einem Waisenhaus untergekommen. Seine wahre Herkunft habe er stets verschwiegen.
Später habe er die Volksschule besucht und anschließend eine Lehre als Industrieschlosser gemacht, erzählt er den Kripobeamten. Auch nachdem er ausgelernt hatte, sei er bei seinem Lehrherrn geblieben, der ihn wie einen eigenen Sohn behandelt habe. Vor einem halben Jahr haben er und seine Freundin beschlossen zu heiraten. Deshalb habe er damit begonnen, seine persönlichen Papiere zusammenzusuchen. Ausweis, Führerschein und Flüchtlingsausweis lauten auf den Namen Gregor Kaufmann. Die Erinnerung an seine Mutter sei überaus positiv gewesen, deswegen habe er sich von Anfang an für ihren Mädchennamen entschieden.
Das Rätsel um den vermissten Jungen ist damit gelöst. Unerklärlich bleibt jedoch, warum sein Vater behauptet hat, seinen Leichnam gefunden und beseitigt zu haben. Letztmalig wird Wilhelm Büttgenbach in dieser Sache vernommen. Der Mann sagt, er wäre durch die polizeilichen Vernehmungen so beeindruckt gewesen, dass es ihm sinnvoll erschienen sei, sich durch ein falsches Geständnis das Wohlwollen von Kripo, Staatsanwaltschaft und Gericht zu erschleichen. Bei der Vielzahl von Indizien, die gegen ihn gesprochen hätten, habe er keine andere Möglichkeit gesehen, eine Anklage wegen Mordes zu vermeiden. Eine Verurteilung wegen der bloßen Beseitigung der Leiche wäre dann das kleinere Übel gewesen.