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Ermittlungszeitraum: April–August 1985

Auf der Terrasse des gepflegten Reihenhauses verbreiten bunte Kugeln, Tierfiguren und Eier aus Gips österliche Stimmung. An der Haustür hängt ein Gesteck mit einer gelben Schleife in der Mitte. Nur der Bagger auf dem umgepflügten Rasen passt nicht ins idyllische Bild. Vor zwei Tagen ist der Hauseigentümer beim Anlegen eines Fischteiches auf Gefäßscherben und Knochenreste gestoßen. Seitdem ruhen die Ausschachtungsarbeiten, dafür lässt nun die Kripo an dieser Stelle buddeln.

Nach und nach kommen immer mehr Knochen zum Vorschein, die größtenteils von einem Menschen stammen, so viel kann der Rechtsmediziner bereits sagen. Die Knochen liegen bis zu einem Meter unter der Erde, lassen sich jedoch nicht zu einem vollständigen Skelett zusammenfügen. Die Funde werden nach Abschluss der Grabungen drei Professoren im Stadtkrankenhaus vorgelegt – der Befund der Experten ist alarmierend und nährt die Vermutung, dass ein Tötungsdelikt vorliegt: »Die Liegezeit der Knochen beträgt zwischen einem und fünf Jahren.«

Da Selbstmord und Unfall als Todesursache ausscheiden, leitet die Mordkommission ein Todesermittlungsverfahren »zum Nachteil unbekannt« ein. Tatsächlich gibt es in der Region eine Reihe von ungelösten Vermisstenfällen, die passen könnten. Möglicherweise wurde das Opfer aber auch weiter entfernt umgebracht und der Leichnam am Fundort lediglich vergraben, mutmaßt die Kripo. Hierfür spricht auch, dass das Grundstück erst vor einigen Jahren bebaut wurde. Vorher war es nach Aussagen verschiedener ortsansässiger Zeugen jahrzehntelang eine wilde Wiese, um die sich niemand kümmerte.

Diese Erkenntnisse veranlassen die Staatsanwaltschaft, den Knochenfund weiter untersuchen zu lassen, diesmal von Spezialisten der Gerichtsmedizin. Die stellen entgegen der ersten Annahme fest, dass die menschlichen Überreste viele Jahre in der Erde gelegen haben müssen. Die Skelettteile sind weitgehend zerstört, wovon besonders ein Teil des Schädels und Fragmente der Wirbelsäule und des Beckens betroffen sind. Dieser Umstand macht es den Gutachtern nahezu unmöglich, Knochenveränderungen zu erkennen, die zweifelsfrei auf eine vitale Gewalteinwirkung hindeuten könnten. Außerdem lässt sich zunächst nicht mit Sicherheit sagen, welches Geschlecht der Leichnam hat.

Bei einer weiteren Grabung werden unter anderem das rechte Schienbein, fast der gesamte linke Arm, eine halbe Beckenschaufel, ein weiterer Teil des Schädels samt Zähnen und der linke Oberschenkelknochen gefunden, der mit einer Länge von 44 Zentimetern als einziges Skelettteil vollständig erhalten geblieben ist. Nach längeren Untersuchungen kommt man zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Opfer wahrscheinlich um eine Frau handelt. Die exakte Festlegung des Lebensalters scheitert an der Diskrepanz zwischen dem Alter der Knochen und dem der Zähne, die starke Abschleifspuren zeigen. Während die Knochenbefunde an eine Person um die 30 denken lassen, deutet der Abnutzungsgrad der Zähne auf jemanden um die 50 hin.

Die Staatsanwaltschaft lässt einen Teilabdruck des Gebisses herstellen und legt diesen 17 Zahnärzten vor, die jedoch übereinstimmend erklären, nie eine Patientin mit solchen Zähnen behandelt zu haben. Ehemalige Grundstücksbesitzer und Nachbarn werden vernommen. Doch niemand kann oder will sachdienliche Hinweise geben, auch wenn sich die Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand darüber wundern, wie die Knochen unbemerkt auf das Grundstück gekommen sein sollen. Um die Identität der Toten aufzuklären, werden auch die Familien aller Vermissten aus der Region befragt. Sogar Interpol wird eingeschaltet – doch nichts, kein Hinweis, das Opfer ist nach wie vor namenlos.

Schließlich bleiben als Erfolg versprechende Beweisstücke ein grünlicher Halsreif, der in Höhe des Schädels gefunden wurde und beim Ausgraben zerbrochen ist, und ein kleiner Knopf. Letzterer wird schon bald als nicht tatrelavant eingestuft, da er aus einer anderen Schuttschicht stammt als das Skelett. Der dünndrahtige Halsring aus Kupferlegierung dagegen wird kurz darauf einem Schmuckhändler gezeigt, der als ausgewiesener Fachmann gilt. Es handele sich eindeutig um Modeschmuck, der lediglich »auf alt getrimmt« worden sei, urteilt der Mann. Wahrscheinlich stamme der Halsreif aus Südamerika, Asien oder Afrika, der von dort aus nach Europa exportiert und hauptsächlich in Frankreich verkauft werde.

Zu einem ähnlichen Ergebnis führen Untersuchungen des Halsrings beim Landeskriminalamt. Analysen ergeben, dass der Ring größtenteils aus Kupfer besteht, jedoch auch geringe Mengen Blei und Eisen nachweisbar sind. Zudem wird bestätigt, dass der 12 Zentimeter breite Halsreif künstlich oxidiert und wahrscheinlich als Modeschmuck verkauft wurde. Das Alter des Beweisstücks können die Experten derzeit aber nicht einschätzen.

Unterdessen machen im Dorf allerlei Gerüchte die Runde. So erfährt die Kripo auch, dass vor Jahren eine junge Frau unter mysteriösen Umständen verschwunden ist, angeblich nach Südafrika. Weil es sich durchaus um das Opfer handeln könnte, wird die Auslandsabteilung des Bundeskriminalamtes bemüht. Von dort aus schaltet man den zuständigen Kontaktbeamten in Südafrika ein, der bereits einige Tage später Entwarnung gibt: Die Frau ist wohlauf. Damit wurden alle kriminalistischen Möglichkeiten und kriminaltechnischen Methoden ausgeschöpft, die Akte wird geschlossen.

Erst Monate später hört ein junger Polizeiobermeister, der ehrenamtlich als Bodendenkmalpfleger tätig ist und sich mit historischen Funden bestens auskennt, von der ungeklärten Leichensache 1 UJs 26488/85. Und nachdem er sich mit den ausgegrabenen Utensilien, insbesondere dem Halsreif, vertraut gemacht hat, glaubt er die Lösung des bislang so undurchsichtigen Falls zu kennen. Ein genauer Blick auf den Reif und der Vergleich mit den gefundenen Glasscherben zeigen dem Polizisten, dass derartige Halsringe in der späten Hallstattzeit – ein Abschnitt der Eisenzeit –, vereinzelt aber auch noch zu Beginn der La-Tène-Zeit getragen wurden. Und ihm sind zahlreiche solcher Entdeckungen in der näheren und weiteren Umgebung des Knochenfundortes bekannt. Die Form des Halsreifs ist ein Vorläufer des keltischen »Torques«. Demnach ist nicht der Tatort eines Verbrechens gefunden, sondern ein uraltes keltisches Grab ausgehoben worden. Und die gefundenen Gefäßscherben sind Reste eines Kegelhalsbehältnisses mit Kerbleistendekor, wie es zu jener Zeit als Grabbeigabe mit unter die Erde kam. Das Alter der Leiche kann somit grob eingeschätzt werden: 2500 Jahre.

Wie es dazu kommen konnte, dass gleich mehrere Experten gründlich irrten, erklärt der Polizeiobermeister später in einem Fachaufsatz. Dort schreibt er unter anderem: »So haben sich trotz Hinzuziehung ›gewichtiger‹ Sachverständiger aufgrund unzureichender Informationen und Fehlinterpretationen zahlreiche unlösbare Probleme ergeben. In erster Linie ist hier die unzureichende Ausgrabung zu erwähnen. Die Grabungsstelle ist so klein angelegt worden, dass man noch nicht einmal das Skelett vollständig freilegen konnte. Dadurch war natürlich auch eine Beobachtung der Bodenverfärbungen in Verbindung mit den Befunden zur Eingrabung der Leiche ausgeschlossen. Auch von den bei solchen Bestattungen in aller Regel in einem Abstand von 0,2 bis 0,5 Meter beigestellten Keramikgefäßen als religiös motivierten Grabbeigaben (Speise- und Trankopfer) konnten nur einige Scherben eines verzierten Kegelhalsgefäßes mit Kerbleistendekor geborgen werden, die als solche jedoch nicht erkannt worden sind. Keine Beachtung fand auch die Verdichtung der Grabgrube, die in dem graubraunen Lehmboden gut erkennbar war und zweifellos auf eine Eingrabungszeit hinweist, die viele Jahrhunderte zurückreicht.

Als nicht unproblematisch erwies sich die Beurteilung unterschiedlicher Funde (Halsring – grün patinierte Knochen) durch auswärtige Fachleute, die – selbst wenn sie den Sachverstand gehabt hätten – den einen Fund nicht ohne den anderen hätten bewerten können. Nur so konnte der Halsreif als ›künstlich oxidierter Modeschmuck‹ heutiger Zeit beurteilt und die Grünfärbung der Knochen nicht eingeordnet werden. Und: nur ohne Kenntnis des Zahnbefundes wird die Datierung der Liegezeit auf 1 – 5 Jahre (!) erklärbar.«