Ermittlungszeitraum: Januar 1982–April 1984
Zwei Beamte der Mordkommission werden morgens vom Notarzt in eine Wohnung gerufen, in der eine Frau unter ungeklärten Umständen gestorben sein soll. Der Tatort liegt im vierten Stock eines Sechsfamilienhauses. Dort treffen die Kommissare auf Erhard Josten, den 33-jährigen Wohnungsinhaber, und seine 13 Jahre alte Stieftochter Stefanie. Bei der Toten handelt es sich um die 37-jährige Ehefrau, Kerstin Josten, die im Wohnzimmer auf der Couch liegt, mit einem Federbett bis zum Kinn zugedeckt.
Der Notarzt kann nichts Verbindliches zur Todesursache sagen – möglicherweise sei die Frau an den Folgen einer Embolie gestorben, mutmaßt er. Von den Angehörigen habe er nämlich erfahren, dass sie kürzlich wegen einer Thrombose im Bein behandelt worden sei. Spuren, die auf eine Gewalteinwirkung hindeuten, habe er bei der äußeren Leichenschau nicht feststellen können.
Erhard Josten ist verwirrt, fahrig und unkonzentriert. Der Lagerist gibt an, am Abend zuvor mit seiner Frau in einer Kneipe gewesen zu sein. Dabei hätten beide reichlich Alkohol getrunken. Gegen 22.45 Uhr sei man nach Hause gekommen, und er habe sich sofort schlafen gelegt. Als er am nächsten Morgen um kurz nach 7 Uhr aufgewacht sei, habe er sich gewundert, dass seine Frau nicht neben ihm im Bett gelegen habe.
»Daraufhin bin ich ins Wohnzimmer gegangen«, erzählt er stockend weiter. »Dort saß meine Frau auf einem Hocker, ihr Oberkörper und ihr Kopf lagen auf der Tischplatte. Ihre Haut hat sich ganz kalt angefühlt. Ich bin aber trotzdem nicht auf die Idee gekommen, dass sie tot sein könnte. Ich dachte, sie wäre in der Nacht am Tisch eingeschlafen. Deshalb habe ich sie auf die Couch gelegt und zugedeckt … Dann bin ich kurz ins Bad gegangen und habe darauf meine Stieftochter geweckt. Erst Stefanie hat festgestellt, dass Kerstin nicht mehr lebt. Ich konnte es einfach nicht fassen. Etwas später habe ich dann schließlich den Notarzt verständigt.« Erhard Josten kann oder will keine Angaben dazu machen, wie und warum seine Frau gestorben ist.
Stefanie Josten erklärt auf Befragen, am gestrigen Abend gegen 21 Uhr heimgekommen zu sein, die Eltern seien zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu Hause gewesen. Sie habe sich gleich in ihr Bett gelegt, sei aber noch zu aufgedreht gewesen, um einschlafen zu können. Gegen 23 Uhr seien die Eltern in die Wohnung zurückgekehrt und hätten sich lautstark gestritten. Die Mutter habe den Vater beschimpft, weil der in der Kneipe einer anderen Frau zu nahe gekommen sein soll. Und der Vater hätte sich darüber aufgeregt, dass die Schwester der Mutter permanent schlecht über ihn reden würde. Eine solche Auseinandersetzung sei jedoch nichts Besonderes, die Eltern hätten nahezu täglich gestritten. Dabei soll es jedoch nie zu Tätlichkeiten gekommen sein.
Am nächsten Morgen habe der Stiefvater sie um 7.40 Uhr geweckt und ihr gesagt, dass die Mutter ganz kalt sei und nicht sprechen würde. Daraufhin sei sie aufgesprungen und ins Wohnzimmer gelaufen, wo die Mutter auf der Couch unter einem Federbett und einer Wolldecke gelegen habe. Weil die Mutter keinen Puls gehabt habe, sei sie von ihrem Tod ausgegangen. Dies habe sie ihrem Stiefvater mitgeteilt und ihn aufgefordert, einen Notarzt zu rufen. Kurz vor dessen Eintreffen habe sie in der Küche ein leeres Tablettenröhrchen gefunden. Die Beamten lassen sich die Verpackung zeigen. Es handelt sich um das Präparat »Neodrom«, ein Schlafmittel. Die Tabletten seien der Mutter verschrieben worden, weil sie unter Schlafstörungen gelitten habe. Selbstmordgedanken habe sie jedoch nie geäußert, versichert das Mädchen, als man sie behutsam danach fragt.
Die Beamten untersuchen darauf den Tatort: Der Leichnam liegt auf dem Rücken und ist bekleidet mit einer gehäkelten Jacke, einem Nachthemd und einem Slip. Alle Kleidungsstücke sind weder verschmutzt noch beschädigt. Am Körper sind keine Spuren von Gewalt feststellbar. Den Beamten fallen lediglich eine blaurote Verfärbung an der Stirn und flohstichartige Blutpunkte auf, die sich über die gesamte obere Gesichtshälfte verteilen. Der untere Teil des Gesichts ist dagegen auffallend blass. An der linken Halsseite befindet sich ein fingernagelgroßer rosafarbener Fleck. Der übrige Hals ist unauffällig, Würge- oder Drosselmerkmale sind nicht vorhanden. Auch die Hände sind unversehrt, an denen keine Abwehrverletzungen festgestellt werden. Blaurote Leichenflecken finden sich lagegerecht an den abhängenden Rückenpartien, aber auch im Bereich der Brust und der Schultern. Die Leichenstarre hat sich nur im Kiefergelenk ausgeprägt.
Die Stauungsblutungen im oberen Gesichtsbereich lassen sich genauso wie die Leichenflecken an Brust und Schultern durch die Position erklären, in der Erhard Josten seine Frau vorgefunden haben will: am Tisch sitzend, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt. Dazu passt auch die verglimmte Zigarette an der Stelle der Tischplatte, an der die Hände der Frau aufgelegen haben sollen. Unter dem Tisch finden die Ermittler die Hausschuhe der Toten. Der Tatortbefund ist demnach eher unauffällig, nichts deutet auf eine gewaltsame und todesursächliche Auseinandersetzung hin.
Auch der Ehemann wird körperlich untersucht – keine Verletzungen. Auffällig sind jedoch seine langen Fingernägel. Hätte er die Verstorbene am Hals gepackt, wären mit Sicherheit entsprechende Spuren entstanden, schlussfolgern die Beamten. Der Tod muss nach 23 Uhr eingetreten sein. Das Streitgespräch der Eltern, das die Tochter zu dieser Zeit mitbekommen hat, und die Leichenerscheinungen sprechen zweifelsfrei gegen einen früheren Zeitpunkt.
Obwohl die Kripo weder gegen den Mann noch gegen die Tochter der Toten einen Verdacht hegt, wird der Leichnam obduziert. Das Ergebnis der Untersuchung erstaunt die Ermittler. »Für einen Tod aus natürlicher Ursache hat die Leichenöffnung keine Anhaltspunkte ergeben«, schreiben die Rechtsmediziner in ihrem vorläufigen Gutachten. »Eine tödliche Lungenembolie hat nicht vorgelegen. Auch war eine Thrombose in beiden Beinen mindestens oberhalb der Kniekehle nicht festzustellen. Eine Thrombose tiefer gelegener Venen, zum Beispiel an der Wade, kann bestanden haben. Hierfür würde die leichte Schwellung des rechten Unterschenkels sprechen.«
Der Sachverständige vertritt die Auffassung, Kerstin Josten sei erstickt worden. Als äußere Ursache komme ein Erwürgen oder Erdrosseln in Betracht. Dabei müsse ein breites Strangwerkzeug benutzt worden sein. Gegen eine Strangulation spreche nicht, dass der Hals des Opfers äußerlich unverletzt erscheine, abgesehen von dem Fleck links oberhalb des Schlüsselbeins. Die Spur einer örtlichen Gewalteinwirkung auf den Hals sei im lockeren Bindegewebe des Kopfnickermuskels links unterhalb des genannten Flecks feststellbar gewesen. Als Beweise für seine Mordtheorie führt der Sachverständige maßgeblich die massiven punktförmigen Blutungen an, die unter anderem in der Gesichtshaut, den Augenlidern und Teilen des Halses gefunden wurden. Dafür sprechen eventuell auch größere Blutpunkte in und unter der Schläfenmuskulatur.
Gegen die Annahme eines natürlichen Todesgeschehens spricht nach Auffassung des Gutachters auch, dass zumindest zeitweise das Gesicht tiefer gelagert gewesen sein müsse als die Herzebene. Dieser Befund lasse sich nicht mit den Ermittlungen der Kripo vereinbaren, wonach die Frau lediglich mit dem aufgestützten Gesicht auf einer Tischplatte liegend in sitzender Stellung angetroffen worden ist. Dafür sprechen ebenfalls die Leichenflecken mit zahlreichen Blutpunkten an der linken Schulter, die auch durch ein massives Zupacken entstanden sein könnten.
»Im Nasen-Rachen-Raum und den Luftwegen lagerten blutig-schleimige Massen«, heißt es in der Expertise weiter. »Dieser Befund deutet zumindest auf ein Nasenbluten mit nachfolgender, wenn auch nicht tödlicher Einatmung von Blut hin. Ursächlich für dieses Nasenbluten dürfte zumindest eine Gewalteinwirkung stumpfer Art auf die Nasengegend gewesen sein. Ein Sturz oder Schlag käme als Ursache nicht in Betracht. Die Frau scheint außerdem Blut verschluckt zu haben. Es ist aber auch nicht die Möglichkeit auszuschließen, dass die blutig-rote Brühe im Magen eventuell von Rotweingenuss herrührt. Ob und inwieweit die Verstorbene unter Einwirkung von Schlafmitteln oder dergleichen gestanden hat, müsste entsprechenden Untersuchungen vorbehalten bleiben.«
Das Gutachten ist eindeutig und lässt der Kripo keine andere Möglichkeit, als die Ermittlungen fortzuführen, und zwar gegen Erhard Josten. Denn der ist beim derzeitigen Stand der Ermittlungen der Einzige, der sich zur Tatzeit am Tatort aufgehalten hat – abgesehen von seiner Tochter, die aufgrund der Gesamtumstände als Tatverdächtige nicht in Betracht kommt. Also wird der Mann verhaftet und vernommen. Er beschreibt immer wieder detailreich, wie er seine Frau am Tisch sitzend vorgefunden habe. Nur was am Abend zuvor nach der gemeinsamen Rückkehr passiert ist, weiß er nicht mehr, behauptet er jedenfalls. Dafür weiß er aber, warum er sich nicht erinnern kann: »Vor einiger Zeit habe ich mir bei einem Verkehrsunfall eine Hirnschädigung zugezogen, die mein Erinnerungsvermögen stark beeinträchtigt, besonders dann, wenn ich Alkohol trinke.« Darauf zeigen ihm die Kripobeamten das rechtsmedizinische Gutachten, wonach seine Frau eindeutig getötet worden sein muss. Das zeigt Wirkung, und irgendwann sagt Erhard Josten: »Ja, dann muss ich das ja wohl gemacht haben, es war ja kein anderer da.«
Nachfragen bei Erhard Jostens behandelndem Arzt bestätigen seine Angaben: Der Mann sei vor zwei Jahren schwer verunglückt und habe sich dabei eine gravierende Hirnverletzung zugezogen, die seine Merk- und Konzentrationsfähigkeit, aber auch seine Willensstärke dauerhaft geschädigt habe. Zudem würde der Patient schnell ermüden. Menschen mit derartigen Einschränkungen seien in der Regel wesentlich reizbarer und aggressiver als Gesunde, nur habe ein solches Verhalten an Erhard Josten bisher nicht beobachtet werden können.
Das bisherige Aussageverhalten des Verdächtigen und das Ergebnis einer Rekonstruktion lassen die Ermittler zweifeln, ob dieser Mann dazu fähig gewesen sein könnte, die eigene Frau zu töten, über die er mehrfach gesagt hat: »Ich habe Kerstin geliebt. Außerdem war ich doch nach dem Unfall auf sie angewiesen.« Die Mordkommission wendet sich an die Staatsanwaltschaft, die untersuchen lassen soll, ob das Schlafmittel »Neodorm« den Tod der Frau verursacht haben könnte. Der zuständige Dezernent gibt daraufhin ein entsprechendes Gutachten in Auftrag.
Neun Monate später liegt die mit Spannung erwartete Stellungnahme des gerichtsmedizinischen Instituts vor. Demnach wurden Wirkstoffe des Schlafmittels »Neodorm« im Körper der Verstorbenen nachgewiesen: »Die in den Asservaten aufgefundenen Schlafmittelmengen lassen bei Verbindung dieses Mittels mit den ebenfalls aufgefundenen 1,4 Promille Blutalkohol auf eine schwere Vergiftung schließen.« Der Gutachter kommt zu dem Schluss, dass sich Kerstin Josten zum Zeitpunkt der Tat in einem Narkosezustand befunden habe und praktisch handlungsunfähig gewesen sei, allerdings habe diese Intoxikation nicht ihren Tod verursacht.
»Es besteht nicht der geringste Zusammenhang zwischen den bei der Obduktion erhobenen Befunden und den chemisch-toxikologischen Untersuchungen, soweit es die charakteristischen Merkmale einer gewaltsamen äußeren Erstickung betrifft«, wird die anders lautende Vermutung der Kripo mit deutlichen Worten zurückgewiesen. »Sie gehen auf keine andere Ursache als auf eine tödliche Strangulation zurück. Die charakteristischen morphologischen Befunde lassen sich weder durch eine gleichzeitige Schlafmittelvergiftung noch – mit Ausnahme der Gesichtshaut, Augenlider und Bindehäute – durch eine atypische Bauch- bzw. Kopf-tief-Lage der Leiche erklären. Die Frau ist also im Zustand eines tiefen Schlafes oder sogar einer Narkose im völlig wehrlosen Zustand erstickt worden.«
Der Staatsanwalt verfasst eine Anklageschrift, in der Erhard Josten beschuldigt wird, seine Frau im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit getötet zu haben. Der Anwalt des Angeschuldigten moniert daraufhin: »Wenn die Sachverständigen in ihrem Gutachten behaupten, dass sich mit dieser so wichtigen Fragestellung (dem Beweiswert der Stauungs- und Weichteilblutungen beim Strangulationstod) bisher noch kein anderer Gerichtsmediziner ernsthaft befasst hat, dann halten sie sich für unfehlbar, dann würde eine Diskussion in der Hauptverhandlung für alle Organe der Rechtspflege und nicht zuletzt für die weiteren Gutachter völlig sinnlos sein und zu Zusammenstößen führen. Unfehlbare Gutachter gibt es in unserer komplizierten Welt nicht. Es gibt nur solche, die sich in einem euphorischen Übermut für unfehlbar halten.«
Das Landgericht gibt daraufhin ein weiteres Gutachten in Auftrag, das diesmal vom Leiter eines gerichtsmedizinischen Instituts einer anderen Stadt erstellt wird. Als die Ergebnisse schließlich vorliegen, ist Kerstin Josten bereits seit anderthalb Jahren tot und ihr Mann seit 12 Monaten inhaftiert. Letzterer darf nun wieder Hoffnung haben. Denn das neue Gutachten widerspricht den Untersuchungen des Erstgutachters, die nicht geeignet gewesen seien, um die Frage nach einer »vitalen oder postmortalen« Entstehung der Stauungs- und Weichteilblutungen zu beantworten. Das wird wie folgt begründet:
»Die Versuche wurden an Leichen ausgeführt, die schon einige Zeit tot waren, nämlich drei bis 65 Stunden. Sie beweisen also nur, dass drei Stunden nach dem Tode und später bei Tieflagerung des Kopfes Blutungen in dem hier vorliegenden Ausmaße nicht (mehr) auftreten. Es ist aber bekannt, dass fast gleichzeitig mit den Totenflecken am Rücken Suffusionen (Blutunterlaufungen) und Blutaustritte auftreten können, d. h. unter Umständen schon nach einer Stunde. Und dass gewaltige strangulationsverdächtige Blutungen im Gesicht außen und innen am Hals bei einfacher Bauchlage der Leiche vom Moment des Todes an auftreten können, weiß ich aus eigener Erfahrung. Es ist somit nicht auszuschließen, dass bei Frau Josten, die ja durchaus zum Zeitpunkt des Todes schon weit vornübergeneigt mit dem Kopf und eventuell mit dem Oberkörper bewusstlos auf dem Tisch gelegen haben kann, sehr bald nach dem Tode die verdächtigen Blutungen aufgetreten sind.«
Zur Sitzposition der Frau am Tisch vertritt der Sachverständige folgende Auffassung: »Ich würde dabei gar nicht auf eine besondere Tieflage des Kopfes Wert legen. Horizontallage des Oberkörpers bzw. des Kopfes auf dem Tisch würde schon ausreichen, um eine postmortale Entstehung der Blutungen nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen zu können. Es könnte dabei das Aufliegen des Brustkorbes auf der Tischplatte und erst recht auf der Tischkante eine besondere Rolle gespielt haben. Dass bei Rumpfkompressionen Stauungsblutungen auftreten können, ist seit Langem bekannt, ich kenne solche Bilder von Verschütteten. Inzwischen sind diese Stauungsblutungen bei Thoraxkompressionen wiederholt bestätigt worden.«
Der Sachverständige bezweifelt den »Erstickungsbefund« des Vorgutachters, da typische punktförmige Blutungen an Lungen und Herz sowie die charakteristische Lungenblähung nicht festgestellt worden seien. Und er führt als weiteres Argument an, dass »die Blutungen in den Halsmuskeln, am Kehlkopf und an den anderen beschriebenen Stellen nur den Charakter eines Hinweises haben und umso vorsichtiger behandelt werden müssen, je stärker in den entsprechenden Körperbereichen die Hypostase (Senkungsblutfülle) ist. Dabei unterliegt man besonders leicht einer Täuschung, wenn nach Umlagerung der Leiche die Hypostase zwar verschwindet, die Blutaustritte aber bestehen bleiben. Diese Möglichkeit war im vorliegenden Fall durchaus gegeben. Je niedriger der Tisch gegenüber dem Hocker ist, desto weniger überzeugend sind die Blutpunkte als Zeichen einer Strangulation.«
Letztlich kommt der Gutachter zu folgender Einschätzung der Todesursache: »Die Tötung der Frau Josten durch Strangulation darf unter Würdigung der Gesamtumstände, insbesondere auch der Todeszeit und der wahrscheinlich unwiderlegbaren Darstellung des Angeschuldigten über die Auffindesituation, keinesfalls als mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angesehen werden.«
Damit werden das erste Gutachten und der daraus resultierende Verdacht gegen Erhard Josten relativiert. Und dieser Umstand zwingt die Staatsanwaltschaft dazu, einen weiteren Sachverständigen zu beauftragen, dem folgende Frage gestellt wird: »Hat der Beschuldigte den Tod seiner Ehefrau mitverschuldet oder allein verschuldet, oder ist diese auf andere, vom Beschuldigten nicht zu vertretende Weise gestorben?«
Im dritten Gutachten schickt der Sachverständige zunächst voraus, dass punktförmige Blutaustritte im Kopf- und Halsbereich generell nur als Indiz für einen Erstickungsvorgang zu werten seien, keinesfalls dürften sie als Beweis angesehen werden. Die Ursache für die Entstehung dürfte nicht in erster Linie auf Sauerstoffmangel zurückzuführen sein, sondern auf eine Erhöhung des venösen Druckes, einem Blutstau vor dem Herzen. »In der Regel kommt es während des Erstickungsvorganges zu einer krampfhaften Atmung«, wird zur Begründung weiter ausgeführt, »bei der gewaltsamen Erstickung auch zu einer Pressatmung, die über eine Erhöhung des Blutdruckes und Einflussstauungen zum Bersten der Haargefäße mit der Folge feiner Blutaustritte führen kann. Bei der Kompression der Halsorgane kann sowohl beim Erdrosseln als auch beim Erwürgen der venöse Abfluss behindert, der arterielle Zustrom des Bluttes aber oft nicht unterbunden werden. Auf diese Weise kommt es zur isolierten Blaufärbung und Dunsung der Weichteile des Schädels mit der Entwicklung von ›Erstickungsblutungen‹, die man als Stauungsblutungen aufzufassen hat.
Erstickungsvorgänge, die in einem reinen Sauerstoffentzug bestehen, ohne Atmung und Kreislauf zu behindern, gehen deshalb im Allgemeinen nicht mit Blutaustritten der beschriebenen Art einher. Wenn die Blutaustritte aber nicht eine zwangsläufige Folge des Sauerstoffmangels und der Erstickung sind, sondern allein durch Blutdruckerhöhung und Stauungserscheinungen zustande kommen, dann ist es erklärlich, dass die Erstickungsblutungen auch dann, wenn sie wie im vorliegenden Fall sehr intensiv ausgefallen sind, nur Hinweise auf, aber nicht als alleiniger und sicherer Beweis für eine gewaltsame Erstickung angesehen werden können.« Von einer gewaltsamen Erstickung könne nur dann ausgegangen werden, wenn der Erstickungsvorgang und typische Erstickungszeichen nachgewiesen seien und eine andere Todesursache ausgeschlossen werden könne.
Schließlich würdigt der Gutachter noch die Schlafmittelvergiftung der Verstorbenen. »Es ist anzunehmen, dass die Frau von der schlafmachenden Wirkung des Alkohols und des Medikaments am Tisch sitzend einschlief«, heißt es hierzu, »wobei vermutlich die Zigarette den Fingern ihrer Hand entfiel und sie die Stadien des Schlafes, der Bewusstlosigkeit und wohl auch des Todes in dieser Position durchlief. Die unter dem Tisch befindlichen Pantoffeln sind möglicherweise ein Indiz dafür, dass sie tatsächlich an dieser Stelle in der geschilderten Position verstarb. Das in der Bewusstlosigkeit unbewegliche Verharren in dieser hämodynamisch (die Strömungsmechanik des Blutes betreffend) ungünstigen Position erklärt eine Blutstauung im Kopf- und Brustbereich und würde auch die vom Obduzenten beobachteten Stauungsblutungen, die er wohl mit Recht als vital entstanden ansieht, erklären. Das Blut würde nämlich auf diese Weise nicht passiv erst nach dem Tode in den Kopf hineingelaufen, sondern aktiv durch die Herzkraft in Kopf- und Brustbereich getrieben worden sein. Die unglückliche und gekrümmte Haltung über einen längeren Zeitpunkt hinweg müsste zu einer Druckerhöhung im venösen Anteil des Blutkreislaufes durch eine Einflussstauung vor dem Herzen führen.«
Drei Gutachten, drei Meinungen. Das Gericht versucht sich aus dieser verworrenen Lage zu befreien, indem alle Expertisen dem »Gerichtsärztlichen Ausschuss« zur Prüfung vorgelegt werden, einem Gremium, dem allgemein besondere Sachkunde zugeschrieben wird. Doch auch dort wissen die Experten keinen Rat und schlagen vor, die Gutachten im Rahmen der Hauptverhandlung zu erörtern und die Sachverständigen ihre Argumente vortragen zu lassen.
Doch das Gericht ist anderer Auffassung und beendet das Verfahren mit einem Paukenschlag. »Der Beschuldigte ist nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Straftat nicht hinreichend verdächtig«, wird allen Verfahrensbeteiligten mitgeteilt. »Die vom Gerichtsärztlichen Ausschuss vorgeschlagene Diskussion der Sachverständigen in einer Hauptverhandlung könnte die auf den bisherigen Gutachten beruhenden erheblichen – und damit zugunsten des Beschuldigten wirkenden – Zweifel an einer Tötungshandlung nicht ausräumen.« Demnach hat sich der Obduzent wohl geirrt, Kerstin Josten wurde wahrscheinlich nicht gewaltsam erstickt. Der Ehemann wird unverzüglich aus der Haft entlassen und finanziell entschädigt.