Kapitel 2
IN DIESEM KAPITEL
Die Bestrafung eines Menschen ist eine massive Einschränkung seiner Freiheit und seiner Rechte. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe kann die ganze Existenz eines Menschen in den Grundfesten erschüttern: Sie führt regelmäßig zum Verlust des Arbeitsplatzes, zwischenmenschliche Beziehungen zerbrechen darüber, Freundeskreise können sich in nichts auflösen, der gute Ruf kann nachhaltig ruiniert sein. Vielleicht werden manche sagen: Aber das hat ein Verbrecher doch verdient. Bedenken Sie: Es gibt Falschbeschuldigungen, es können Fehlurteile ergehen. Wir wissen alle, dass Strafrecht – besonders unter Bedingungen autoritärer Herrschaft – missbraucht werden kann, um nicht angepasste Menschen mundtot zu machen, ja ihr Leben zu zerstören. Strafrecht muss also gegen Missbrauch geschützt werden, seine Grenzen müssen klar bestimmt sein, es muss sich – in unserer Rechtsordnung – an die Vorgaben des Grundgesetzes halten und darf Menschenrechte nicht verletzen.
Man muss nicht Latein beherrschen, um das Strafrecht zu verstehen, aber manchmal bringt die lateinische Fassung eines Gedankens die Sache sehr gut auf den Punkt, so ist es auch beim Gesetzlichkeitsprinzip:
Das Verbot der Strafe ohne Gesetz ist zentral für die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Sanktionen. Es soll dem Ausschluss staatlicher Willkür gegenüber den Bürgern dienen. Historisch markiert dieses Prinzip den Übergang von Strafrecht als Herrschaftsinstrument zur Strafgesetzlichkeit im Sinne einer Beschränkung von Macht und Willkür des Staates. Es soll nicht mehr je nach Laune des Herrschers einmal das eine und dann das andere als Straftat gelten und mit einer beliebigen Strafe belegt werden können. Diese Forderung von Feuerbach (den Sie ja eben schon als Vater der Theorie der Generalprävention kennengelernt haben) stellt einen Leitstern einer aufgeklärten und freiheitlichen Strafrechtsordnung dar. Jeder Mensch muss vorher wissen, was ihm der Staat verbietet und welche Strafe ihm beim Verstoß gegen diese Verbote droht.
Die wichtigste und zugleich nicht einfach einzulösende Komponente der Strafgesetzlichkeit ist das Bestimmtheitsgebot (lex certa), das den Gesetzgeber zur Genauigkeit bei der Ausgestaltung von Strafrechtsnormen verpflichtet. Wann ein Verhalten strafbar ist, muss so konkret und erkennbar wie möglich beschrieben sein. Tragweite und Anwendungsbereich der Strafgesetze müssen sich möglichst unmittelbar, spätestens jedoch im Wege der Auslegung ermitteln lassen. Es gilt dabei ein Analogieverbot (lex stricta) zulasten des Beschuldigten. Die Bestrafung darf nur auf geschriebenes Recht (lex scripta) und nicht auf Gewohnheitsrecht gestützt werden.
Weiterhin unterliegen die Gesetze einem Rückwirkungsverbot (lex praevia), um die Menschen vor einer willkürlichen Ausübung der Strafgewalt zu schützen. Ein vorher nicht verbotenes Verhalten darf nicht für die Vergangenheit für strafbar erklärt werden und die Strafen dürfen nicht rückwirkend verschärft werden.
Die zentralen Garantien für ein rechtsstaatliches Strafrecht sind also:
Die Bedeutung dieser Prinzipien ist in Deutschland und in der europäischen Rechtskultur an exponierter Stelle anerkannt. Das Prinzip »Keine Strafe ohne Gesetz« (nullum crimen, nulla poena sine lege) finden Sie in Art. 103 II GG, in § 1 StGB und in Art. 7 I der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Schauen Sie sich die einzelnen Elemente des Prinzips nullum crimen/nulla poena nun einmal an Fällen an.
Trunkenheit in der Öffentlichkeit
- Absatz 1: Wer sich öffentlich sinnlos betrinkt und dabei den Anstand verletzt, wird mit einer Geldstrafe bestraft.
- Absatz 2: Wer wiederholt betrunken angetroffen wird, wird mit einer spürbaren Freiheitsstrafe bestraft.
Dieser »Straftatbestand« scheitert verfassungsrechtlich schon daran, dass es sich nicht um eine »gesetzliche Bestimmung« der Strafbarkeit handelt. Nach der Kompetenzzuweisung unserer Rechtsordnung bedeutet der Vorbehalt des Gesetzes, dass nicht der Bürgermeister, eine Taskforce oder die Polizei Straftatbestände erlassen dürfen, sondern dass die Kompetenz zum Erlass von Gesetzen beim Parlament als dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber (Legislative) liegt.
Dieser Tatbestand unterliegt aber auch durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf seine inhaltliche Bestimmtheit. Zunächst stellt sich etwa die Frage, ob und wie ein Unterschied zwischen »sinnlosem« und »sinnvollem« Alkoholkonsum gemacht werden soll. Mit dem Begriff »Betrinken« kann eigentlich nur übermäßiger Alkoholkonsum gemeint sein. Soll sich das Übermaß wie im Straßenverkehr aus einem bestimmten Promillewert oder im Rückschluss aus dem Verhalten der Person ergeben? Was ist unter einer »Verletzung des Anstands« zu verstehen? Sind schon alkoholtypische Verhaltensweisen wie lautes Sprechen, enthemmtes Verhalten, schwankender Gang für sich genommen unanständig oder muss die Benutzung obszöner Worte und Gesten, das Begrabschen von Personen und provozierendes Anrempeln hinzukommen?
Völlig unbestimmt sind die angedrohten Strafen und die Voraussetzung der Strafschärfung »wiederholt betrunken« ist vage. Die Festlegung »spürbare« Freiheitsstrafe lässt alles offen.
Unter dem Analogieverbot versteht man das Verbot, aus einem Ähnlichkeitsschluss zwischen strafbarem Verhalten und vergleichbarem soziallästigen Verhalten die Strafbarkeit eines Verhaltens zu begründen. So könnten Sie zum Beispiel aus dem Vergleich von existierenden Strafbestimmungen wie zum Beispiel über Beleidigung, Körperverletzung und (sexueller) Nötigung den Schluss ziehen, dass es der Strafrechtsordnung um einen respektvollen und gewaltfreien Umgang miteinander geht und dass folglich alle Formen der sexuellen Belästigung bestraft werden sollten. Entdecken Sie dann im Hinblick auf diese Verhaltensweisen »Gesetzeslücken«, könnten Sie als Rechtsanwender versucht sein, diese Lücken durch einen Analogieschluss zu füllen.
Im rechtsstaatlichen Strafrecht ist eine solche Vorgehensweise verboten, weil sie die Garantiefunktion der Straftatbestände aushebelt.
Verunglimpfung des Bundespräsidenten
(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Bundespräsidenten verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
Unter Verunglimpfung ist eine besonders schwere Form der Beleidigung zu verstehen. Wenn etwa der Vorsitzende des rechtsextremen »Reichsbundes der Soldaten« angesichts der Befürwortung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch den Bundespräsidenten öffentlich erklärt, »der Bundespräsident schickt junge Deutsche in den Tod – er ist ein Soldatenmörder«, dann ist der Tatbestand erfüllt.
Erklärt der Vorsitzende genau das Gleiche über die Bundesverteidigungsministerin, dann ist das unter den allgemeinen Ehrschutzdelikten zu prüfen, die Vorschrift des § 90 StGB ist dagegen unter keinen Umständen anwendbar – schon gar nicht mit der Begründung, es gehe doch um die gleiche Absicht des Täters, gegen wichtige Staatsorgane zu hetzen. Dies wäre eine verbotene Analogie.
Wohin die Aufhebung des Analogieverbotes führt, kann man an einer der wesentlichen Änderungen sehen, die im Nationalsozialismus am Strafgesetzbuch vorgenommen wurde. Das Analogieverbot wurde durch das »Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs« vom 28. Juni 1935 aufgehoben und stattdessen in § 2 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) Folgendes geregelt:
»Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft«.
Die Meinung, dass es gegenüber einem als sozialschädlich eingestuften Verhalten immer irgendeine strafrechtliche Handhabe geben muss, auch wenn sich im Gesetz nichts Genaues finden lässt, wurde also vom nationalsozialistischen Herrschaftssystem in Gesetzesform gegossen. Damit wurde einer terroristischen Anwendung des Strafrechts Tür und Tor geöffnet. Letztlich lief die entsprechende Strafrechtspraxis auf das Prinzip »Wer Volksschädling ist, wird bestraft« hinaus.
Auch die Bedeutung des Rückwirkungsverbotes lässt sich an einem unrühmlichen Kapitel des Strafrechts im NS-Staat zeigen. Beim Rückwirkungsverbot geht es im Kern um Folgendes:
Am 6. Dezember 2007 hat die deutsche Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe das Todesurteil gegen van der Lubbe »von Amts wegen« aufgehoben. Grundlage für diesen förmlichen Akt ist das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998. Begründet wurde die Aufhebung des Urteils gegen van der Lubbe damit, dass dieses auf der Grundlage zweier NS-Unrechtsvorschriften zur Durchsetzung der Naziherrschaft zustande gekommen war.
Damit sind wir beim Thema:
Das Hitlerkabinett hatte am Tag nach der Festnahme van der Lubbes im brennenden Reichstagsgebäude die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat erlassen. Sie legte in Paragraph 5 fest, dass eine Reihe von Verbrechen, darunter Hochverrat und Brandstiftung, die bis dahin mit lebenslangem Zuchthaus bedroht waren, fortan mit dem Tode zu bestrafen sind.
Damit war das Rückwirkungsverbot noch nicht durchbrochen.
Um van der Lubbe zum Tode verurteilen zu können, wurde am 29. März 1933 das Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe (auch Lex van der Lubbe genannt) erlassen, das ausschließlich auf den Holländer zielte. Danach waren die Strafschärfungen der Notverordnung vom 28. Februar 1933 auch auf Taten anzuwenden, die zwischen dem 30. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen worden waren.
Dies ist kein Einzelfall in der mörderischen Geschichte des NS-Strafrechts. Weil es dem ausdrücklichen Willen von Adolf Hitler im Zusammenhang mit seiner »Autobahnpolitik« entsprach, dass die Täter von Raubüberfällen auf Autofahrer mit dem Tode bestraft werden, wurde im Juni 1938 folgendes Gesetz verkündet:
Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22. Juni 1938. Wer in räuberischer Absicht eine Autofalle stellt, wird mit dem Tode bestraft. Dieses Gesetz tritt mit Wirkung vom 1. Januar 1936 in Kraft.
Indes: Da das Rückwirkungsverbot ein Schutzschild gegen staatliche Willkür ist, sind menschenrechtswidrige Rechtfertigungsgründe, die der Legalisierung der Herrschaft eines Unrechtsregimes dienen, nicht schutzwürdig im Sinne des Rückwirkungsverbotes. Das betrifft die Mauerschützen-Fälle.
Wie der Strafrechtsgelehrte, Rechtsphilosoph und ehemalige Justizminister in der Weimarer Republik Gustav Radbruch in seinem berühmten Aufsatz »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht« (1946) dargelegt hat, gibt es Situationen, in denen Gesetze als »Unrecht« gegenüber der Gerechtigkeit als »übergesetzlichem Recht« weichen müssen, weil ihr Widerspruch zur Gerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreicht. In einer solchen Situation kann derjenige, der sich darauf beruft, nach diesen Gesetzen gehandelt zu haben, und deswegen den Schutz aus dem Rückwirkungsverbot begehrt, nicht gehört werden. Das Vertrauen in den Bestand solcher Rechtsverhältnisse verdient keinen Schutz. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts in seinem »Mauerschützen-Urteil« (BVerfGE 95, 96 [Leitsatz 3]):
»An einer solchen besonderen Vertrauensgrundlage fehlt es, wenn der Träger der Staatsmacht für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts die Strafbarkeit durch Rechtfertigungsgründe ausschließt, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht auffordert, es begünstigt und so die in der Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 Abs. 2 GG muss dann zurücktreten«.
Die Staatsgewalt ist in einem Rechtsstaat an die Beachtung der Grundrechte gebunden. Die Ausübung der Strafgewalt darf nicht grenzenlos, sondern muss verhältnismäßig sein. Dies gilt für den Umfang des Strafrechts, also die Summe all dessen, was der Staat unter der Androhung von Strafe verbietet. Das gilt für die Folgen, die der Staat für die Verletzung von Strafrechtsnormen androht. Das gilt für die Verfahren, in denen über die Verhängung von Strafrechtsfolgen entschieden wird. Und das gilt für die Gestaltung des Strafvollzugs.
»…im Allgemeinen nur zulässig, wenn der Schutz anderer oder der Allgemeinheit dies unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert. Nach diesem Grundsatz muss ein grundrechtseinschränkendes Gesetz geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann; es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können. Ferner muss bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein. Die Maßnahme darf sie mithin nicht übermäßig belasten (Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne)«.
Aus dem Quellenhinweis wissen Sie, dass dieses Zitat aus der Cannabis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stammt. Ich möchte hier nicht auf die seit Jahrzehnten juristisch und politisch geführte Debatte eingehen, ob Cannabis legalisiert werden sollte. Es geht hier alleine um den Bezug zu den verfassungsrechtlichen Grenzen des Strafrechts. Diese Entscheidung musste unter anderem deswegen getroffen werden, weil Strafgerichte an vielen Orten der Bundesrepublik der Meinung waren, dass die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes (§ 29 BtMG) im Hinblick auf den Umgang mit Cannabis verfassungswidrig sind und folglich Vorlagebeschlüsse zum Bundesverfassungsgericht ergingen:
Art. 100 Abs. 1 GG
Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen …
Es ging dabei um Fälle wie die beiden folgenden:
In beiden Fällen war es durch die Amtsgerichte in erster Instanz zu Verurteilungen gekommen, in der Berufungsinstanz hielten die Landgerichte die angewendeten Vorschriften des BtMG für verfassungswidrig und setzten die Verfahren aus, um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 GG herbeizuführen.
Solche Vorlagebeschlüsse müssen begründet werden. Ich möchte Ihnen nur eine Auswahl der Gründe vorstellen, die die Landgerichte für ihre Ansicht vorgetragen haben, dass die anzuwendenden Strafvorschriften verfassungswidrig sind:
An dem Zitat aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und den Argumenten der vorlegenden Landgerichte können Sie sehen, dass es bei der Prüfung der Grenzen des Strafrechts um
des Einsatzes von strafrechtlichen Verboten und Verfahren zur Lösung von sozialen Problemen geht. Fraglich kann auch sein, was überhaupt das zu schützende Rechtsgut sein soll und ob gleich gelagerte Probleme auch gleichbehandelt werden. Eine strafrechtliche Strategie darf stets nur letztes Mittel (ultima ratio) des Rechtsgüterschutzes sein.
Der Altmeister der deutschen Strafrechtswissenschaft Claus Roxin hat den Ausspruch geprägt
»Das Strafverfahren ist der Seismograph der Staatsverfassung!«
An der Art und Weise, wie Strafverfahren durchgeführt werden, an den Rechtsregeln für ihren Ablauf können Sie demnach erkennen, wie es um die Rechtskultur und die Bürgerrechte in einem Staat bestellt ist. Das Strafverfahrensrecht ist ein eigenes hochkomplexes Rechtsgebiet, das in der juristischen Ausbildung in eigenen Lehrbüchern und Veranstaltungen behandelt wird. Es würde einen eigenen Dummies-Band füllen, um Ihnen dieses Rechtsgebiet zu erklären. Auf wesentliche Prinzipien eines fairen Strafverfahrens möchte ich trotzdem hier kurz eingehen. Man spricht davon, dass sich das Strafrecht im Strafverfahren verwirklicht. Was im Gesetzbuch steht, wird dort auf den »Fall« angewendet:
Für die Frage, ob ermittelt wird, gilt das Legalitätsprinzip. Nicht der »Polizeichef«, der »Oberstaatsanwalt«, der »Justizminister« oder gar der »Bürgermeister« entscheiden über die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens, sondern das »Gesetz«. Nach dem Legalitätsprinzip ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, ihr zur Kenntnis gelangte Straftaten zu verfolgen und bei hinreichendem Tatverdacht Anklage zu erheben.
Das Prinzip der materiellen Wahrheit (auch Untersuchungsgrundsatz genannt) verpflichtet das Gericht zur Aufklärung des wahren Sachverhaltes von Amts wegen. Dies bedeutet, dass das Gericht auch ohne Antrag des Verteidigers oder Staatsanwaltes Beweise erheben muss, um den Sachverhalt zu erforschen. Das Gericht muss sich selbst eine Überzeugung über die angeklagten Geschehnisse bilden.
Das Recht eines jeden Beschuldigten auf Hinzuziehung eines Verteidigers in jeder Lage des Verfahrens ist in § 137 I StPO geregelt. Gemäß § 136 I StPO ist dem Beschuldigten
»… bei Beginn der ersten Vernehmung … zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen.«
In Art. 6 III Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wird dies weiter präzisiert:
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
a) innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist;
d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten;
e) unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht.
Mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit ist gemeint, dass das Gericht sich nur aufgrund des unmittelbaren persönlichen Eindrucks, den es vom Angeklagten und den Beweismitteln in der Hauptverhandlung gewinnt, sein Urteil über Schuld und Strafe bilden darf.
Nach dem Grundsatz der Mündlichkeit darf nur der mündlich vorgetragene Prozessstoff in der Hauptverhandlung dem Urteil zugrunde gelegt werden. Alles, was für das Verfahren wesentlich ist, etwa die Vernehmung des Angeklagten, die Beweisaufnahme, die Plädoyers, muss danach mündlich erfolgen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass nichts hinter dem Rücken von Verfahrensbeteiligten geschieht und alle Verfahrensbeteiligten aus der Hauptverhandlung entnehmen können, was Gegenstand des Urteils sein wird.
Nach dem Öffentlichkeitsgrundsatz muss die Hauptverhandlung an einem Ort und in einem Raum stattfinden, zu dem während der Hauptverhandlung jedem der Zutritt offensteht. Der Grundsatz der Öffentlichkeit gilt als Kernprinzip eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Er beruht auf der geschichtlichen Erfahrung, dass »Geheimprozesse« und Gerichtsverhandlungen hinter »verschlossenen Türen« ein starkes Anzeichen für den Missbrauch der Justiz zu politischen Zwecken sind. Heute kann der Vorsitzende des Gerichts nur in besonderen Einzelfällen die Öffentlichkeit ausschließen, etwa wenn besonders schutzwürdige Belange (wie der Schutz der Privatsphäre eines Zeugen) dies ausnahmsweise erfordern. Für den Ausschluss der Öffentlichkeit können auch die Art des Tatvorwurfs und das Alter von betroffenen Zeugen bedeutsam sein. So bestimmt § 171 b Absatz 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG):
»Die Öffentlichkeit soll ausgeschlossen werden, soweit in Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 bis 184h des Strafgesetzbuchs) oder gegen das Leben (§§ 211 bis 222 des Strafgesetzbuchs), wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 des Strafgesetzbuchs) oder wegen Straftaten gegen die persönliche Freiheit nach den §§ 232 bis 233a des Strafgesetzbuchs ein Zeuge unter 18 Jahren vernommen wird.«
Die Unschuldsvermutung zählt zu den Justizmenschenrechten und findet sich in Art. 11 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948:
»Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist so lange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.«
Daraus folgt, dass nicht der Angeklagte seine Unschuld beweisen muss, sondern umgekehrt das Gericht ihm nachweisen muss, dass er schuldig ist.
Weiter folgt daraus, dass das Gericht den Angeklagten nur dann bestrafen darf, wenn es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass er schuldig ist. Eine hohe Wahrscheinlichkeit (»er wird das schon irgendwie gewesen sein«) genügt für eine Verurteilung nicht.
Jeder begründete Zweifel an der Schuld des Angeklagten muss vielmehr zu seinem Freispruch führen – im Zweifel für den Angeklagten (lateinisch: in dubio pro reo). Die angeklagte Person ist und bleibt damit unschuldig.
Eine Unterteilung in »Freisprüche 1. Klasse« wegen »erwiesener Unschuld« und »Freisprüche 2. Klasse« wegen »Zweifeln an der Schuld« gibt es zwar in der Bewertung von Freisprüchen durch die Medien und die Öffentlichkeit. Das Strafrecht aber kennt keinen Freispruch 1., 2. oder 3. Klasse. Es spielt rechtlich keine Rolle, ob wegen erwiesener Unschuld oder mangels Nachweis der Tat freigesprochen wird.
In Art. 101 I S. 2 GG heißt es:
»Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden«.
Dies bedeutet, dass jeder Anspruch auf eine allgemeine, im Voraus festgelegte und hinterher überprüfbare Regelung hat, welches Gericht welchen Fall erhält. So soll verhindert werden, dass bestimmte Richter und Gerichte für bestimmte Fälle oder gar angeklagte Personen gezielt ausgewählt werden können.
Diese allgemeine Bestimmbarkeit wird durch eine jährlich festgelegte Geschäftsverteilung der Berufsrichter und die Wahl und Auslosung der Schöffen gewährleistet. Durch den »gesetzlichen Richter« soll schon der Verdacht ausgeschlossen werden, dass für bestimmte Fälle oder Angeklagte ein besonders nachsichtiges oder strenges Gericht zusammengestellt wird.