Kapitel 6
IN DIESEM KAPITEL
Wenn Sie einen strafrechtlichen Fall prüfen, stellen Sie zunächst fest, welcher Straftatbestand Ihr Ausgangspunkt sein soll. Sodann schauen Sie sich an, welche tatbestandsmäßige Handlung und welche Beschreibung des tatbestandsmäßigen Erfolgs dort zu finden sind. Jetzt geht es darum, diese Handlung und den Erfolg in einen Zusammenhang zu stellen.
Bei der Kausalität wird das erste bei der Prüfung von strafrechtlicher Verantwortlichkeit auftretende Problem behandelt: Sie müssen prüfen, ob einer Person der Eintritt des in einem Straftatbestand beschriebenen Erfolges oder der dort beschriebenen Gefahr als die Folge ihres Handelns zugerechnet werden kann.
Für wesentliche Erfolgsdelikte des Strafrechts können Sie die Fragestellung leicht erkennen:
Erfolgsdelikte beschreiben in ihrem Tatbestand als Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person meist schlicht einen Erfolg, ohne dass sich der Tatbestand über das zum Erfolg führende Verhalten weiter auslässt. So heißt es zum Beispiel:
Die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortung fragt hier auf der Ebene des objektiven Tatbestandes zunächst einmal nicht subjektiv »Wollte der Täter diesen Erfolg?«, sondern: Kann zwischen dem festgestellten Erfolg (das Opfer ist verletzt oder sogar tot, sein Kaffeeservice liegt in Scherben auf dem Boden und so weiter) und einer Handlung des Täters (der Täter hat mit der Faust ins Gesicht geschlagen, einen Messerstich in den Hals geführt, den Kaffeetisch umgestürzt und so weiter) ein ursächlicher Zusammenhang hergestellt werden? Liegt Kausalität vor?
Für konkrete Gefährdungsdelikte und erfolgsqualifizierte Delikte gilt Entsprechendes:
Schließlich spielt die Kausalität für die Verknüpfung einzelner Etappen eines Tatbestands bis hin zur Tatbestandsverwirklichung eine Rolle:
Beim Betrug (§ 263 StGB) erfolgt zunächst eine Täuschung des Opfers durch den Täter, diese Täuschung muss die Ursache für einen Irrtum des Opfers sein, durch diesen Irrtum muss es zu einer Vermögensverfügung und dadurch zu einem Vermögensschaden kommen. Man spricht insofern davon, dass die Tatbestandsmerkmale des Betrugs in einem durchlaufenden Ursachenzusammenhang miteinander stehen müssen.
Die Reduktion der Komplexität des Kausalitätsproblems ist in einer genialen Vereinfachung im 19. Jahrhundert durch die sogenannte Bedingungs- oder Äquivalenztheorie (Conditio-sine-qua-non-Formel) geleistet worden, die noch heute Ausgangspunkt jeder Zurechnungsprüfung ist. Meint das Gleiche, wird unterschiedlich bezeichnet.
Geprüft wird mithilfe der Conditio-sine-qua-non-Formel:
In einfachen Fällen kann mit dieser Formel ein Ergebnis umstandslos begründet werden.
Klar: Antons Schuss kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass Bert noch leben würde.
Aber betrachten Sie einmal die folgenden Varianten:
Gleichwohl kommt Bert zu Tode,
- weil er ein Bluter ist – das hört sich noch einfach an,
- der Rettungswagen, der ihn ins Krankenhaus bringen soll, verunglückt – das erscheint schon schwieriger,
- weil bei der Behandlung der Wunde im Krankenhaus nach Tagen eine Wundinfektion wegen unzureichender hygienischer Verhältnisse eintritt – da wird es kompliziert.
Oder:
In jeder dieser Varianten lässt sich die Verhaltensweise von Anton (Ursache) nicht hinwegdenken, ohne dass der Tod von Bert (Wirkung) entfiele – aber wollen wir in jedem Falle Anton einfach so den Erfolg zurechnen?
Doch zunächst zwei grundlegende Einwände gegen die Bedingungstheorie:
Die Formel ist ein Zirkelschluss, weil sie das Ergebnis, das sie zu liefern vorgibt, schon voraussetzt. An die Verknüpfung von Erfolg und Handlung wird bereits mit einem Vorverständnis über die Beziehung von Ursachen und ihren Wirkungen (»das kommt davon«) herangegangen. Dies ist in den Fällen unproblematisch, in denen gesichertes Erfahrungswissen existiert (Kopfschüsse sind regelmäßig tödlich), es kann aber Konstellationen geben (dazu später), in denen man diese Beziehung erst definieren muss.
Zudem ist die Formel von der conditio sine qua non uferlos.
Sie erinnern sich, die Bedingungstheorie heißt auch Äquivalenztheorie, deswegen nämlich, weil sie von der Gleichwertigkeit (=Äquivalenz) aller Bedingungen für einen Erfolg ausgeht. Präzise lautet ihre Zurechnungsformel:
Folglich führt diese Formel streng genommen zu weitreichenden Zurechnungen:
Die Äquivalenztheorie wird damit verteidigt, dass sie für die Zurechnung im objektiven Tatbestand äußerst handlich sei, da der objektive Tatbestand von normativen Erwägungen reingehalten werden könne, und dass in Fällen von »zu weiter« Zurechnung eine Korrektur auf späteren Stufen des Straftatsystems möglich sei. Also:
Mit diesen Korrekturen lassen sich wohl regelmäßig vernünftige Ergebnisse erzielen. Es sind aber auch durchaus Fälle konstruierbar, in denen die Korrektur der weit gefassten Kausalität auf späteren Argumentationsstufen misslingt.
Überlegen Sie sich einmal folgenden Lehrbuchfall, der die Bedingungstheorie und ihre Verteidiger ins Straucheln bringt:
Nach der Conditio-sine-qua-non-Formel ist hier an der Zurechnung nicht zu rütteln. Hätte Anton Bert nicht den Flug spendiert, dann wäre Bert nicht an Bord der abgestürzten Maschine gewesen. Anton hatte auch genau die Vorstellung, dass Bert bei einem Flugzeugabsturz auf diesem Flug umkommen sollte. Es ist das eingetreten, was Anton mit seiner Einladung von Bert zu einer Flugreise bewirken wollte.
Dass Anton nun den Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) verwirklicht haben soll, nur weil ihm wider alle Statistik der Zufall zu Hilfe gekommen ist, mutet sehr befremdlich an.
Die Strafrechtsprechung, die der Conditio-sine-qua-non-Formel mit ganz geringen Einschränkungen seit über 100 Jahren folgt, weist solche Einwände zurück, da es sich um in der Praxis niemals vorkommende Lehrbuchfälle handele. Das vermag als Replik nicht zu überzeugen. Sie werden nämlich in diesem Buch noch viele Fälle aus der Praxis kennenlernen, die man nie für möglich halten würde. Eine Zurechnungstheorie sollte nach meiner Meinung alle denkbaren Fallkonstellationen konsistent und mit gerechten Ergebnissen lösen können.
Die BGH-Rechtsprechung in Zivilsachen und die Zivilrechtslehre lehnen deswegen zur Vermeidung inkonsistenter Ergebnisse die Bedingungstheorie (Äquivalenztheorie) ab und legen die sogenannte Adäquanztheorie zugrunde (eine Theorie, die übrigens auch in der Strafrechtswissenschaft namhafte Anhänger gefunden hat).
Aus dem Definitionselement »im Rechtssinne« können Sie ablesen, dass diese Theorie bei gegebener Kausalität im Sinne der Conditio-sine-qua-non-Formel normativ korrigierend fragt, ob dieses Ergebnis auch als angemessen (= adäquat) angesehen werden kann. Sie erinnern sich an meine grundsätzlichen Anmerkungen zur »Herstellung« von Kausalität.
Die Adäquanztheorie stellt sich dem Problem, dass in der Prüfung von Kausalität auch ein Wertungsakt enthalten sein kann und es nicht bloß um »blinde« Zusammenhänge von Ursache und Wirkung geht. So soll bei der Adäquanztheorie aufgrund objektiv-nachträglicher Prognose im jeweils konkreten Fall festgestellt werden, ob die Handlung nach allgemeiner Lebenserfahrung vom Standpunkt des kundigen Richters aus geeignet war, diesen Erfolg herbeizuführen oder nicht.
Zurück zu unserem Flugreise-Fall: Eine wertende Betrachtung der Annahme, Anton habe den Tod von Bert dadurch verursacht, indem er ihm das Flugticket spendiert hat, wird jedes Gericht zu der Feststellung führen, dass die Einladung zu einer Flugreise nach allgemeiner Lebenserfahrung kein geeignetes Mittel ist, um einen anderen Menschen zu töten. Es fehlt also nach der Adäquanztheorie an einer Handlung des Anton, die im Rechtssinne als Ursache dafür gelten könnte, dass Bert jetzt tot ist.
Die Strafrechtsprechung und die herrschende Lehre halten scharf dagegen, dass die Adäquanztheorie überhaupt gar keine Kausalitätstheorie sei: Sie leugne einen Kausalzusammenhang, wo in Wahrheit nur dessen haftungsbegründende Relevanz zu verneinen sei. Auf diese Weise würden Verursachung und Zurechnung des Erfolgs, naturwissenschaftliche Kategorien und normative Kriterien vermischt.
Wieder einmal lernen Sie an dieser Stelle ein Charakteristikum juristischer Theoriebildung kennen: Wenn zwei Meinungen zur Lösung eines Problems vertreten werden, die sich scharf gegenüberstehen, tritt alsbald eine Theorie auf den Plan, die nach einer Vermittlung zwischen den Lagern sucht. In diesem Falle ist dies die sogenannte Relevanztheorie.
Die Relevanztheorie schlägt ein zweistufiges Zurechnungsverfahren vor:
Nur solche Handlungen, die kausal und tatbestandlich relevant sind, könnten strafrechtliche Haftung begründen.
Die Relevanztheorie bildet die Grundlage für die heute wohl herrschende Lehre von der objektiven Zurechnung, die die tatbestandliche Zurechnung trotz Kausalität von Handlung und Erfolg in bestimmten Fällen ausscheiden lässt. Dazu werden wir im nächsten Kapitel kommen.
Zuvor möchte ich Ihnen jedoch noch besondere Kausalitätsprobleme auf dem Boden der herrschenden Bedingungstheorie vorstellen.
Kranke Fälle der Kausalität bezeichnen Fälle, in denen sich entweder die Ursachen überstürzen, überlagern, verwirren oder sonst fraglich werden, oder Situationen, in denen die Dinge nicht so ablaufen, wie der Täter sich das vorgestellt hat.
Ich beginne mit Problemen, die sich in der Realität von Kausalabläufen abspielen können:
Bei der alternativen Kausalität – auch Mehrfachkausalität genannt – treffen mehrere unabhängig voneinander gesetzte Ursachen im Erfolg zusammen.
Anton und Bert vergiften unabhängig voneinander das Essen von Dietmar mit je einer tödlich wirkenden Dosis Gift. Wenige Minuten nach dem Verzehr stirbt Dietmar. Die Gerichtsmediziner können aber keine Aussage darüber treffen, ob eine der beiden Giftgaben vor der anderen gewirkt hat, also welche konkrete Giftgabe den Tod herbeigeführt hat. Fest steht aber, dass jede Dosis für sich allein tödlich bemessen war. Der Tod ist jedenfalls nicht durch die »Doppeldosis« eingetreten.
Sowohl Antons als auch Berts Handlung können alternativ hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfällt. Wendet man die Conditio-sine-qua-non-Formel »blind« in diesen Fällen an, kommt man zu dem absurden Ergebnis, dass von einem Erfolg ohne Ursache auszugehen ist. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, wird die Formel modifiziert und lautet:
Anders verhält es sich in Fällen der kumulativen Kausalität. Hier bewirken mehrere unabhängig voneinander gesetzte Bedingungen erst durch ihr Zusammentreffen den Erfolg. Dann sind beide Ursachen schon nach der einfachen Conditio-Formel zurechenbar für den Erfolg, wie Sie im folgenden Fall sehen können:
Beide Handlungen sind nach der Conditio-sine-qua-non-Formel kausal für den Tod des Dietmar. Denn weder die Giftgabe von Anton noch diejenige von Bert kann hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg entfiele.
Anton und Bert werden sich freilich vehement damit verteidigen, dass sie das Gift genau dosiert hatten, auf keinen Fall den Tod von Dietmar wollten und dass die gleichzeitige Vergiftungstat des anderen ein völlig ungewöhnlicher Verlauf war, mit dem niemand rechnen konnte. Somit stellt sich die Frage, ob sie gleichwohl für den objektiven Verlauf einzustehen haben und wie das Ergebnis gegebenenfalls korrigiert werden kann. Darauf werden wir im nächsten Kapitel über die Lehre von der objektiven Zurechnung und sogleich bei der Behandlung von Irrtümern über den Kausalverlauf zurückkommen.
Anton vergiftet das Essen von Dietmar mit einer nicht tödlichen Dosis Gift. Gleichwohl muss Dietmar der Magen ausgepumpt werden. Hierbei unterläuft dem Arzt Dr. Murx ein Kunstfehler, wodurch Dietmar zu Tode kommt.
Die Handlung von Dr. Murx knüpft an die Handlung von Anton an. Sie hat möglicherweise (Kunstfehler) eine selbstständige strafrechtliche Verantwortlichkeit von Dr. Murx zur Folge. Die Handlung des Dr. Murx ist im Sinne der Bedingungstheorie durch die Handlung von Anton verursacht. Denn würde man die Handlung von Anton hinwegdenken, wäre keine Behandlung von Dietmar durch Dr. Murx erforderlich gewesen, und es hätte im Rahmen der Behandlung nicht zu dem tödlichen Kunstfehler kommen können.
Man kann hier sagen, dass Anton die Ausgangsgefahr für das Leben von Dietmar geschaffen hat, und muss nunmehr fragen, ob man ihm die Realisierung der Gefahr durch das Handeln eines Dritten (des Dr. Murx) noch zurechnen will. Manche wollen diesen Fall in der objektiven Zurechnung lösen, andere auf der Ebene von Vorsatz und Fahrlässigkeit, also im subjektiven Tatbestand. Auch auf diese Fallkonstellation werde ich zurückkommen.
Von einem hypothetischen Kausalverlauf (= Einwand von Reserveursachen) spricht man, wenn zur Verteidigung vorgebracht wird, dass eine andere Ursache als die reale Handlung des Täters ebenfalls den Erfolg bewirkt hätte.
Hier ist eine weitere Präzisierung der Conditio-sine-qua-non-Formel erforderlich:
Es kommt auf die Ursächlichkeit der Handlung für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt an, also auf den tatsächlichen Ablauf der Dinge und nicht darauf, wie sich der weitere Verlauf dargestellt hätte. Hypothetische andere Ursachen werden in der Kausalitätsprüfung nicht berücksichtigt. Der Tod von Dietmar ist also insoweit eindeutig das Werk von Anton, auch wenn Dietmar in derselben Nacht sowieso gestorben wäre, denn konkret ist Dietmar eines Vergiftungstodes gestorben.
Andere Ursachen werden im Verlauf von Geschehnissen dann nicht nur hypothetisch, sondern real wirksam, wenn sie eine erste Kausalkette abbrechen und eine völlig neue Kausalkette in Gang setzen, die den zu erwartenden Erfolgseintritt der ersten Kausalkette überholt. Man spricht hier von Fällen der abgebrochenen und überholenden Kausalität.
Hier stehen die erste Kausalkette, die auf den Eintritt des Todes durch Vergiftung hinausläuft, und die zweite Kausalkette (Tötung durch Erschießen) in einem völlig unvermittelten Verhältnis zueinander. Für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt wird nur die am Beginn der zweiten Kausalkette, nicht aber die am Anfang der ersten Kausalkette stehende Handlung kausal.
Die erste Kausalkette wird also abgebrochen – das Gift kann seine tödliche Wirkung nicht mehr entfalten. Die zweite Kausalkette – der Schuss von Bert mit tödlichen Folge für Dietmar – überholt den ersten Kausalverlauf.
Es handelt sich hier im Ergebnis um eine Gunst des Zufalls für Anton, denn er kann nur wegen versuchter Tötung bestraft werden. Bert ist dagegen zweifelsfrei wegen vollendeter Tötung zu bestrafen. Sie erinnern sich: Bert kann sich nicht mit dem hypothetischen Kausalverlauf – Dietmar wäre sowieso im Verlauf an der Vergiftung gestorben – herausreden, es kommt auf den Erfolg in seiner konkreten Gestalt an und Dietmars Tod ist real durch Berts Schuss eingetreten.
Im Hinblick auf ähnlich gelagerte Fälle eines vermittelten Kausalverlaufs werden kontroverse Auffassungen vertreten:
Hier wirkt die Handlung der ersten Kausalreihe (Vergiftung) als Ursache für die zweite Kausalreihe (Erschießung) fort. Nach der Lehre vom Fortwirkungskriterium ist demnach nicht nur Berts Schuss, sondern auch Antons Giftgabe für Dietmars Tod kausal. Beide haften wegen vorsätzlicher Tötung.
Nach der Lehre vom Regressverbot beginnt aufgrund des Dazwischentretens eines anderen vorsätzlich Handelnden grundsätzlich eine völlig neue Kausalkette. Die neue Tatherrschaft des Dazwischentretenden verbietet ein Verantwortlichmachen des zuvor Handelnden für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt. Also haftet Anton hier nur für den Versuch der Tötung, Bert für die vollendete Tötung. Dieses Ergebnis ist radikal, aber nicht ohne jede Vernunft. Freilich handelt es sich nicht um eine Kausalitätstheorie, sondern um eine wertende Beurteilung, die – wie wir gleich sehen werden – ähnlich auch in der Lehre von der objektiven Zurechnung vertreten wird.
Bei den Abweichungen des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf lernen Sie nun gleich vier unterschiedliche Konstellationen kennen:
Kennzeichnend für alle diese Konstellationen ist, dass die Dinge einen Verlauf nehmen, der sich so nicht in der Vorstellungswelt des Täters widerspiegelt.
Auf der Prüfungsstufe des subjektiven Tatbestandes geht es um die Feststellung, ob sich alles, was sich im objektiven Tatbestand ereignet hat, auch in der Vorstellung des Täters wiederfindet. Nach der grundlegenden Vorsatzdefinition ist Vorsatz das »Wissen und Wollen in Bezug auf die wesentlichen Elemente des objektiven Tatbestandes«. Dem Täter muss klar sein, dass die Handlung den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, und er muss erkennen, auf welchen Erfolg diese Handlung hinausläuft. Bei den Erfolgsdelikten ist auch die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg ein wesentliches objektives Tatbestandsmerkmal. Folglich ist im Vorsatz zu prüfen, mit welchem Bewusstsein und Willen hinsichtlich der Bewirkung des Erfolgs der Täter handelte. Wenn eine Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit vorliegt, bezeichnet man dies als Irrtum über den Kausalverlauf.
Anton hatte sich also vorgestellt, dass Dietmar bereits durch die Hiebe auf den Kopf zu Tode kommen würde. Dietmar hat aber diese Attacke zunächst überlebt und ist erst geraume Zeit später an den Folgen des Angriffs gestorben.
Folglich liegt hier keine wesentliche Abweichung vor: Es liegt völlig im Rahmen der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Beilhiebe auf den Kopf, wenn sie dann nicht sofort zum Tode führen, jedenfalls durch die erheblichen Verletzungen tödliche Folgewirkungen haben können. Es ist ferner davon auszugehen, dass, wenn Anton Dietmar mit Beilhieben töten will, auch ein derart »verspäteter Erfolgseintritt« von seinem Willen umfasst ist. Da die Differenz zwischen Vorstellung und Wirklichkeit also unwesentlich ist, wird hierdurch nicht der Vorsatz infrage gestellt.
Beim error in persona vel objecto (der Verwechslung der Person beziehungsweise des Tatobjekts) trifft der Täter mit seiner Handlung die anvisierte Person (beziehungsweise das anvisierte Objekt), stellt sich dabei aber darunter eine andere Person (beziehungsweise ein anderes Objekt) vor.
Diese Abweichung von Wirklichkeit und Vorstellung ist nach einhelliger Auffassung unbeachtlich. Anton unterliegt nur einem Motivirrtum – er schießt auf Paul, weil er ihn für Dietmar hält. Er weiß aber sicher, dass er auf einen Menschen schießt, um ihn zu töten. Das getroffene und das vorgestellte Objekt sind in ihrer Qualität, Menschen zu sein, gleichwertig. Folglich ist in diesem Fall Anton der vorsätzlichen Tötung von Paul strafbar, denn er wollte ihn als Menschen, den er für Dietmar hielt, töten.
Abweichungen von Wirklichkeit und Vorstellung über das Tatobjekt können dagegen für den Vorsatz relevant werden, wenn die verwechselten Objekte nicht gleichwertig sind.
Anton hatte nach seiner Vorstellung auf ein Wildschwein geschossen, dies war ein schrecklicher Irrtum. Tatsächlich hat er einen Menschen getroffen. Diese Objekte sind von wesentlich unterschiedlicher Qualität. Folglich wird durch den Irrtum der Vorsatz, einen Menschen zu töten, ausgeschlossen. Anton kann nur wegen fahrlässiger Tötung von Dietmar gem. § 222 StGB strafbar sein (zu den Fahrlässigkeitsvoraussetzungen kommen wir dann in Teil III, Kap 11).
Die aberratio ictus (das Fehlgehen der Tat) beschreibt eine Fallkonstellation, in der ein Täter ungewollt sein Zielobjekt verfehlt (»Fehlschuss«) und zugleich ein anderes Ziel trifft, ohne dass er hieran auch nur gedacht hat.
Eine beachtliche Mindermeinung will diesen Fall jedoch unter der Voraussetzung der Gleichwertigkeit von anvisiertem und getroffenem Objekt wie einen error in persona behandeln. Das Kernargument lässt sich hören: Wer einen Menschen töten will und infolge der Abirrung einen anderen Menschen tötet, macht sich einer vorsätzlichen vollendeten Tötung auch des Zufallopfers strafbar, weil der Tatbestand des Totschlags (§ 212 StGB) nur eine Konkretisierung der Tötungshandlung auf »einen Menschen«, nicht aber auf einen »konkreten Menschen« verlangt.
Unter dem Begriff dolus generalis wurden lange Zeit solche Fälle diskutiert, in denen der Täter den Erfolg schon in einem ersten Handlungsakt erreicht zu haben glaubt, tatsächlich der Erfolg aber erst in einem zweiten Handlungsakt eintritt. Das heißt, die Dinge laufen nicht »schief«, sondern es »kommt anders, als man denkt«. Hierzu gibt es zahlreiche Fälle, deren berühmtester der sogenannte Jauchegrube-Fall (BGHSt 14, 193) ist:
Zur Lösung dieses Falles wurde früher die von mir favorisierte Theorie vom dolus generalis vertreten. Danach würde es sich hier um ein Handlungsgeschehen mit zwei Akten handeln. Das gesamte Handlungsgeschehen ist von Anfang an von Annas Vorstellung bestimmt, Birgit »zum Schweigen« zu bringen, auch wenn dies deren Tod bedeuten würde, also unter billigender Inkaufnahme ihrer Tötung. Sie denkt, dies im ersten Akt erreicht zu haben, und nimmt im zweiten Akt irrtümlicherweise an, eine Leiche zu beseitigen. Dies beseitigt jedoch nicht die Verkettung von Ereignissen, die von Beginn an darauf hinausliefen, dass Anna der Tod von Birgit nicht unerwünscht war. Anna ist danach also wegen vorsätzlicher Tötung strafbar. Früher war die Lehre vom dolus generalis herrschend, heute wird sie aber praktisch nicht mehr vertreten.
Die heute herrschende Meinung will den Fall nach den Grundsätzen des Irrtums über den Kausalverlauf lösen. Birgits Tod ist danach von Annas Verwirklichungswillen getragen. Sie nahm es billigend in Kauf, dass Birgit zu Tode kam, sei es nun durch Ersticken oder Ertrinken. Der reale Tatverlauf bewegt sich im Übrigen in den Grenzen, was nach allgemeiner Lebenserfahrung voraussehbar ist. Es liege also keine wesentliche, den Vorsatz ausschließende Abweichung des vorgestellten vom tatsächlichen Geschehensablauf vor.
In der Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf der objektiven Ebene kommt man mit der Kausalität zwar immer irgendwie zurecht, man muss aber auch zuweilen sehr angestrengte Überlegungen anstellen, um ein Kausalitätsergebnis nach der »blinden« Conditio-sine-qua-non-Formel, das einem als unangemessen erscheint, doch noch zu korrigieren. Häufig gelingt das erst im subjektiven Tatbestand durch Überlegungen zum Vorsatz des Täters.
Die Lehre von der objektiven Zurechnung verfolgt das Ziel, die Erfolgszurechnung von abenteuerlichen Überlegungen frei zu halten und Verursacher von tatbestandsmäßigen Erfolgen möglichst früh aus dem Strafbarkeitsbereich herauszunehmen, soweit ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht als sachgerecht erscheint.
Dieses Bemühen ist vielfältiger Kritik ausgesetzt und wird von der Rechtsprechung nur in einigen Konstellationen geteilt. Ein Kollege hat einmal dramatisch formuliert, dass die Lehre von der objektiven Zurechnung den »Effekt eines den gesamten objektiven Tatbestand an sich reißenden und in sich ertränkenden Strudels« habe.