1. KAPITEL
OSTEN
Eine Glocke läutete voll und wohltönend jeden Morgen bei Tagesanbruch. Sobald sie sie hörten, räumten die Studierenden der Federinsel ihr Bettzeug zusammen und gingen ins Badehaus. Nach dem Waschen aßen sie gemeinsam, und dann, noch bevor die Ältesten erwachten, blieb ihnen eine Stunde Zeit für Gebet und Kontemplation. Diese Stunde des Tages liebte sie am meisten.
Sie kniete vor dem Standbild des Großen Kwiriki nieder. Wasser tröpfelte an den Wänden der unterirdischen Höhle herab und sammelte sich in einem Becken. Nur eine Laterne kämpfte gegen die Dunkelheit.
Dieses Standbild des Großen Ältesten war anders als jene, vor denen sie in Seiiki gebetet hatte. Es zeigte Teile der Gestalten, die er im Laufe seines Lebens angenommen hatte: das Geweih eines Hirsches, die Krallen eines Vogels und den Schwanz einer Schlange.
Es dauerte ein wenig, bevor Tané das Klacken eines eisernen Beines auf dem Felsen hörte. Sie erhob sich und sah den Gelehrten Ältesten Vara am Eingang der Grotte stehen.
»Gelehrige Tané.« Er senkte den Kopf. »Verzeiht mir, dass ich Eure Kontemplation störe.«
Sie verbeugte sich ihrerseits.
Der Scholar Vara wurde von den meisten Studierenden der Halle der Windfahne für einen Exzentriker gehalten: ein dünner Mann mit wettergegerbter brauner Haut und vielen Falten um die Augen, der stets ein Lächeln und ein freundliches Wort für sie hatte. Seine oberste Pflicht bestand darin, das Archiv zu führen und zu schützen, aber er wirkte auch als Heiler, wenn es notwendig war.
»Ich wäre geehrt, wenn Ihr mich heute Morgen im Archiv aufsuchen würdet«, sagte er. »Eure täglichen Pflichten wird jemand anderes übernehmen. Und bitte«, fügte er hinzu und zeigte dabei auf die Statue, »lasst Euch Zeit.«
Tané zögerte. »Es ist mir nicht erlaubt, das Archiv zu betreten.«
»Heute schon.«
Er war verschwunden, bevor sie reagieren konnte. Langsam kniete sie sich wieder hin.
Diese Höhle war der einzige Ort auf der Welt, an dem sie sich vollkommen vergessen konnte. Es war ein wabenartiges Labyrinth aus Grotten hinter einem Wasserfall, das sich die seiikinesischen Studierenden auf dieser Seite der Insel teilten.
Mit einer wedelnden Handbewegung löschte sie den Weihrauch und verbeugte sich vor der Statue. Deren Juwelenaugen schienen sie anzufunkeln.
Am Ende der Treppe trat sie ins Tageslicht hinaus. Der Himmel hatte die gelbliche Farbe ungebleichter Seide. Mit bloßen Füßen suchte sie sich vorsichtig den Weg über die Trittsteine.
Die Federinsel lag einsam und zerklüftet weit von allen anderen Orten entfernt. Ihre steilen Klippen und die stets präsenten Wolken boten jedem Schiff, das sich näher heranwagte, einen einschüchternden Anblick. Schlangen sonnten sich auf den steinigen Stränden. Diese Insel war Heimstatt von Menschen aus dem ganzen Osten – und die Ruhestätte der Knochen des Großen Kwiriki, der sich angeblich auf den Grund der Schlucht gebettet hatte, die die Insel teilte und »Der Pfad der Ältesten« genannt wurde. Man sagte auch, dass es seine Knochen seien, die für den Nebel verantwortlich waren, der diese Insel einhüllte. Denn ein Drache zog noch lange nach seinem Tod Wasser an. Es war auch der Grund, warum so oft Nebel über Seiiki lag.
Seiiki.
Die Luv-Halle stand in Kap Quill im Norden, während die Halle der Wetterfahne, die kleinere, wo Tané untergebracht worden war, hoch auf dem Rand eines lang erloschenen Vulkans thronte, umgeben von Wald. Unmittelbar dahinter lagen Eishöhlen, wo einst Lava geflossen war. Um zu den Mönchsklausen zu gelangen, musste man die Schlucht auf einer wackligen Hängebrücke überqueren.
Andere Siedlungen gab es hier nicht. Die Studierenden und Scholaren waren allein im endlosen Meer.
Dieses Kloster war eine Schatzkiste des Wissens. Jedes neue Stückchen Weisheit wurde durch das Verstehen des Vorausgehenden gewonnen. Geborgen in seinen riesigen Hallen hatte Tané erst alles über Feuer und Wasser gelernt. Feuer, das Element der geflügelten Dämonen, forderte ständigen Nachschub. Es war das Element von Krieg und Gier und Rachsucht – immer hungrig und niemals zufrieden.
Wasser brauchte weder Kohle noch Zunder für seine Existenz. Es vermochte selbst jede Form zu bilden. Es nährte Fleisch und Erde und verlangte im Gegenzug nichts dafür. Deshalb würden die Drachen des Ostens, die Herren von Regen, See und Meer, immer über die Feuerspeier triumphieren. Selbst wenn der Ozean die Welt verschlungen und die Menschheit hinweggespült hatte, würden sie noch fortbestehen.
Ein Fischreiher schnappte sich einen Bitterling aus dem Fluss. Der kalte Wind fuhr seufzend zwischen den Bäumen hindurch. Die Herbstdrachin würde sich schon bald zum Schlummern niederlegen, und im zwölften See würde der Winterdrache erwachen.
Als Tané auf den überdachten Laufsteg trat, der zum Kloster zurückführte, zog sie die Kapuze ihres Umhangs über ihr Haar, das sie vor ihrer Abreise aus Ginura so kurz geschnitten hatte, dass es nur bis zu ihren Schlüsselbeinen reichte. Miduchi Tané hatte lange Haare gehabt. Der Geist, zu dem sie geworden war, nicht.
Nach der Kontemplation fegte sie normalerweise den Boden, half, Früchte im Wald zu sammeln, die Gräber von Blättern zu befreien oder die Hühner zu füttern. Es gab keine Diener auf der Federinsel, also teilten sich die Studierenden die niederen Pflichten. Die jüngeren und kräftigen übernahmen die meisten davon. Es war sonderbar, dass der Älteste Vara sie gebeten hatte, ins Archiv zu kommen, wo die wichtigsten Dokumente aufbewahrt wurden.
Als sie auf der Federinsel angekommen war, war sie auf ihr Zimmer gegangen und hatte sich tagelang dort verkrochen. Sie hatte keinen Bissen gegessen und kein einziges Wort gesprochen. In Ginura hatte man ihr alle Waffen abgenommen, sodass sie sich jetzt nur innerlich zerreißen konnte. Sie wollte nur ihren Traum betrauern, bis sie nicht mehr atmete.
Es war der Älteste Vara, der so etwas wie einen Funken Leben in sie zurückgeschüttelt hatte. Als sie vor Hunger schon ganz schwach war, hatte er sie überredet, in die Sonne hinauszutreten. Dann hatte er ihr Blumen gezeigt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Am nächsten Tag hatte er eine Mahlzeit für sie zubereitet, und sie hatte ihn nicht enttäuschen wollen.
Die anderen Studierenden nannten sie den Geist der Halle der Wetterfahne. Sie aß und arbeitete und las wie die anderen, aber ihr Blick war immer in eine Welt gerichtet, in der Susa noch lebte.
Tané trat vom Laufsteg herunter und bog in Richtung Archiv ab. Normalerweise war es nur den Ältesten gestattet, es zu betreten. Als sie sich den Stufen näherte, erbebte die Federinsel. Sie warf sich zu Boden und legte schützend die Hände über ihren Kopf. Ein Schmerz durchzuckte sie, während das Erdbeben das Kloster erschütterte, und sie zischte leise.
Der Knoten in ihrer Seite war wie eine Messerspitze. Kalter Schmerz – der Biss von Eis auf nackter Haut, Erfrierungen in ihrem Inneren. Als qualvolle Schmerzen sie in Wellen durchströmten, schossen ihr die Tränen in die Augen.
Sie musste ohnmächtig geworden sein. Eine sanfte Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück. »Tané.« Pergamentene Hände packten sie an den Armen. »Gelehrige Tané, könnt Ihr sprechen?«
Ja.
Sie versuchte es, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Das Erdbeben hatte aufgehört, der Schmerz jedoch nicht. Der Älteste Vara hob sie in seine knochigen Arme. Es ergrimmte sie, hochgehoben zu werden wie ein Kind, aber der Schmerz war stärker, als sie ertragen konnte.
Er trug sie in den Hof hinter dem Archiv und legte sie neben dem Fischteich auf eine Bank. Ein Kessel stand an seinem Rand.
»Ich wollte Euch heute auf einen Spaziergang zu den Klippen mitnehmen«, sagte er. »Aber jetzt sehe ich, dass Ihr der Ruhe bedürft. Dann ein andermal.« Er schenkte ihnen beiden Tee ein. »Habt Ihr Schmerzen?«
Ihr Brustkorb schien mit Eis gefüllt zu sein. »Es ist eine alte Verletzung, aber es hat nichts zu bedeuten, Ältester Vara.« Ihre Stimme klang heiser. »Diese Erdbeben treten in letzter Zeit so häufig auf.«
»Ja. Es wirkt fast so, als wollte die Welt ihre Gestalt ändern, wie die Drachen von einst.«
Sie dachte an ihre Gespräche mit der großen Nayimathun. Während sie versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren, setzte sich der Älteste Vara neben sie.
»Ich habe Angst vor Erdbeben«, gestand er. »Als ich noch in Seiiki lebte, haben meine Mutter und ich uns in unserem kleinen Haus in Basai versteckt, wenn der Boden bebte, und wir haben uns Geschichten erzählt, um uns abzulenken.«
Tané versuchte zu lächeln. »Ich kann mich nicht erinnern, ob meine Mutter das ebenfalls getan hat.«
Während sie sprach, bewegte sich der Boden erneut.
»Nun«, erwiderte der Älteste Vara, »vielleicht kann ich Euch ja eine erzählen. Um die Tradition aufrechtzuerhalten.«
»Selbstverständlich.«
Er reichte ihr eine dampfende Schale. Tané nahm sie schweigend entgegen.
»In der Zeit vor der Großen Trauer flog ein Feuerspeier in das Imperium der Zwölf Seen und riss die Perle aus dem Hals der Frühlingsdrachin, die Blumen und sanften Regen bringt. Die geflügelten Dämonen liebten nichts mehr, als gierig Schätze anzuhäufen, und kein Schatz ist kostbarer als eine Drachenperle. Obwohl die Frühlingsdrachin schwer verwundet war, verbot sie allen, den Dieb zu verfolgen, aus Angst, dass sie ebenfalls verwundet werden könnten. Ein Mädchen jedoch beschloss, trotzdem zu gehen. Sie war zwölf Jahre alt, klein und schnell, und so flink auf den Füßen, dass ihre Brüder sie Kleines Schattenmädchen nannten. Als nun die Frühlingsdrachin sich wegen ihrer verlorenen Perle grämte, überzog ein höchst unnatürlicher Winter das Land. Obwohl die Kälte ihre Haut verbrannte und sie keine Schuhe besaß, ging das Kleine Schattenmädchen zu dem Berg, wo der Feuerspeier seinen Schatz versteckt hatte. Während die Bestie auf der Jagd war, schlich sie sich in ihre Höhle und holte die Perle der Frühlingsdrachin zurück.«
Das musste eine wahrhaftig schwer wegzuschleppende Kostbarkeit gewesen sein. Die kleinste Drachenperle war immer noch so groß wie ein menschlicher Schädel.
»Doch der Feuerspeier kehrte genau in dem Moment zurück, als sie die Perle gerade aufgehoben hatte. Wütend schnappte er mit seinem mächtigen Kiefer nach der Diebin, die es gewagt hatte, in seinen Hort einzudringen, und riss ihr ein Stück Fleisch aus dem Schenkel. Das Mädchen sprang in den Fluss, und die Strömung trieb sie rasch von der Drachenhöhle fort. Sie entkam mit der Perle … Aber als sie sich aus dem Fluss zog, konnte sie niemanden finden, der ihre Wunde nähte und behandelte. Denn weil sie so stark blutete, fürchteten die Menschen, sie hätte die Rote Krankheit.«
Tané beobachtete den Ältesten Vara durch den Dampf, der von ihrem Tee aufstieg. »Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie starb zu Füßen der Frühlingsdrachin. Und als die Blumen erneut blühten und die Sonne den Schnee schmolz, erklärte die Frühlingsdrachin, dass der Fluss, in dem das Kleine Schattenmädchen geschwommen war, ihr zu Ehren ihren Namen tragen sollte. Denn das Kind hatte ihr die Perle zurückgebracht, die ihr Ein und Alles war. Man sagt, der Geist des Mädchens wandle an den Ufern und schütze die Reisenden.«
Noch nie hatte Tané eine Geschichte gehört, in der eine gewöhnliche Person so viel Mut zeigte.
»Etliche finden diese Geschichte traurig. Andere dagegen halten sie für ein wunderschönes Beispiel von Selbstaufopferung«, fuhr der Älteste Vara fort.
Ein weiterer Stoß ließ den Boden erbeben, und etwas in Tané schien zu antworten. Sie versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, doch der Älteste Vara hatte ein viel zu scharfes Auge.
»Tané«, sagte er. »Darf ich mir diese alte Verletzung ansehen?«
Tané hob ihre Tunika so weit hoch, dass er die Narbe sehen konnte. Im hellen Tageslicht trat sie deutlicher hervor als gewöhnlich.
»Darf ich?«, fragte der Älteste. Als sie nickte, berührte er die Narbe mit einem Finger und runzelte die Stirn. »Die Stelle ist geschwollen.«
Die Schwellung war so hart wie ein Stein. »Mein Lehrer sagte, es wäre geschehen, als ich noch ein Kind war«, erklärte Tané. »Bevor ich ins Haus des Lernens kam.«
»Du bist also niemals zu einem Heiler gegangen, um herauszufinden, ob man etwas dagegen tun könnte?«
Sie schüttelte den Kopf und bedeckte die Narbe wieder.
»Ich glaube, wir sollten diese alte Wunde wieder öffnen, Tané«, beschied der Älteste Vara. »Ich werde nach dem seiikinesischen Arzt schicken, der uns versorgt. Die meisten Geschwüre dieser Art sind harmlos, aber manchmal können sie den Körper von innen zerfressen. Wir wollen nicht, dass du sinnlos stirbst, Kind, wie das Kleine Schattenmädchen.«
»Ihr Tod war nicht sinnlos«, widersprach Tané mit leerem Blick. »Mit ihrem letzten Atemzug hat sie die Freude eines Drachen wiederhergestellt, und dadurch auch die Welt. Gibt es etwas Ehrenvolleres, wofür man sein Leben opfern könnte?«