17. KAPITEL
OSTEN
Die Sonnen-See war so kristallklar, dass der Sonnenuntergang sie in glühendes Rubinrot tauchte. Niclays Roos stand am Bug der Unermüdlichen und betrachtete das Wogen der Wellen.
Es tat gut, wieder unterwegs zu sein. Die Unermüdliche hatte etliche Wochen in der zerstörten Stadt Kawontay vor Anker gelegen, in der Händler und Piraten, die unter dem Seebann standen, einen blühenden Schattenmarkt hochgezogen hatten. Die Mannschaft hatte ausreichend Proviant und Süßwasser an Bord genommen sowie genug Schießpulver und Waffen, um eine ganze Stadt dem Erdboden gleichzumachen.
Letzten Endes hatten sie Nayimathun nicht verkauft. Die Goldene Herrscherin hatte beschlossen, die Drachin als Druckmittel gegen die Hochseewacht zu behalten.
Niclays drückte eine Hand auf die Stelle seiner Tunika, wo er eine Phiole mit dem Blut und eine mit den Schuppen verborgen hatte, die er dieser Kreatur entnommen hatte. Jede Nacht hatte er die Schuppen herausgenommen, um sie zu untersuchen. Aber das Einzige, woran er denken konnte, wenn er mit den Fingern über die Schuppen glitt, war der Ausdruck, mit dem die Drachin ihn angesehen hatte, als er sie ihr vom Panzer geschabt hatte.
Ein Knattern lenkte seinen Blick nach oben. Die Unermüdliche hatte die roten Segel eines von der Seuche befallenen Schiffes gesetzt, um ihre Passage durch die Sonnensee zu erleichtern. Dennoch, sie war das bekannteste Schiff im Osten und hatte schon bald die rachsüchtigen Blicke der Seiiki auf sich gezogen. Als die Hochseewacht und ihre Drachenreiter ihnen den Weg versperrten, hatte die Goldene Herrscherin ihnen ein Ruderboot mit einer Warnung entgegengeschickt. Sie würde die Große Nayimathun wie einen Fisch ausnehmen, wenn die Hochseewacht auch nur Anstalten machte, sie anzugreifen oder wenn sie sie dabei ertappte, dass sie ihnen folgten. Als Beweis dafür, dass sie die Drachin immer noch in ihrer Gewalt hatte, hatte sie ihnen einen ihrer Zähne mitgeschickt.
Alle Drachen und Schiffe hatten sich daraufhin entfernt. Etwas anderes war ihnen auch kaum übrig geblieben. Trotzdem, es war sehr wahrscheinlich, dass sie ihnen folgten, wenn auch mit großem Abstand.
»Da bist du ja.«
Niclays drehte sich herum. Laya Yidagé stellte sich neben ihn.
»Du siehst nachdenklich aus«, stellte sie fest.
»Von Alchemisten erwartet man, dass sie nachdenklich aussehen, teure Dame.«
Wenigstens kamen sie voran. Mit jedem Stern, unter dem sie dahinsegelten, kamen sie dem Ziel ihrer Reise ein kleines Stückchen näher.
»Ich habe der Drachin einen Besuch abgestattet.« Laya zog ihren Schal fester um sich. »Ich glaube, sie stirbt.«
»Wurde sie nicht gefüttert?«
»Ihre Schuppen trocknen aus. Die Mannschaft übergießt sie zwar mit Seewasser, aber sie muss ganz ins Meer eintauchen.«
Wind fegte über das Schiff. Niclays bemerkte die Kälte kaum. Sein Mantel war so dick, dass er sich so wohlig fühlte wie ein Bär in seinem Pelz. Die Goldene Herrscherin hatte ihm die Kleidung gegeben, nachdem sie ihn Meister der Rezepte getauft hatte, ein Titel, den man im Imperium der Zwölf Seen den Alchemisten gab.
»Niclays«, flüsterte Laya. »Ich glaube, wir beide sollten einen Plan schmieden.«
»Warum?«
»Wenn am Ende dieses Weges kein Maulbeerbaum steht, wird die Goldene Herrscherin dir den Kopf abschlagen.«
Niclays schluckte. »Und wenn es einen gibt?«
»Vielleicht stirbst du dann nicht. Aber ich habe mittlerweile genug von dieser Flotte. Ich habe gelebt wie ein alter Seebär, aber ich habe nicht die Absicht, auch wie einer zu sterben.« Sie sah ihn an. »Ich will nach Hause. Du auch?«
Das gab Niclays zu denken.
Zuhause. Das war für ihn so lange nur ein inhaltsleeres Wort gewesen. Sein Name war Roos nach Rozentun, einer verschlafenen Kleinstadt am Vatten Sund, wo sich niemand an ihn erinnern würde. Es war niemand mehr übrig außer seiner Mutter, und die verabscheute ihn.
Er nahm an, dass höchstens noch Truyde etwas daran lag, ob er am Leben war oder tot. Unwillkürlich fragte er sich, wie es ihr wohl ging. Bemühte sie sich immer noch um eine Allianz mit dem Osten, oder trauerte sie still um ihren Geliebten?
Sehr lange war der Mentenische Hof sein Zuhause gewesen, wo er in der Gunst des Königshauses gestanden, wo er sich verliebt hatte – aber Edvart war tot, sein Hof aufgelöst, und die Erinnerung an ihn auf Statuen und Porträts reduziert. Niclays hatte dort keinen Platz mehr. Und seine Zeit in Inys war mehr oder weniger desaströs gewesen.
Wahre Heimat jedoch war letzten Endes für ihn immer Jannart gewesen.
»Jan ist dafür gestorben.« Er leckte sich die Lippen. »Für diesen Baum. Ich kann nicht einfach weitermachen, ohne sein Geheimnis zu enthüllen.«
»Du bist der Meister der Rezepte . Zweifellos wird man dir Zeit gewähren, um den Baum des Lebens zu studieren«, sagte Laya leise. »Sollten wir das Elixier finden, wird uns die Goldene Herrscherin vermutlich nach Norden führen, in die Stadt der Tausend Blumen. Sie wird versuchen, das Elixier dem Haus Lakseng zu verkaufen, um im Gegenzug dafür vom Seebann befreit zu werden. Dort könnten wir versuchen zu entkommen und zu Fuß nach Kawontay zu flüchten. Du könntest ein paar Proben des Elixiers mitnehmen.«
»Zu Fuß.« Niclays lachte gedämpft. »Im höchst unwahrscheinlichen Fall, dass wir diese Reise überleben, was sollten wir dann dort anfangen?«
»In Kawontay gibt es immer ersyrische Schmuggler, die in der Carmentum-See ihr Unwesen treiben. Wir können sie überreden, uns über Die Tiefe zu bringen. Meine Familie würde sie gewiss bezahlen.«
Für seine Passage jedoch würde niemand bezahlen.
»Sie würden auch für dich zahlen«, meinte Laya, als sie sein Gesicht sah. »Dafür sorge ich.«
»Du bist sehr freundlich.« Er zögerte. »Und was machen wir, wenn am Ende dieser Reise kein Maulbeerbaum auf uns wartet?«
Laya sah ihn vielsagend an.
»Wenn sie nichts finden«, sagte sie leise, »überantworten wir uns dem Meer, Niclays. Das ist ein gnädigeres Schicksal, als uns ihrer Wut auszusetzen.«
Er schluckte.
»Ja«, räumte er ein. »Davon gehe ich aus.«
»Aber wir werden etwas finden«, fuhr sie dann munterer fort. »Jannart hat an diese Legende geglaubt. Ich glaube, dass er über dich wacht, Niclays. Und dass er dich nach Hause bringt.«
Nach Hause.
Er konnte das Elixier jedem beliebigen Herrscher anbieten, und sie alle würden ihm Schutz vor Sabran gewähren. Am liebsten wäre er nach Brygstad gegangen. Er könnte sich eine Dachkammer im Alten Quartier mieten und damit über die Runden kommen, Novizen Alchemie zu lehren. Sein Vergnügen würde er in den Bibliotheken der Stadt suchen und in den Vorlesungen in den Hallen der Universität. Und wenn Brygstad nicht infrage kam, dann Hróth.
Und er würde Truyde aufsuchen. Er würde wie ein Großvater für sie sein und Jannart stolz auf sich machen.
Während die Unermüdliche in tiefere Wasser vorstieß, blieb Niclays neben Laya stehen, und sie sahen zu, wie die Sterne am Himmel auftauchten. Was auch immer auf sie wartete, eines war gewiss: Er würde Ruhe finden, er oder sein Geist.