20. KAPITEL
WESTEN
In einem Gewölbe unter dem Ascalon Palast erwartete eine Mörderin von Heiligem Blut ihre Hinrichtung. Sabran, die in all den Jahren, die Loth sie jetzt schon kannte, nie blutrünstig gewesen war, hatte entschieden, dass Crest ertränkt und dann gevierteilt werden sollte, aber die anderen Herzöge der Spiritualität hatten ihr geraten zu bedenken, dass ihr Volk eine solche Hinrichtung in einer so schwierigen Zeit überaus beunruhigend finden würde. Sie hielten es für besser, die Sache schnell und ohne viel Aufhebens über die Bühne zu bringen.
Nach einer Nacht unruhigen Auf-und-ab-Gehens hatte Sabran schließlich nachgegeben. Der Mundschenk würde zum Richtblock geführt werden und die Hinrichtung in aller Stille erfolgen, mit nur einer Handvoll Zeugen.
Crest zeigte keinerlei Reue, während sie all jene betrachtete, die gekommen waren, um sie sterben zu sehen. Roslain stand an einer Seite des Raumes, eine Trauerkappe auf dem Haar. Loth wusste, dass sie nicht um ihre Großmutter trauerte, sondern wegen des Verrats, der den Namen ihrer Familie beschmutzt hatte.
Graf Calidor Stillwasser hatte tröstend seine Hand auf ihre Hüfte gelegt. Er war von Schloss Cordain hergeritten, dem uralten Familiensitz, um in der Stunde der Trauer bei seiner Gemahlin zu sein.
Loth stand dicht neben ihnen, Arm in Arm mit Margret. Sabran war ebenfalls anwesend. Sie trug die Halskette, die ihre Mutter ihr an ihrem zwölften Geburtstag geschenkt hatte. Es war nicht üblich, dass das Königshaus an solchen Hinrichtungen teilnahm, aber Sabran hätte es für feige gehalten, dem auszuweichen.
Ein niedriges Schafott war errichtet und mit dunklem Tuch bedeckt worden. Als die Uhr zehn schlug, hob Crest ihr Gesicht ins Licht.
»Ich bitte nicht um Gnade, und ich werde mich nicht entschuldigen«, erklärte sie. »Aubrecht Lievelyn war ein Sünder und ein Lüstling. Rosarian Berethnet war eine Hure, und Sabran Berethnet ist ein Bastard, die niemals eine Tochter gebären wird.« Sie richtete ihren unbeugsamen Blick auf Sabran. »Im Gegensatz zu ihr habe ich meine Pflicht nicht verletzt. Ich habe gerechte Strafen verhängt. Ich gehe bereitwillig nach Halgalant, wo der Heilige mich willkommen heißen wird.«
Sabran reagierte nicht auf diese Provokation. Ihre Miene blieb ungerührt.
Eine Cousine von Roslain, die ebenfalls eine Trauerkappe trug, nahm Crest Umhang und Siegelring ab, bevor sie ihr die Augen verband. Der Henker stand daneben, eine Hand auf den Schaft seiner Axt gelegt.
Igrain Crest kniete sich vor den Richtblock, hoch aufgerichtet zog sie mit dem Daumen das Zeichen des Schwertes über ihre Stirn.
»Ich sterbe im Namen des Heiligen«, sagte sie.
Mit diesen Worten legte sie ihren Hals in die ausgesparte Mulde. Loth dachte erneut an Königin Rosarian, deren Tod nicht halb so gnädig gewesen war.
Der Henker hob die Axt, und als sie fiel, fiel auch der Kopf des verräterischen Mundschenks.
Niemand gab ein Geräusch von sich. Ein Diener hob den Kopf am Haar hoch, damit alle Anwesenden ihn sehen konnten. Das Heilige Blut der Herzogin der Justiz tropfte auf den Richtblock, und ein Lakai sammelte es in einem Kelch. Nachdem die Leiche verhüllt und vom Schafott getragen worden war, kam Roslain Crests Cousine zu ihr. Roslain löste sich von ihrem Gemahl und trat vor.
Normalerweise wurde der Siegelring an der rechten Hand getragen, aber der Knochenheiler hatte sie geschient. Stattdessen streckte Roslain die Linke aus, und ihre Cousine schob ihr den Ring auf einen Finger.
»Sehet Ihre Durchlaucht, Gräfin Roslain Crest, die Herzogin der Justiz!«, verkündete der Haushofmeister. »Möge sie stets gerecht handeln, jetzt und immerdar.«
*
Igrain Crest war tot. Niemals wieder würde der Schatten des Mundschenks das Königinnenreich von Inys bedrohen.
Sabran saß auf ihrem Lieblingsstuhl in ihren Privatgemächern. Eine Laternenuhr tickte auf dem Kaminsims.
Sie hatte kaum ein Wort gesagt, seit Ead ihr von Kalyba erzählt hatte. Sobald sie ihre Geschichte beendet hatte, hatte sie sie gebeten, mit ihr hineinzugehen. Sie hatten den Rest der Nacht ungestört hinter den Vorhängen des Bettes verbracht. Ead hatte sie stumm in den Armen gehalten, während Sabran zum Baldachin hinaufgestarrt hatte.
Jetzt schien sie vollkommen von ihren eigenen Händen fasziniert zu sein. Ead sah zu, wie sie ihre Knöchel rieb, wie sie mit den Daumen über ihre Finger strich und den glänzenden Rubin ihres Krönungsrings polierte.
»Sabran«, sagte Ead. »Nichts von ihrer dunklen Macht ist in dir.«
Sabran biss die Zähne zusammen.
»Wenn ich ihr Blut habe, könnte ich das Absteigende Juwel nutzen«, sagte sie dann. »Etwas von ihr lebt jedenfalls in mir.«
»Ohne Sternenfäule oder eine Frucht vom Orangenbaum kannst du keinen der beiden Zweige der Magie wirken. Du bist keine Magierin«, widersprach Ead. »Und du wirst dich auch nicht in einen Lindwurm verwandeln.«
Sabran kratzte immer noch mit ihren Fingernägeln über ihre Haut. Ead legte ihre Hand auf die der Königin.
»Was denkst du?«
»Dass ich höchstwahrscheinlich ein Bastard bin. Dass ich die Nachfahrin eines Lügners und der Herrin des Waldes bin, derselben Frau, die mir mein Kind genommen hat, und dass kein ehrenvolles Haus auf einem solchen Fundament errichtet werden kann.« Ihr Haar hing wie ein Vorhang zwischen ihnen. »Dass alles, was mich ausmacht, eine Lüge ist.«
»Das Haus Berethnet hat so viel Gutes getan. Sein Ursprung ändert daran nichts.« Ead hielt ihre Hand fest. »Und was deine angeblich unehrenhafte Herkunft angeht … das bedeutet vor allem, dass dein Vater noch lebt. Ist das keine gute Nachricht?«
»Ich kenne Gian Harlau nicht. Mein Vater war in jeglicher Hinsicht Lord Wilstan Fynch«, erwiderte Sabran leise. »Und er ist tot. Wie meine Mutter und Aubrecht und alle anderen.«
Die Trauer hatte ihre erbarmungslosen Klauen in sie geschlagen. Ead versuchte vergeblich, etwas Wärme in ihre Hand zu massieren.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum sie mir diesen Dorn in den Leib gebohrt hat.« Sabran strich sich mit der anderen Hand über ihren Bauch. »Wenn sie die Wahrheit sagt, dann hat sie ihre Tochter geliebt, Sabran die Erste. Und ich bin von ihrem Blut.«
Der Drachendorn selbst war verschwunden. Laut dem Arzt, der sie operiert hatte, war nur eine Haarlocke übrig geblieben.
»Kalyba ist jetzt nicht mehr menschlich. Du bist von ihrem Blut, aber diese Verwandtschaft ist nicht so stark, dass sie dich lieben würde. Sie will nur deinen Thron«, sagte Ead. »Wir werden sie vielleicht niemals verstehen. Worauf es ankommt, ist, dass sie mit dem Namenlosen Einen unter einer Decke steckt, und das macht sie zu unserer Feindin.«
Jemand klopfte an die Tür. Ein weiblicher Ritter des Leibes in Silberrüstung betrat die Kammer.
»Majestät«, sagte sie und verbeugte sich. »Gerade ist ein Botenvogel aus Brygstad eingetroffen. Mit einer dringenden Nachricht von Ihrer Königlichen Hoheit, der Hohen Prinzessin Ermuna aus dem Haus Lievelyn.«
Sie gab Sabran den Brief und verließ das Gemach wieder. Sabran brach das Siegel und wandte sich dem Fenster zu, während sie las.
»Was schreibt sie?«, erkundigte sich Ead.
Sabran atmete zischend durch die Nase ein.
»Das Datum …« Der Brief flatterte zu Boden. »Das Datum ist der dritte Tag … dieses Frühlings.«
Die Sanduhr war umgedreht. Ead hatte erwartet, dass diese Information sie mit Furcht erfüllte, aber ein Teil von ihr hatte es immer schon gewusst.
Die tausend Jahre nähern sich sehr rasch ihrem Ende.
»Neporo und Cleolind müssen den Namenlosen Einen sechs Jahre nach der Gründung von Ascalon verbannt haben.« Sabran legte die Hände auf den Kaminsims. »Wir haben nicht viel Zeit.«
»Genug Zeit, um Die Tiefe zu überqueren«, sagte Ead. »Sabran, du musst so rasch wie möglich deine Botschaft nach Osten schicken, um die Allianz zu schmieden, und ich muss sie überbringen und das andere Juwel finden. Zumindest könnten wir ihn dann wieder für die nächsten tausend Jahre binden.«
»Du kannst nicht einfach blindlings über Die Tiefe segeln!«, sagte Sabran nachdrücklich. »Zuerst muss ich den Herrschern im Osten schreiben. Die Seiikin und die Lacustriner richten jeden Fremden hin, der seinen Fuß auf ihr Gestade setzt. Ich muss erst ihre Erlaubnis einholen, um eine Sondergesandtschaft dorthin senden zu dürfen.«
»Dafür haben wir keine Zeit. Es wird Wochen dauern, bis eine Depesche dort ankommt.« Ead ging zur Tür. »Ich reise mit einem schnellen Schiff voraus und …«
»Liegt dir denn gar nichts an deinem eigenen Leben?«, stieß Sabran erregt hervor. Ead blieb stehen. »Ich habe dich wochenlang für tot gehalten, nachdem du Ascalon verlassen hast. Und jetzt willst du ohne jeden Schutz über das Meer segeln, ohne Bewaffnung, und an einen Ort, wo dich Tod oder Kerker erwarten könnten.«
»Ich habe das schon einmal getan, Sabran. An dem Tag, an dem ich nach Inys gekommen bin.« Ead lächelte ihr müde zu. »Und wenn ich es einmal überlebt habe, kann ich es auch ein zweites Mal.«
Sabran stand da, die Augen fest geschlossen und die Hände auf dem Kaminsims so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Ich weiß, dass du gehen musst!«, sagte sie. »Dich um Bleiben zu bitten käme dem Versuch gleich, den Wind in einen Käfig zu sperren. Aber bitte, Ead, warte noch. Lass mich zumindest eine Gesandtschaft zusammenstellen, damit du Verstärkung hast. Geh nicht allein.«
Ead packte den Türgriff fester.
Sabran hatte recht. Ein paar Tage des Wartens würde sie im Osten vielleicht etwas Zeit kosten, aber sie konnten ihr auch den Kopf retten.
Sie wandte sich um. »Ich bleibe.«
Sabran kam quer durch den Raum auf sie zu, die Augen voller Liebe, und umarmte sie. Ead drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe und hielt sie fest umschlungen.
Das Schicksal hatte Sabran grausam mitgespielt. Ihre Kammerfrau war gestorben, während sie schlief, ihr Gefährte war in ihren Armen gestorben, ihre Mutter vor ihren Augen ermordet worden. Ihre Tochter hatte nie auch nur einen Atemzug getan. Ihr Vater, falls er tatsächlich ihr Vater war, war in Yscalin umgekommen, weit außerhalb ihrer Reichweite. Der Verlust hatte sie ihr ganzes Leben lang verfolgt. Kein Wunder, dass sie an Ead so sehr festhielt.
»Du erinnerst dich doch noch an den ersten Tag, als wir zusammen spazieren gegangen sind? Du hast mir von dem Liebesvogel erzählt und davon, dass er den Gesang seines Partners immer wiedererkennt, selbst wenn sie lange getrennt waren«, flüsterte Ead ihr zu. »Mein Herz kennt dein Lied, so wie deines meins kennt. Und ich werde immer zu dir zurückkehren.«
»Ich werde dich beim Wort nehmen, Eadaz uq-Nâra.«
Ead versuchte, sich Sabrans Gesicht einzuprägen, ihren Duft, den klaren Klang ihrer Stimme. Sie wollte sie in ihr Gedächtnis einschließen. »Aralaq wird hierbleiben und dich bewachen. Deshalb habe ich ihn hierhergebracht«, sagte sie. »Er ist eine mürrische Kreatur, aber sehr loyal, und er kann einen Lindwurm in Stücke reißen.«
»Ich werde mich gut um ihn kümmern.« Sabran trat etwas zurück. »Ich muss mich sofort mit den restlichen Herzögen der Spiritualität treffen, um die Zusammensetzung der Gesandtschaft zu besprechen. Sobald der Rest des Konzils der Tugenden eintrifft, unterbreite ich ihnen diesen … diesen Vorschlag über eine Allianz mit dem Osten. Wenn ich ihnen das Absteigende Juwel zeige und ihnen die Bedeutung des Datums klarmache, dann, da bin ich zuversichtlich, werden sie zu meinen Gunsten abstimmen.«
»Sie werden sich bis zum Ende dagegen wehren«, warnte Ead sie. »Aber du hast eine güldene Zunge.«
Sabran nickte. Ihre Miene war fest entschlossen. Ead verließ sie, während sie am Fenster stand und auf ihre Stadt blickte.
Sie ging eine Treppe hinab und trat auf die offene Empore unter dem Königlichen Solarium, wo auf zwölf kleinen Balkonen winterharte Blumen blühten. Als sie zu ihrer Kammertür kam, hörte sie Schritte hinter sich, weich wie Filz.
Schweigend drehte sie sich um. Eine Rote Jungfer stand in einem Sonnenstrahl. Sie hatte ein aus Holz geschnitztes Blasrohr an die Lippen gesetzt.
Der Pfeil hatte ihr Hemd durchbohrt, bevor Ead auch nur Luft holen konnte. Tod strahlte von der Wunde aus.
Sie knickte ein und landete hart mit den Knien auf dem Boden. Zitternd hob sie die Hand an ihren Bauch und ertastete den schlanken Pfeil. Ihre Mörderin packte sie und ließ sie sanft zu Boden gleiten.
»Vergib mir, Eadaz.«
»Nairuj!«, keuchte Ead.
Sie hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Eine Schwester der Priorei konnte ihren Schutzzaubern ausweichen.
Geschmolzenes Glas strömte langsam durch ihre Adern. Ihre Muskeln verkrampften sich um den Pfeil und versuchten, das Gift auszutreiben. »Du hast dein Kind bekommen«, brachte sie mit Mühe heraus.
Ockerfarbene Augen blickten auf sie herab. »Ein Mädchen«, gab sie nach kurzem Zögern zu. »Ich wollte es nicht, Schwester, aber die Priorin hat befohlen, dass du zum Schweigen gebracht werden sollst.« Ead spürte, wie Nairuj den Ring von ihrem Finger drehte, den Ring, der ihr Traum gewesen war. »Wo ist das Juwel, das weiße Juwel?«
Ead konnte nicht antworten. Sie verlor bereits sämtliches Gefühl. Und sie hatte das sonderbare Empfinden, dass ihre Rippen sich auflösten. Als Nairuj an ihrer Kehle nach dem Juwel tastete, packte Ead den Pfeil in ihrem Bauch und zog ihn heraus.
Ihr war so kalt. Das Feuer in ihr erlosch und ließ nur Asche zurück.
»Namenlose Eine ist …« Selbst Atmen war eine Qual. »Frühling. Dritter Tag … des Frühlings.«
»Was ist da los?«
Sabran. Ihre Stimme klang angespannt vor Furcht.
Nairuj bewegte sich wie ein Pfeil. Ead beobachtete durch die Tränen in ihren Augen, wie sich ihre frühere Schwester ein Seidentuch über den Mund zog und über die Balustrade des nächsten Balkons sprang.
Schritte knallten durch den Gang. »Ead …« Sabran nahm sie in die Arme. »Ead!«, keuchte sie. Ihre Gesichtszüge schienen zu verschwimmen. »Sieh mich an. Sieh mich an, Ead, bitte! Sag mir, was sie dir angetan hat! Sag mir, welches Gift …«
Ead versuchte zu sprechen, wollte ihren Namen sagen, nur noch einmal. Wollte ihr sagen, wie leid es ihr tat, dass sie ihr Versprechen brach.
Ich werde immer zu dir zurückkehren.
Dunkelheit umhüllte sie wie ein Kokon. Sie dachte an den Orangenbaum. Nicht du, Ead. Bitte! Die Stimme wurde leiser. Bitte lass mich nicht allein zurück. Sie dachte daran, wie es zwischen ihnen gewesen war, angefangen vom Kerzentanz bis hin zur ersten Berührung ihrer Lippen.
Dann dachte sie nichts mehr.
*
Die Sonne versank über Ascalon. Loth blickte durch das Fenster des von Kerzen beleuchteten Alabasterturms, wo das Konzil der Tugenden den Vorschlag an den Osten debattierte.
Ead lag auf ihrem Bett. Ihre Lippen waren so schwarz wie ihr Haar, und ihr Mieder war geöffnet, sodass man das kleine Loch in ihrem Bauch sehen konnte.
Sabran war ihr nicht von der Seite gewichen. Sie starrte Ead an, als würde ihre fragile Verbindung mit dem Leben abreißen, wenn sie auch nur einen Moment wegsah. Draußen schlich Aralaq durch den Königlichen Garten. Es hatte sehr viel Überzeugungskraft gekostet, den Ichneumon zu überzeugen, Ead zumindest so lange allein zu lassen, dass der Königliche Arzt sie untersuchen konnte. Und selbst dann hatte er noch nach dem Mann geschnappt, als der versucht hatte, sie zu berühren.
Doktor Born ging wie der Zeiger einer Uhr um das Krankenbett. Er maß ihren Herzschlag, fühlte ihre Stirn und betrachtete die Wunde. Als er schließlich den Zwicker absetzte, hob Sabran den Kopf.
»Vicomtess Nurtha ist vergiftet worden«, bestätigte er dann. »Womit, weiß ich leider nicht. Diese Symptome habe ich noch nie gesehen.«
»Die grausame Schwester«, sagte Loth. »Das ist der Name des Giftes.«
Es sollte eigentlich unausweichlich den Tod herbeiführen, doch Ead trotzte wieder einmal ihrem Schicksal.
Der Königliche Leibarzt runzelte die Stirn. »Von einem solchen Gift habe ich noch nie gehört, Vicomte. Und ich weiß nicht, wie ich es aus ihrem Körper ausleiten könnte.« Er blickte wieder auf Ead. »Majestät, mir kommt es vor, als hätte man Vicomtess Nurtha in einen tiefen Schlaf versetzt. Vielleicht kann sie wieder daraus erweckt werden. Vielleicht auch nicht. Wir können nur versuchen, sie so lange, wie wir es vermögen, am Leben zu erhalten. Und für sie zu beten.«
»Ihr werdet sie wieder erwecken!«, flüsterte Sabran. »Ihr werdet eine Möglichkeit finden. Wenn sie stirbt …«
Ihre Stimme brach, und sie ließ den Kopf zwischen die Hände sinken. Der Königliche Leibarzt verbeugte sich.
»Ich bedaure es sehr, Eure Majestät. Wir werden unser Bestes für sie tun.«
Dann zog er sich aus dem Gemach zurück. Als sich die Tür hinter ihm schloss, begann Sabran zu zittern.
»Ich wurde schon in meiner Wiege verflucht. Die Herrin des Waldes hat mich mit einem Zauber belegt!« Sie nahm bei ihren Worten den Blick kein einziges Mal von Ead. »Nicht nur ist meine Krone verloren, sondern alle, die ich liebe, fallen wie Rosen im Winter. Und das immer vor meinen Augen.«
Margret hatte auf der anderen Seite des Bettes Wache gehalten und setzte sich jetzt neben die Königin.
»Denkt nicht so etwas. Ihr seid nicht verflucht, Sab«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Ead ist nicht tot, und wir werden nicht um sie trauern müssen. Wir werden um sie kämpfen und für alles, woran sie geglaubt hat.« Sie warf einen Blick auf Ead. »Und ich sage Euch eines – ich werde Tharian erst heiraten, wenn sie wieder aufgewacht ist. Wenn sie glaubt, diese Narrheit würde sie davor bewahren, mich zum Altar zu führen, dann irrt sie sich gewaltig.«
Loth setzte sich auf den Stuhl, den Margret freigemacht hatte. Dann hob er die verschränkten Finger an die Lippen.
Selbst blutüberströmt in Lasia hatte Ead nicht so verletzlich ausgesehen. Alles Leben und alle Wärme schienen aus ihr gewichen zu sein.
»Ich gehe nach Osten.« Er klang heiser. »Ganz gleich, was das Konzil der Tugenden auch entscheidet, ich muss als dein Repräsentant über Die Tiefe reisen, Sabran. Um eine Allianz auszuhandeln. Und um das andere Juwel zu suchen.«
Sabran schwieg sehr lange. Draußen im Garten stieß Aralaq ein schauriges Heulen aus.
»Ich möchte, dass du als Erstes den Ewigen Kaiser Dranghien Lakseng aufsuchst«, sagte Sabran. »Er ist unvermählt, und folglich haben wir ihm mehr zu bieten. Wenn es uns gelingt, ihn zu überzeugen, kann er vielleicht den Kriegsherrn der Seiiki überreden, sich uns ebenfalls anzuschließen.«
Loth beobachtete sie mit schwerem Herzen.
»Ich werde dich an der Spitze eines Gefolges von zweihundert Personen losschicken. Wenn du den Ewigen Kaiser erreichst, musst du die Macht des Königinnenreichs von Inys repräsentieren.« Jetzt sah sie ihn kurz an. »Du wirst ihn bitten, uns am dritten Tag des Frühlings mit seinem Drachen auf Der Tiefe zu treffen. Es ist nicht genug Zeit, dass du zurückkommen und die Bedingungen dieser Bitte in Inys lange diskutieren kannst. Ich vertraue darauf, dass du diese Allianz mit unseren Interessen im Herzen schmieden wirst, damit das von uns gewünschte Ergebnis zustande kommt.«
»Das werde ich, das schwöre ich dir.«
Es kam Loth vor, als wäre dieser Raum bereits eine Krypta. Er schüttelte den Gedanken ab, trat zu Ead ans Bett und schob ihr eine Locke hinters Ohr. Er weigerte sich zu denken, dass dies ein Lebewohl war.
Würdevoll erhob sich auch Sabran von ihrem Stuhl.
»Du hast versprochen, dass du zu mir zurückkehren würdest«, sagte sie zu Ead. »Königinnen vergessen nie ein Versprechen, das man ihnen gab, Eadaz uq-Nâra.«
Sie stand steif da. Loth nahm sie am Arm und führte sie behutsam aus der Kammer. Er überließ es Margret, über Ead zu wachen.
Dann ging er neben seiner Königin den Korridor entlang. Als sie das Ende des Gangs erreichten, brach Sabran endlich zusammen. Loth nahm sie in die Arme und hielt sie fest, während sie zusammensackte und schluchzte, als hätte man ihr die Seele aus dem Leib gerissen.