21. KAPITEL
Die Elegante
war erst seit einigen Tagen auf See, aber es fühlte sich schon wie Jahrhunderte an. Loth wusste nicht mehr, wie viel Zeit wirklich verstrichen war. Er wusste nur, dass er so schnell wie möglich von diesem Schiff herunterkommen und endlich wieder festen Boden unter den Füßen spüren wollte.
Sabran hatte mit großem Nachdruck für das sogenannte Östliche Vorhaben gestritten. Währenddessen hatte das Konzil der Tugenden jedoch nicht geschlafen. Ihre Hauptsorge galt der Frage, wie das Volk der Inysh auf eine Allianz mit Häretikern und Lindwürmern reagieren würde, eine Allianz, die alles auf den Kopf stellte, was sie kannten.
Nach stundenlanger Debatte darüber, wie diese Entscheidung vom religiösen Standpunkt aus betrachtet gerechtfertigt werden könnte, bei der etliche Beratungen mit dem Kolleg der Sanktarier und eine hitzige Diskussion über das Für und Wider stattfanden, hatte Sabran die Abstimmung zu ihren Gunsten entschieden. Innerhalb eines Tages war die Gesandtschaft aufgebrochen.
Der Plan, so verzweifelt er auch zunächst sein mochte, nahm allmählich Form an. Um ihre Chancen auf einen Sieg auf Der Tiefe zu verbessern, mussten sie die Drakonische Armee spalten. Sabran hatte den Heiligen Ruf zu den Waffen ergehen lassen, und an alle Herrscher sowohl des Tugendtums als auch des Südens geschrieben. In ihren Briefen bat sie die jeweiligen Monarchen, Inys bei der Belagerung und Rückeroberung von Cárscaro am zweiten Tag des Frühlings zu helfen. Ein Angriff auf den einzigen Stützpunkt der Drakonischen Armee würde Fýredel und seine Unterlinge möglicherweise zwingen, in Yscalin zu bleiben und die Stadt zu verteidigen.
Es wäre allerdings gefährlich. Viele würden dabei ums Leben kommen. Es war sogar durchaus möglich, dass sie alle starben – allerdings hatten sie keine andere Wahl. Entweder vernichteten sie den Namenlosen Einen in der Stunde, in der er sich erhob, oder sie mussten mit ansehen, wie er die ganze Welt auslöschte. Loth würde erheblich lieber mit einem Schwert in der Hand sterben.
Seine Mutter war bestürzt gewesen, weil er schon so bald wieder abreiste, aber wenigstens war er diesmal in der Lage gewesen, sich gebührend zu verabschieden. Margret und sie hatten ihn nach Perchling begleitet, wo Sabran ihn erwartet hatte. Sie hatte ihm ihren Krönungsring mitgegeben, damit er ihn dem ewigen Kaiser zeigte. Er hing jetzt an einer Kette um seinen Hals.
Ihre Entschlossenheit war wahrhaftig bemerkenswert. Es war klar, dass sie diese Allianz fürchtete, aber Sabran würde alles für ihre Untertanen tun. Und er spürte auch, dass dies ihre Art war, Ead zu ehren.
Ead. Jedes Mal, wenn er aufwachte, glaubte er, sie wäre da, würde ihn auf diesem Weg begleiten.
Jemand klopfte an die Tür. Loth öffnete die Augen.
»Ja?«
Die Kabinenmaid trat ein und verbeugte sich.
»Vicomte Arteloth«, sagte sie. »Wir sind in Sichtweite des anderen Schiffs. Seid Ihr bereit, von Bord zu gehen?«
»Wir haben den Gebeine-Graben erreicht?«
»Ja, Ser.«
Er griff nach seinen Stiefeln. Das nächste Schiff würde ihn zum Imperium der Zwölf Seen bringen.
»Gewiss. Einen Moment«, sagte er. »Ich komme an Deck.«
Die Frau verbeugte sich und zog sich zurück. Loth nahm seinen Mantel und den Beutel.
Seine Leibwächter warteten vor der Kabine. Statt der Rüstung trugen die Ritter des Leibes, die Sabran ihm zur Verfügung gestellt hatte, nur Kettenhemden unter ihrem Wappenrock, auf dem das königliche Wappen von Inys aufgestickt war. Sie folgten Loth, als er an Deck ging.
Der Himmel war mit Sternen übersät. Loth versuchte, nicht auf das Wasser zu blicken, als er zum Bug der Eleganten
ging, wo die muskulöse Kapitänin mit verschränkten Armen stand.
In Der Tiefe hausten viele Kreaturen, die man in anderen Meeren nicht fand. Er hatte von Sirenen reden hören, die Nadeln als Zähne hatten, oder Fischen, die wie Kerzen glühten, von Bartenwalen, die ein Schiff mit nur einem Schnappen ihrer Kiefer verschlingen konnten. In der Ferne sah Loth den riesigen Umriss eines Kriegsschiffes, auf dem viele Lichter blinkten. Als sie nahe genug gekommen waren, um die Fahne und die Banner zu erkennen, zog er erstaunt die Brauen hoch.
»Die Ewige Rose.
«
»Allerdings«, antwortete die Kapitänin. Sie war eine Inysh mit rötlicher Gesichtshaut und einer massigen Gestalt. »Kapitän Harlau kennt sich in den Gewässern des Ostens bestens aus. Er wird Euch von hier aus gut führen.«
»Harlau«, sagte einer der Ritter des Leibes. »Ist das nicht ein Pirat?«
»Ein Kaperfahrer.«
Der Ritter schnaubte verächtlich.
Die Elegante
ging längsseits der Ewigen Rose.
In Der Tiefe konnte kein Schiff vor Anker gehen, also machten sich die Mannschaften daran, die Schiffe mit Tauen miteinander zu verbinden. Sie trieben in dem endlosen Schwarz umher.
»Da brat mir einer `nen Storch, wenn das nicht Arteloth Beck ist.« Estina Melaugo schlug sich auf die Schenkel, dass es nur so klatschte, und grinste ihn an. »Hätte nicht geglaubt, dass wir Euch noch einmal sehen, Vicomte.«
»Auch Euch einen guten Abend, Mistress Melaugo!« Loth war erfreut, ein bekanntes Gesicht zu sehen. »Allerdings wünschte ich, wir würden uns an einem etwas behaglicheren Ort treffen.«
Melaugo schnalzte mit der Zunge. »Da marschiert dieser Mann einfach nach Yscalin und hat dann Angst vor Der Tiefe. Trocknet Eure Augen und schafft Euren vornehmen Hintern hier hoch, Junkerchen.« Sie ließ eine Strickleiter herab und tippte an die Krempe ihres Hutes. »Danke, Kapitänin Lanthorn. Harlau lässt Euch grüßen.«
»Grüßt ihn auch von mir«, erwiderte die Kapitänin der Eleganten,
»und viel Glück für Euch da draußen, Estina. Passt auf Euch auf.«
»Aber immer.«
Während sich sein Gefolge sammelte, kletterte Loth die Strickleiter hinauf. Er beneidete Kapitänin Lanthorn, die wieder in die blauen Gewässer zurücksegeln durfte. Oben angekommen half Melaugo ihm über die Reling und schlug ihm dann auf den Rücken.
»Wir haben alle gewettet, Ihr wäret tot«, teilte sie ihm ungerührt mit. »Wie bei Halgalant seid Ihr aus Cárscaro entkommen?«
»Mithilfe der Donmata Marosa«, gab Loth zurück. »Ohne sie wäre mir die Flucht nicht gelungen.«
Galle stieg ihm in den Hals, als er an sie dachte. Vielleicht war sie längst die Marionettenkönigin von Yscalin, mit Augen wie Asche.
»Die Marosa.« Melaugo hob eine dunkle Braue. »Hätte nicht erwartet, dass Ihr das sagt. Die Geschichte würde ich gern hören, aber zuerst will Kapitän Harlau Euch sprechen.« Sie stieß einen Pfiff aus, der an die Mannschaft gerichtet war, als die Ritter sich und ihre schweren Rüstungen über das Dollbord wuchteten. »Helft Vicomte Arteloths Leuten die Strickleiter hoch und führt sie in ihre Kabinen. Und zwar ein bisschen flott!«
Die Mannschaft gehorchte, ohne zu zögern. Einige von ihnen nickten Loth sogar grüßend zu, während sie den Angehörigen der Gesandtschaft von Inys halfen, an Deck der Ewigen Rose
zu klettern.
Melaugo führte ihn über die Planken. In seiner von Kerzenlicht erleuchteten Kajüte brütete Gian Harlau gerade mit Gautfred Federbusch, dem Quartiermeister, über einer Seekarte. Eine Frau mit aschfarbener Haut und silbernem Haar stand neben ihnen.
»Ah, Vicomte Arteloth.« Sein Tonfall war eine Spur herzlicher als bei ihrem letzten Treffen. »Willkommen zurück. Setzt Euch.« Er deutete auf einen Stuhl. »Das ist meine neue Kartografin, Hafrid von Elding.«
Die Frau aus dem Norden legte zum Gruß eine Hand auf die Brust. »Freude und Gesundheit wünsche ich Euch, Vicomte Arteloth.«
Loth setzte sich. »Das wünsche ich Euch ebenfalls, Mistress.«
Harlau sah ihn an. Er trug ein Wams mit goldenen Knöpfen.
»Sagt«, forderte er Loth auf, »wie gefällt Euch Die Tiefe, Vicomte?«
»Nicht sonderlich.«
»Hm. Ich würde Euch einen Feigling schimpfen, aber diese Gewässer beunruhigen selbst den hartgesottensten Seefahrer … Und außerdem darf niemand Euch feige nennen, wo Ihr doch so kühn in Euren Untergang marschiert.« Seine Miene zuckte. »Ich frage Euch nicht, wie Ihr Cárscaro entkommen konntet. Was ein Mann tut, um zu überleben, geht nur ihn etwas an. Und ich werde auch nicht fragen, was mit Eurem Freund geschehen ist.«
Loth antwortete nicht, aber sein Magen verkrampfte sich. Harlau winkte ihn zur Karte.
»Ich wollte Euch zeigen, wohin wir segeln, damit Ihr es Euren Leuten sagen könnt. Falls sie sich wegen der Überquerung bei Euch beschweren.«
Harlau beugte sich über die Karte, die die drei bekannten Kontinente der Welt zeigte und die unterschiedlichen Inseln, die sie umgaben. Er tippte mit seinem dicken Knöchel auf die rechte Seite.
»Wir nehmen Kurs auf die Stadt der Tausend Blumen. Um dorthin zu gelangen, müssen wir durch die südlichen Gewässer Der Tiefe, damit wir die Westwinde mitnehmen können. Sie werden unsere Reise um eine oder zwei Wochen verkürzen. Meinen Berechnungen nach sollten wir innerhalb von drei bis vier Wochen in der Sonnensee sein.« Er rieb sich das Kinn. »Von dort an jedoch wird die Reise etwas schwieriger. Wir müssen der Marine der Seiikin ausweichen, die die Rose
als feindliches Schiff betrachten. Und auch den Lindwürmern, die im Osten gesichtet wurden. Sie werden von Valeysa angeführt.«
Loth hatte genug von Fýredel gesehen, um zu wissen, dass er keines seiner Geschwister treffen wollte.
»Wir wollen einen geschlossenen Hafen an der südwestlichen Küste des Imperiums der Zwölf Seen anlaufen.« Harlau deutete auf die Stelle auf der Karte. »Früher, vor dem Seebann, als das Haus Lakseng noch Handel trieb, gab es dort etliche Fabriken. Natürlich war das lange vor dem Zeitalter der Trauer. Wenn wir in diesem Hafen einlaufen, sollte das eine recht nachdrückliche Nachricht an den Kaiser senden.«
»Dass wir eine geschlossene Tür wieder öffnen wollen«, folgerte Loth. »Was wisst Ihr über den Ewigen Kaiser?«
»So gut wie nichts. Lakseng lebt in einem von Mauern umgebenen Palast und kommt im Sommer für eine Parade heraus. Er geht einen Hauch nachsichtiger mit Eindringlingen um als die Salzherren von Seiiki.«
»Warum?«
»Weil Seiiki eine Inselnation ist. Als die Drakonische Seuche ihre Zähne dort hineingeschlagen hatte, hat sie sich wie ein Flächenbrand verbreitet. Sie hätte fast die gesamte Bevölkerung ausgelöscht. Die Lacustrin hatten mehr Raum, um davor zu flüchten.« Harlau sah Loth durchdringend an. »Sorgt Ihr nur dafür, dass der Ewige Kaiser der Hand von Königin Sabran würdig ist, Vicomte. Sie verdient einen Prinzen, der sie wirklich liebt.«
Ein Muskel in seiner Wange zuckte, während er sprach. Dann beugte er sich wieder über die Karte und mahlte mit dem Kiefer, bevor er seine Kartografin zu sich winkte.
»Ich werde alles für Königin Sabran tun, was in meiner Macht steht, Kapitän Harlau«, sagte Loth leise. »Bei meiner Ehre.«
Harlau grunzte.
»Wir haben eine Kabine für Euch vorbereitet. Wenn etwas gegen das Schiff rumst, nässt Euch nicht gleich ein. Das wird nur ein Bartenwal sein.« Er nickte zur Tür. »Mach weiter, Estina. Gib dem Mann etwas zu trinken.«
Als Melaugo ihn über das Achterdeck führte, warf Loth einen letzten Blick auf die langsam kleiner werdende Elegante.
Er versuchte, nicht daran zu denken, dass die Ewige Rose
jetzt ganz allein über Die Tiefe segelte.
Diesmal bekam er eine schönere Kabine als beim letzten Mal. Loth vermutete, dass man ihn nicht wegen eines neugewonnenen Respekts der Mannschaft seinem adligen Blut gegenüber befördert hatte, sondern weil er nach Yscalin gegangen war, diesen Besuch überlebt hatte und davon erzählen konnte.
Und wie er erzählte. Er schilderte seine Abenteuer Melaugo, die auf der Fensterbank saß und zuhörte. Er berichtete ihr von der Einkerkerung der Donmata Marosa und der Wahrheit über den Marionettenkönig von Yscalin. Dann beschrieb er ihr den Tunnel, in dem Kit sein Schicksal ereilt hatte. Aus Loyalität Ead gegenüber ließ er die Teile über die Priorei des Ordens des geheimen Baumes aus. Stattdessen schilderte er, wie er die Spindeln überquert und durch Mentendon nach Inys zurückgeflüchtet war. Als er fertig war, schüttelte Melaugo den Kopf.
»Das tut mir leid, ehrlich. Vicomte Kitston hatte ein gutes Herz.« Sie trank einen Schluck aus der Flasche an ihrem Gürtel. »Und jetzt reist Ihr in den Osten. Ihr habt Euren Mut bereits zweifelsfrei unter Beweis gestellt, aber Ihr werdet es da draußen hart finden.«
»Für das, was ich getan habe, verdiene ich Härte«, antwortete Loth und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Es ist meine Schuld, dass Kit tot ist.«
»Das stimmt nicht. Er hat sich entschieden, Euch zu begleiten. Er hätte in Yscalin, an Bord unseres Schiffes oder gleich ganz zu Hause bleiben können.« Sie reichte ihm die Flasche. Er zögerte kurz, bevor er sie akzeptierte. »Ihr wolltet versuchen, die Menschen aus dem Osten davon zu überzeugen, dass sie genauso viel Hilfe vom Westen brauchen wie umgekehrt. Aber sie haben jetzt schon seit Jahrhunderten allein überlebt. Und eine Allianz mit Königin Sabran, was ein Geschenk für jeden Prinzen auf unserer Seite der Welt wäre, verlockt den Ewigen Kaiser möglicherweise nicht im Geringsten. Für uns ist sie eine Königin, für ihn hingegen eine Gotteslästerung. Ihre Religion fußt auf dem Hass auf Drachen, während seine auf der Bewunderung dieser Kreaturen beruht.«
»Aber nicht auf der Bewunderung der Feuerbrut.« Loth roch vorsichtig an der Flasche. »Die Menschen im Osten beten sie nicht an.«
»Nein, richtig. Sie fürchten den Namenlosen Einen und seinesgleichen genauso wie wir«, räumte Melaugo ein. »Aber Königin Sabran muss vielleicht trotzdem einige Prinzipien opfern, wenn sie Erfolg haben will.«
Loth trank und hustete sofort heftig. Er versuchte den Mund geschlossen zu halten, aber die brennende Flüssigkeit lief ihm aus der Nase. Melaugo lachte.
»Versucht es noch einmal«, forderte sie ihn auf. »Beim zweiten Mal geht es Euch leichter die Kehle herunter.«
Er versuchte es tatsächlich noch einmal. Der Schnaps schien ihm die Haut in Mund und Speiseröhre abzuschälen, aber er wärmte seinen Bauch.
»Behaltet den Flachmann. Ihr werdet ihn hier in Der Tiefe brauchen.« Sie stand auf. »Die Pflicht ruft, aber ich bitte einen unserer lacustrinischen Seefahrer, Euch in ihren Sitten zu unterweisen und Euch vielleicht ein paar Worte ihrer Sprache beizubringen. Wir wollen Euch Seiner Kaiserlichen Majestät ja nicht als völligen Idioten präsentieren.«
*
Dichter Nebel lag über der Ewigen Rose
und hüllte sie selbst tagsüber in Dunkelheit. Die Laternen warfen geisterhaftes Licht auf die Wellen. Wegen der Kälte blieb Loth in seiner Kabine mit Thim, einem Kanonier aus Lacustrin, der abkommandiert worden war, um ihn etwas über das Imperium der Zwölf Seen zu lehren.
Thim war achtzehn Jahre alt und schien über unendliche Geduld zu verfügen. Er unterwies Loth in der Geschichte seines Geburtslandes, das in zwölf Regionen geteilt war. In jeder davon lag einer der Großen Seen. Es war ein riesiges Reich, das an den Herren der Nacht endete, einem gewaltigen Gebirge, das den Weg zum Rest des Kontinents versperrte. Der größte Berg von ihnen war der gnadenlose Brhazat. Thim erzählte Loth, dass viele Menschen aus dem Osten versucht hatten, dem Zeitalter der Trauer zu entkommen, indem sie die Herren der Nacht überquerten, einschließlich der letzten Königin von Sepul. Niemand war zurückgekehrt. Ihre vor langer Zeit erfrorenen Leiber lagen wahrscheinlich immer noch irgendwo im Eis.
Der Ewige Kaiser der Zwölf Seen war das aktuelle Oberhaupt des Hauses von Lakseng. Er war von seiner Großmutter großgezogen worden, der Großen Kaiserin-Witwe. Thim zeigte Loth, wie er sich richtig verbeugen, wie er ihn ansprechen und wie er sich in seiner Gegenwart benehmen musste.
Loth erfuhr, dass Dranghien Lakseng eigentlich kein Gott war, in den Augen seines Volkes jedoch als gottgleich galt. Sein Haus führte seine Abstammung auf den ersten Menschen zurück, der einen Drachen gefunden hatte, nachdem der aus der himmlischen Ebene gestürzt war. Es gab Gerüchte unter den Bürgern, die das Haus Lakseng weder bestätigte noch abstritt, dass einige Herrscher ihrer Dynastie Drachen in menschlicher Gestalt gewesen wären. Ganz sicher war jedoch, dass der Kaiserliche Drache einen Nachfolger unter den legitimen Erben erwählte, wenn ein Herrscher der Lacustrin dem Tode nahe war. Es beunruhigte Loth, dass der Hof einen Kaiserlichen Drachen hatte. Es kam ihm überaus befremdlich vor, sich von Wyrm beaufsichtigen zu lassen.
»Dieses Wort ist verboten!«, erklärte Thim ihm ernst, als er es einmal verwendete. »Wir sprechen unsere Drachen mit ihrem richtigen Namen an, und die geflügelten Bestien aus dem Westen nennen wir Feuerspeier
.«
Loth passte sehr genau auf. Sein Leben konnte von dem abhängen, was er jetzt lernte.
Wenn Thim mit irgendetwas anderem beschäftigt war, vertrieb Loth sich die Zeit mit Kartenspielen mit den Rittern des Leibes, woran manchmal auch Melaugo teilnahm, wenn sie dienstfrei hatte – was allerdings selten vorkam. Wenn sie mitspielte, gewann sie jedes Mal. Wenn die Nacht anbrach, versuchte er zu schlafen. Aber einmal wagte er sich allein an Deck, weil ein sehnsüchtiges Lied ihn aus seiner Koje gelockt hatte.
Die Laternen waren gelöscht, aber die Sterne leuchteten so hell, dass man genug sehen konnte. Harlau stand am Bug und rauchte eine Pfeife, und Loth leistete ihm Gesellschaft.
»Guten Abend, Kapitän …«
»Still.« Harlau stand regungslos wie eine Statue da. »Hör zu.«
Ein Lied wehte über die schwarzen Wogen. Es überlief Loth kalt. »Was ist das?«
»Sirenen.«
»Locken sie uns nicht in den Tod?«
»Nur in den Geschichten.« Rauch quoll aus seinem Mund. »Beobachtet das Meer. Sie besingen das Meer.«
Zuerst sah Loth nur Die Tiefe. Dann verbreitete sich Licht im Wasser wie eine aufblühende Blume und beleuchtete die Oberfläche von unten. Plötzlich sah er Fische, Zehntausende von Fischen, die in allen Farben des Regenbogens strahlten.
Er hatte natürlich die Sagen von den Himmelslichtern von Hróth gehört, aber er hätte nie geglaubt, sie auch unter Wasser zu sehen.
»Da seht Ihr es, Vicomte«, murmelte Harlau. Das Licht schien in seinen Augen zu flimmern. »Schönheit findet man überall.«