24. KAPITEL
OSTEN
Er wachte auf, in brutaler Kälte und unter einem Himmel, der das blasse Violett der anbrechenden Nacht angenommen hatte und alles in Schatten tauchte. Loth brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er gefesselt war.
Die Gischt spritzte ihm ins Gesicht. Sein Herz hämmerte schrecklich, und seine Sinne schienen in zähe Melasse getaucht.
Er blinzelte die Erschöpfung fort. Im dämmrigen Schein der Schiffslaternen erkannte er eine Gestalt am Ruder der Ewigen Rose.
»Kapitän Harlau?«
Es kam keine Antwort. Als sein Blick sich klärte, sah er, dass es sich um die Frau von der Federinsel handelte.
Nein.
Sie hatten keine Zeit, vom Kurs abzuweichen. Er kämpfte gegen seine Fesseln, aber er war mit so viel Tau umwickelt, dass man damit einen Giganten hätte aufhängen können. Thim neben ihm war ebenfalls an den Mast gebunden. Loth stieß ihn mit der Schulter an.
»Thim«, flüsterte er.
Der Kanonier antwortete nicht. Auf seiner Schläfe leuchtete eine große Beule.
Loth drehte den Kopf und musterte die Frau, die sie gefangen genommen hatte. Sie war schlank und musste um die zwanzig Jahre alt sein, vielleicht sogar noch etwas jünger. Kurzes schwarzes Haar umrahmte ein gebräuntes und vom Wind gerötetes Gesicht.
»Wer bist du?«, rief Loth ihr zu. Seine Kehle schmerzte, weil sie trocken war vor Durst. »Warum hast du das Schiff gestohlen?«
Sie ignorierte ihn.
»Ich hoffe, dir ist klar, dass du einen Akt der Piraterie begangen hast, Mistress!«, fauchte Loth wütend. »Wende dieses Schiff sofort, sonst betrachte ich das als eine Kriegserklärung gegen Königin Sabran von Inys.«
Keine Reaktion.
Wer auch immer diese schweigsame Vagabundin war, sie hatte das andere Juwel. Das Schicksal hatte dafür gesorgt, dass sich ihre Wege kreuzten.
Eine etwa handgroße, mit Blumen bemalte Schatulle hing an einer Schärpe um ihre Hüfte. Dort musste sie das Juwel aufbewahren.
Loth nickte ein und döste eine Weile. Durst und Erschöpfung setzten ihm zu, und in seiner Schläfe pochte es schmerzhaft. Irgendwann in der Nacht wachte er blinzelnd auf und fand einen Trinkkürbis an seinen Lippen. Er trank, ohne zu überlegen.
Thim war jetzt ebenfalls wach. Die Frau ließ ihn etwas trinken und unterhielt sich mit ihm in einer fremden Sprache.
»Thim«, murmelte Loth. »Verstehst du sie?«
Die Augen des anderen Mannes waren gerötet. »Ja, Herr. Sie ist eine Seiikin«, erwiderte er langsam. »Sie fragt mich, woher Ihr von dem Juwel wisst!«
Die Frau hockte vor ihnen und beobachtete ihre Gesichter. Im Schein der Laterne, die sie in der Hand hielt, bemerkte Loth die Narbe auf ihrer Wange. »Sag ihr, ich weiß, wo sich das andere Juwel befindet«, sagte er. Er blickte der Frau in die Augen, während Thim übersetzte und sie antwortete.
»Sie sagt, wenn das stimmt«, berichtete Thim, »kannst du ihr auch sagen, welche Farbe es hat.«
»Weiß.«
Als Thim ihr seine Worte übersetzte, beugte sie sich zu Loth und packte seine Kehle.
»Wo?«
Also sprach sie doch etwas Inysh. Ihre Stimme war genauso kalt wie ihre unbewegte Miene.
»Inys«, stieß er aus.
Sie presste die Lippen zusammen. Es waren fein geschnittene Lippen, aber ihr Mund wirkte, als würde sie nur selten lächeln.
»Du musst mir das Juwel geben«, drängte Loth sie. »Ich muss es zu Königin Sabran bringen, damit es mit seinem Zwilling vereint wird. Zusammen können wir sie benutzen, um den Namenlosen Einen zu vernichten. Er wird sich bald wieder erheben, in wenigen Wochen, aus Der Tiefe.«
Stirnrunzelnd teilte Thim diese Worte der Frau auf Seiikin mit. Ihre Miene schien förmlich zu versteinern, bevor sie aufstand und wegging.
»Warte!«, rief Loth ihr frustriert nach. »Bei der Liebe des Heiligen, hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe?«
»Wir sollten sie nicht provozieren, Ser Arteloth«, warnte Thim ihn. »Ohne ein Schiff sitzt die Mannschaft möglicherweise noch Wochen auf der Federinsel fest, wenn nicht gar Monate. Wir sind jetzt die Einzigen, die Königin Sabrans Antrag Seiner Kaiserlichen Majestät überbringen können.«
Er hatte recht. Ihr Plan hing von der Willkür dieser Piratin ab. Loth ließ sich in seine Fesseln sinken.
Thim legte den Kopf in den Nacken und spähte in den Himmel. Loth brauchte einen Moment, bis er begriff, dass der Mann die Sterne las.
»Das ist vollkommen unmöglich«, murmelte Thim. »Wir können nicht in so kurzer Zeit so weit nach Osten gesegelt sein.«
Loth beobachtete die Frau. Eine Hand hatte sie auf das Ruder gelegt, in der anderen hielt sie einen dunklen Stein. Und zum ersten Mal fiel ihm das ununterbrochene Rauschen von Wasser unter dem Rumpf des Schiffes auf.
Sie benutzte das Juwel, um die Rose
anzutreiben.
»Ser«, sagte Thim leise. »Ich glaube, ich weiß, wohin wir segeln.«
»Sag es mir.«
»Wir haben Gerüchte gehört, dass die Goldene Herrscherin, die Anführerin der Flotte des Tigerauges, nach Osten segelt, auf der Suche nach dem Elixier des Lebens. Ihr Schlachtschiff, die Unermüdliche,
hat Kawontay vor noch nicht allzu langer Zeit verlassen. Sie wollten in die Endlose See.«
»Die Flotte des Tigerauges? Was ist das denn?«
»Die größte Piratenflotte, die es je gegeben hat. Sie stehlen Drachen, wann immer sie können, und schlachten sie dann ab.« Thim warf einen verstohlenen Seitenblick auf die Frau. »Wenn sie die Goldene Herrscherin jagt, und ich kann mir nicht vorstellen, warum wir sonst so weit im Osten sein sollten, dann sind wir beide so gut wie tot.«
Loth betrachtete sie. »Sie scheint mir aber eine ausgezeichnete Kämpferin zu sein.«
»Ein einzelner Kämpfer kann es nicht mit hundert Piraten aufnehmen, und nicht einmal die Rose
hat eine Chance gegen die Unermüdliche.
Das Schiff ist eine Festung auf dem Meer.« Thim schluckte. »Aber wir können uns das Schiff vielleicht zurückholen.«
»Und wie?«
»Nun, wenn sie es verlässt, Ser. Ein Kriegsschiff braucht eine riesige Besatzung, aber … Ich nehme an, uns bleibt nur, es zu versuchen.«
Sie schwiegen eine Weile. Loth hörte nichts als das Klatschen der Wellen.
»Da wir nichts Besseres zu tun haben, als zu warten, können wir vielleicht ein Spiel spielen.« Er lächelte den Kanonier müde an. »Bist du gut im Raten, Thim?«
*
Die Sterne brannten wie ein Kerzenmeer am Himmel. Tané hielt den Blick fest darauf gerichtet, während sie das inyshe Schiff steuerte und sowohl den Westwind als auch das Juwel nutzte, um es voranzutreiben.
Der Adelige aus Inys und der Kanonier aus Lacustrin schliefen jetzt endlich. Fast eine Viertelstunde lang hatte Ersterer versucht, die einfachsten Rätsel zu lösen, was Tané zähneknirschend hatte mit anhören müssen.
Ich schließe mich morgens und öffne mich in der Nacht,
und wenn ich offen bin, dann entzücke ich dein Auge.
Ich bin so bleich wie der Mond und lebe auch nur so lange
denn wenn die Sonne aufgeht, siehe, bin ich fort.
Wenigstens hatte er jetzt aufgehört, darüber zu palavern, wie raffiniert das Rätsel war, und sie konnte in Ruhe nachdenken. Wenn sie die Sache richtig abgepasst hatte, dann würde sie noch heute Nacht unter dem Sternbild der Elster segeln.
Ständig das Juwel zu benutzen hatte ihr den Schweiß auf die Haut getrieben. Sie atmete langsam und tief. Auch wenn es ihre Kraft nie lange aufzehrte, spürte sie, dass das Juwel sich von irgendetwas in ihr nährte. Sie war die Saite, und das Juwel war der Bogen, und nur zusammen konnten sie die Geige des Ozeans zum Singen bringen.
»Loth.«
Erschrocken blickte Tané auf das Deck. Der Mann aus Inys war wieder wach.
»Loth«, wiederholte er und tippte auf seine Brust.
Tané richtete den Blick wieder auf die Sterne.
Im Südhaus hatte sie die Grundlagen aller Sprachen gelernt, die auf der bekannten Welt gesprochen wurden. Sie verstand Inysh ziemlich gut, aber es war ihr lieber, dass die Fremden nichts davon wussten. Damit konnte sie sie in dem Glauben wiegen, sie könnten sich frei unterhalten.
»Darf ich deinen Namen erfragen?«, erkundigte sich der Mann aus Inys.
Großer Kwiriki, spül diesen Narren von Bord!
Trotzdem, er wusste von dem Absteigenden Juwel, und das war Grund genug, ihn am Leben zu lassen.
»Tané«, sagte sie schließlich.
»Tané.«
Er sprach den Namen sehr sanft aus. Sie starrte ihn so lange an, bis er den Blick abwandte.
Er konnte nicht älter als dreißig Jahre sein, und auch wenn er im Moment aussah, als wäre ihm das Lachen für immer vergangen, säumten bereits Lachfalten seine vollen Lippen. Seine Haut war von derselben dunkelbraunen Farbe wie seine Augen, die groß und voller Wärme waren. Er hatte eine breite Nase, ein kräftiges unrasiertes Kinn und schwarze, drahtige Locken.
Sie hatte das Gefühl, dass er ein freundlicher Mensch war.
Sofort schüttelte sie diesen Gedanken ab. Er stammte aus einem Land, das auf ihre Götter spuckte.
»Wenn du mich freilässt«, sagte Loth, »kann ich dir vielleicht helfen. Du wirst in ein oder zwei Tagen anhalten müssen. Um zu schlafen.«
»Du unterschätzt, wie lange ich ohne Schlaf auskommen kann.«
Er zog die Brauen hoch. »Du sprichst also Inysh.«
»Das reicht jetzt.«
Der Mann aus dem Westen sah aus, als wollte er weiterreden, schien es sich dann jedoch zu überlegen. Er lehnte sich an den Kanonier und schloss die Augen.
Früher oder später würde sie ihn verhören müssen. Wenn er wusste, wo das andere Juwel war, musste es an die Drachen zurückgegeben werden. Aber vorher musste sie Nayimathun finden.
Als Loth schließlich einschlief, musterte Tané erneut die Sterne und drehte das Steuerruder. Das Juwel fühlte sich wie Eis in ihrer Hand an. Wenn sie so weitermachte, würde sie schon bald in Komoridu sein.
Sie trank einen Schluck aus ihrem Kürbis und blinzelte, weil ihre Augen trocken waren.
Sie musste nichts weiter tun, als wach zu bleiben.
*
Die Endlose See war von einem wunderschönen Saphirblau, das sich fast in Violett verwandelte, als die Sonne unterging. Es gab keine Vögel am Himmel, und so weit das Auge blickte war alles leer.
Ebendiese Leere bereitete Niclays Sorgen. Die fabelhafte Insel Komoridu war nach wie vor nirgendwo zu sehen.
Er nahm einen Schluck aus einer Flasche Rosenwein. Die Piraten waren heute Nacht sehr großzügig gewesen. Ihre Anführerin hatte klargemacht, dass sie in der Schuld des Meisters der Rezepte stünden, wenn sie die größten Reichtümer dieser Welt finden würden.
Wenn sie sie nicht fanden, wussten jetzt auch alle, wer die Schuld daran trug.
Der Tod hatte noch nie sehr viel Macht über ihn gehabt. Er war eine Art alter Freund für ihn, der eines Tages an seine Tür klopfen würde.
Viele Jahre hatte er dem Versuch geopfert, das Elixier der Unsterblichkeit zu erschaffen, und zwar aus dem Geist der Entdeckungsfreude heraus. Er hatte nie vorgehabt, es selbst zu trinken. Schließlich würde der Tod entweder seinem Schmerz ein Ende bereiten oder ihn im Nachleben, das sich als das wahre Leben herausstellen würde, wieder mit Jannart vereinen. Jeder Tag und jeder Schritt, jedes Ticken der Uhr brachte ihn dieser goldenen Möglichkeit näher. Er war es überdrüssig, nur eine halbe Seele zu haben.
Und doch, jetzt, als ihm der Tod vor Augen stand, fürchtete er ihn. Seine Hände zitterten, als er die Flasche erneut ansetzte und mehr von dem Wein trank. Ihm schoss kurz durch den Kopf, dass er besser aufhören sollte zu trinken, weil er einen scharfen Verstand brauchte, aber selbst nüchtern würde er niemals gegen einen Piraten kämpfen können. Da war es schon besser, betäubt zu sein.
Das Schiff pflügte weiter durch das Wasser. Die Nacht malte den Himmel über ihnen in dunklen Farben. Schon bald ging ihm der Wein aus. Er ließ die Flasche ins Meer fallen und sah zu, wie sie von den Wellen weggetragen wurde.
»Niclays.«
Laya kam eilig die kleine Treppe vom Unterdeck hoch, den Schal fest um sich geschlungen. Sie nahm ihn am Arm.
»Er hat voraus etwas gesehen«, sagte sie. Ihre Augen leuchteten, entweder vor Angst oder vor Aufregung. »Der Ausguck.«
»Was für ein Etwas?«
»Land.«
Er starrte sie ungläubig an. Dann folgte er ihr kurzatmig keuchend zum Bug des Schiffes, wo die Goldene Herrscherin neben Padar stand.
»Du hast Glück, Roos«, sagte Erstere.
Sie reichte ihm ihr Fernrohr. Niclays warf einen Blick hindurch.
Fraglos eine Insel. Eine kleine und mit Sicherheit unbewohnte Insel, aber dennoch eine Insel. Er stieß die Luft aus, als er das Fernrohr zurückgab.
»Ich bin froh, das zu sehen, All-Ehrwürdige Goldene Herrscherin«, gab er ehrlich zu.
Sie betrachtete die Insel mit dem gierigen Blick eines Jägers. Als sie sich zu einem ihrer Offiziere umdrehte, warf Niclays einen Blick auf die Kerben an ihrem Holzarm.
»Sie gibt der Schwarzen Taube
den Befehl, die Insel zu umfahren«, murmelte Laya. »Die Hochseewacht könnte uns immer noch folgen oder die Gerüchte über unsere Suche zu anderen Piratenschiffen gedrungen sein.«
»Es dürfte wohl kaum ein anderer Piratenkapitän dumm genug sein, um ein Schiff wie die Unermüdliche
anzugreifen.«
»Die Welt ist voller Narren, Niclays. Und sie sind niemals dümmer, als wenn sie ewiges Leben wittern.«
Das konnte Sabran nur bestätigen.
Ebenso wie Jannart.
Niclays trommelte mit den Fingern auf das Dollbord. Als die Insel näher kam, wurde sein Mund trocken wie Asche.
»Komm mit, Roos«, sagte die Goldene Herrscherin. Ihre Stimme war samtweich. »Du solltest die erste Beute mit uns teilen. Immerhin hast du uns hierhergeführt.«
Er wagte nicht zu widersprechen.
Nachdem sie vor Anker gegangen waren, wandte die Goldene Herrscherin sich an ihre Piraten. Diese Insel, so sagte sie, beherbergte einen Schatz, der all ihre Mühen mehr als entlohnen würde. Das Elixier würde sie alle allmächtig machen. Sie würden die Herren der Meere werden. Ihre Seeleute brüllten und stampften mit den Füßen, bis Niclays fast starr vor Angst war. Jetzt mochten sie vielleicht noch jubeln, aber auch nur der leiseste Ruch von Scheitern, ein kaum hörbares Flüstern, dass sie diesen ganzen weiten Weg vergebens auf sich genommen hatten, würden ihre Freude in mörderischen Zorn verwandeln.
Ein Boot wurde für den Landgang vorbereitet. Laya und Niclays setzten sich zu den etwa zwanzig Angehörigen der Mannschaft, einschließlich der Goldenen Herrscherin, die vor allen anderen ihren Fuß auf diese Insel setzen würde. Mit dabei war Ghonra, ihre Stellvertreterin und Thronerbin. Obwohl Niclays vermutete, dass sie keine Thronerbin brauchte, falls sie das Elixier tatsächlich fanden.
Das Ruderboot glitt langsam aus dem Schatten der Unermüdlichen.
Schon bald erkannte Niclays, dass sie nur die Spitze der Insel sehen konnten. Der größte Teil war vom Meer verschlungen worden.
Als sie nicht weiterrudern konnten, blieben zwei von ihnen beim Boot, und der Rest watete an Land. Als Niclays trockenen Boden unter den Füßen hatte, wrang er sich das Wasser aus dem Hemd.
Dieser Ort konnte sein Grab werden. Er hatte sich immer vorgestellt, in den Staub von Orisima hinabgelassen zu werden. Stattdessen würden seine Knochen nun auf einer verborgenen Insel in der Endlosigkeit einer fernen See bleichen.
Seine Trunkenheit machte ihn langsam. Als Ghonra einen Blick über die Schulter warf und ihn fragend ansah, holte er tief Luft und trottete hinter ihr her, eine Anhöhe aus rutschigen Felsen hinauf.
Schließlich kamen sie in einen dunklen Wald. Der einzige Hinweis auf eine Zivilisation war eine Steinbrücke, auf der sie einen Fluss überquerten. In den Fels dahinter war eine Treppe geschlagen. Die Goldene Herrscherin setzte als Erste ihren Fuß auf die unterste Stufe.
Stundenlang schienen sie diese Treppe emporzusteigen. Endlos schlängelte sie sich zwischen Ahornbäumen und Tannen hindurch.
Es gab keinerlei Gebäude. Keine Wächter des Maulbeerbaums. Sondern nur die Natur, die sich seit Jahrhunderten ungehindert hatte entwickeln können. Wespen summten an ihnen vorbei, und Vögel zwitscherten. Ein Hirsch sprang über ihren Pfad und verschwand wieder in der Dämmerung. Er erschreckte die Hälfte der Piraten so sehr, dass sie ihre Schwerter zogen.
Niclays keuchte. Sein Hemd war durchgeschwitzt. Er wischte sich unablässig die Stirn, allerdings vergeblich, weil sich sofort neue Rinnsale bildeten. Es war schon sehr lange her, dass er sich so angestrengt hatte.
»Niclays«, sagte Laya leise. »Geht es dir gut?«
»Ich sterbe«, presste er hervor. »Bei der Jungfer, ich werde verrecken, bevor wir den Gipfel erreichen.«
Er merkte erst, dass die anderen stehen geblieben waren, als er gegen Ghonra prallte, die ihm ihren spitzen Ellbogen in die Magengrube rammte. Niclays zitterten die Beine, als er den Kopf hob und einen Baum sah. Einen knorrigen uralten Maulbeerbaum. Er war größer als jeder andere Baum, den er jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Nur war er gefällt worden.
Niclays starrte auf den gestürzten Giganten. Sämtliches Gefühl wich aus seinen Beinen. Seine Lippen begannen zu zittern, und heiße Tränen stiegen ihm in die Augen.
Er war hier. Am Ende des Weges der Ausgestoßenen. Das hier hatte Jannart sehen wollen, wegen dieses Geheimnisses war er gestorben. Niclays stand vor der Verwirklichung seines Traumes.
Seines verräterischen Traumes.
Der Maulbeerbaum trug weder Blüten noch Früchte. Er sah mit seiner ungeheuren Masse fast grotesk aus, weit größer in den Proportionen, als es der Natur entsprochen hätte, wie ein Leichnam, der in die Streckbank gespannt worden war. Der Stamm war so dick wie ein Bartenwal. Im Tod griffen seine Zweige nach den Sternen, als könnten sie ihre silbernen Hände ausstrecken und ihm helfen, sich wieder zu erheben.
Die Goldene Herrscherin ging langsam zwischen den toten Ästen umher. Laya nahm Niclays am Arm. Er spürte ihr Zittern und drückte unwillkürlich seine Hand auf ihre.
»Yidagé, Roos!«, rief die Goldene Herrscherin. »Kommt her.«
Laya schloss die Augen.
»Es ist gut.« Niclays sprach leise. »Sie wird dir nichts tun, Laya. Du bist zu nützlich für sie.«
»Ich will nur nicht mit ansehen müssen, wie sie dir wehtut.«
»Ich bin zutiefst verletzt, wie wenig Kampftüchtigkeit du mir zutraust, Mistress Yidagé.« Er hob seinen Stock mit einem schwachen Lächeln. »Ich könnte es nur damit mit allen aufnehmen, glaubst du etwa nicht?«
Sie lachte schluchzend.
»Hier sind Worte eingeritzt«, sagte die Goldene Herrscherin zu Laya, als sie näher gekommen waren. »Übersetze sie.«
Ihr Gesicht verriet keinerlei Emotionen. Laya ließ Niclays los, stieg über einen dicken Ast und kauerte sich neben den Stamm. Einer der Piraten gab ihr eine Fackel, und sie hielt sie vorsichtig in Richtung des Baumes. Die Flammen beleuchteten eine stufenförmige Reihe von geschnitzten Worten.
»Verzeiht mir, All-Ehrwürdige Goldene Herrscherin, aber das kann ich nicht übersetzen. Einige Worte scheinen mir vertraut, aber das meiste davon verstehe ich nicht«, gestand Laya. »Ich fürchte, es übersteigt mein Wissen.«
»Vielleicht kann ich helfen.«
Niclays warf einen Blick über die Schulter. Der seiikinesische Gelehrte, der sich irgendwie stets in der Nähe der Goldenen Herrscherin aufhielt, legte seine welke Hand auf den Stamm, als wären es die sterblichen Überreste eines alten Freundes.
»Die Fackel, wenn ich bitten darf«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern.«
*
Kein Mondlicht verriet das westliche Schiff. Von weit oben in den Rahen beobachtete Tané, wie die Piraten an Land gingen.
Die Ewige Rose
ankerte an einer Stelle, wo die Piraten sie nicht sehen konnten. Nachdem sie das Schiff im richtigen Moment nach Südosten gedreht hatte, waren sie gesegelt, bis ihr Fernrohr ihr eine Insel gezeigt hatte.
Der Älteste Vara glaubte, das Aufsteigende Juwel stamme von hier. Vielleicht fand sie an diesem Ort das Geheimnis, warum das Juwel in ihrer Seite gewesen war – vielleicht auch nicht. Doch jetzt ging es erst einmal nur um Nayimathun.
Der Wind blies ihr Haarsträhnen über das Gesicht. Sie kannte diese Schiffe von ihren Tagen im Südhaus, als sie gelernt hatte, die berüchtigtsten Schiffe in der Flotte des Tigerauges zu identifizieren. Beide hatten die roten Segel der Krankheit gesetzt. Die Schwarze Taube
war nur halb so lang wie die Unermüdliche
und umkreiste die Insel mit geöffneten Stückpforten.
Tané kletterte wieder an Deck zurück. Sie hatte ihre beiden Gefangenen befreit, damit sie ihr helfen konnten.
»Du«, sagte Tané zu Thim. »Du bewachst das Schiff, während ich fort bin.«
Thim musterte sie. »Wohin gehst du?«
»Auf die Unermüdliche.«
»Dort wird man dich in Stücke reißen.«
»Hilf mir zu überleben, und ich sorge dafür, dass ihr unversehrt ins Imperium der Zwölf Seen kommt. Hintergeht mich, und ich lasse euch hier verrecken«, gab Tané zurück. »Ihr habt es in der Hand.«
»Wer bist du?« Thim runzelte die Stirn. »Du kämpfst besser als jeder Soldat. Keiner aus unserer Mannschaft hatte eine Chance gegen dich. Warum wurdest du in die Reihen der Gelehrten eingegliedert und nicht in die der Miduchi?«
Tané gab ihm das Fernrohr.
»Wenn sie dich sehen«, sagte sie statt einer Antwort, »dann feuere eine Kanone zur Warnung ab.«
Aber Thim hatte bereits seine Schlüsse gezogen. Sie konnte sehen, wie der Respekt in seinen Augen aufleuchtete. »Du warst Miduchi.« Thims Blick glitt prüfend über ihr Gesicht. »Warum wurdest du verstoßen?«
»Wer ich bin und wer ich war, hat dich nicht zu kümmern.« Sie nickte Loth zu. »Du kommst mit mir.«
»Ins Meer?« Loth starrte sie an. »Wir werden erfrieren.«
»Nicht, wenn wir uns bewegen.«
»Was hast du auf diesem Schiff vor?«
»Ich werde eine Gefangene befreien.«
Tané wappnete sich, bevor sie zitternd vor Kälte an der Seite des Schiffs herunterkletterte. Dann ließ sie los.
Ihr Körper tauchte in die Dunkelheit ein. Die Kälte raubte ihr den Atem, und sie stieß blubbernd die Luft aus.
Es war schlimmer, als sie erwartet hatte. In Seiiki war sie jeden Tag geschwommen, ganz gleich zu welcher Jahreszeit, aber die Sonnensee war nie so kalt gewesen. Als sie wieder auftauchte, dampfte ihr Atem weiß. Hinter ihr stöhnte Loth vor Unbehagen. Er stand hinter der Reling auf dem Dollbord.
»Spring einfach!«, stieß Tané hervor. »Es geht schnell vorbei.«
Loth kniff die Augen zusammen, und auf seinem Gesicht zeigte sich die Miene eines Todgeweihten, bevor er losließ. Er versank in den Fluten und tauchte einen Moment später keuchend wieder auf.
»Beim Heiligen!«
Seine Zähne klapperten. »Ist das eiska… kalt.«
»Dann solltest du dich bewegen«, erwiderte Tané und schwamm los.
Die Laternen auf der Unermüdlichen
waren gelöscht. Das Schiff war so groß, dass Tané sich keine großen Sorgen wegen der Wachen machte. Sie würden zwei Köpfe im dunklen Wasser niemals sehen. Immerhin waren diese neunmastigen Schatz-Galeonen beträchtlich größer als alle anderen Schiffe und boten reichlich Platz, um einen Drachen aufzunehmen.
Aber es war schwierig, in dem Wasser zu schwimmen. Die Kälte drohte ihre Gliedmaßen zu lähmen. Tané holte tief Luft und tauchte erneut unter die Wellen. Als sie neben der Unermüdlichen
wieder hochkam, folgte Loth direkt hinter ihr. Er zitterte unkontrollierbar. Eigentlich hatte sie durch die Stückpforten in das Schiff eindringen wollen, aber sie waren geschlossen, und sie sah nirgendwo Handgriffe.
Der Anker. Die Kette war die einzige Verbindung zwischen dem Wasser und dem Deck. Sie schwamm am Rumpf entlang, bis sie das Heck erreicht hatte.
Salzwasser und Schweiß vermischten sich auf ihrer Haut, als sie sich aus dem Meer zog und hinaufkletterte. Sie hörte, wie Loth sich hinter ihr abmühte. Jeder Zentimeter, den sie höher kamen, war eine Strapaze. Ihre Gliedmaßen schienen sich nur mühsam an ihre alte Kraft zu erinnern.
Kurz bevor sie oben war, verlor sie den Halt.
Es passierte so schnell, dass sie nicht einmal mehr Luft holen konnte geschweige denn schreien. Eben noch kletterte sie hoch, im nächsten Moment fiel sie – und dann traf sie auf etwas Warmes, Festes. Sie sah hinab. Loth war unter ihr. Ihr Fuß war auf seiner Schulter gelandet.
Sie sah, dass er Mühe hatte, sie beide zu halten, aber dennoch lächelte er. Tané wandte den Blick ab und kletterte weiter.
Ihre Arme zitterten, als sie das gesichtslose Relief des großen Kaiserlichen Drachen am Heck des Schiffs erreichte. Sie kletterte darum herum, zog sich über die Seite und landete leichtfüßig an Deck. Die Goldene Herrscherin mochte auf der Insel sein, aber sie hatte mit Sicherheit Wachen zurückgelassen.
Tané duckte sich und wrang das eisige Wasser aus ihrer Tunika. Loth landete in der Hocke neben ihr. Sie konnte undeutlich die Silhouetten der Piraten erkennen, die an Bord zurückgeblieben waren. Es mussten Hunderte sein!
Die Unermüdliche
war eine Stadt der Gesetzlosen auf dem Meer. Wie alle Piratenschiffe zog auch sie die Missetäter aus vielen Teilen der Welt an. In dieser Dunkelheit konnten sie sich vielleicht unter sie mischen, vorausgesetzt, niemand hielt sie auf. Drei Treppen würden sie zum untersten Deck des Schiffs bringen.
Sie richtete sich auf und verließ ihr Versteck. Loth folgte ihr und hielt den Kopf gesenkt.
Dann waren sie mitten unter den Piraten. Tané konnte kaum ihre Gesichter erkennen. Sie hörte nur Fetzen ihrer Gespräche.
»… schlitze den alten Mann auf, wenn er uns betrogen hat!«
»Er ist doch kein Narr! Welchen Sinn hätte es, wenn er …?«
»Er ist Mentene. Die Seiikin haben ihn sicherlich wie einen Singvogel in einem Käfig in Orisima eingesperrt«, sagte eine Frau. »Vielleicht wollte er lieber sterben, als eingekerkert zu bleiben. So wie der Rest von uns.«
Roos.
Es war unmöglich, dass sie von einem anderen Mentenen redeten.
Ihre Fingerspitzen wurden heiß. Es juckte sie, ihre Hände um seine Kehle zu legen und zuzudrücken.
Es war zwar nicht Roos’ Schuld, dass sie auf die Federinsel geschickt worden war. Dafür trug allein sie selbst die Verantwortung. Aber er hatte sie erpresst. Er hatte es gewagt, von ihr zu verlangen, Nayimathun zu verletzen. Und jetzt half er Piraten, die Drachen fingen und abschlachteten. Für all das hatte er den Tod verdient.
Sie versuchte, ihr Verlangen nach Rache wegzuschieben. Im Moment konnte sie keine Ablenkung gebrauchen.
Sie huschten in die Luke, die zu der Treppe führte, die tief nach unten in den Rumpf hinabging. Am unteren Ende flackerte eine Laterne. Ihre Flamme beleuchtete zwei narbenübersäte Piraten. Beide waren mit Pistolen und Schwertern bewaffnet. Tané ging auf sie zu.
»Wer ist da?«, fragte einer von ihnen rau.
Ein Schrei würde einen ganzen Haufen von Piraten oben an Deck alarmieren. Sie musste sie töten, und zwar lautlos.
Wie Wasser.
Ihr Messer zischte durch die Schatten und bohrte sich in ein Herz. Bevor der andere Wächter reagieren konnte, hatte sie ihm schon die Kehle durchgeschnitten. Tané hatte noch nie einen solchen Ausdruck in den Augen eines Menschen gesehen. Schock. Erkenntnis seiner Sterblichkeit. Die Reduzierung seines Seins auf diese feuchte Stelle an seinem Hals. Ein wortloses Blubbern kam über seine Lippen, und er brach vor ihren Füßen zusammen.
Ein metallischer Geschmack erfüllte ihren Mund. Sie sah zu, wie das Blut aus ihm herausquoll. Im Licht der Laternen wirkte es schwarz.
»Tané«, sagte Loth.
Ihre Haut war so kalt wie das Schwert in ihrer Hand.
»Tané.« Seine Stimme klang heiser. »Bitte, wir müssen uns beeilen.«
Zwei Leichen lagen vor ihr. Ihr drehte sich der Magen um, und die Schwärze überkam sie wie eine Wolke von Fliegen.
Sie hatte getötet. Nicht indirekt, wie sie Susa getötet hatte. Diesmal hatte sie mit eigener Hand Leben ausgelöscht.
Benommen hob sie den Kopf. Loth nahm die Laterne, die über den Leichen hing, und hielt sie ihr hin. Sie packte sie mit zitternder Hand, dann gingen sie weiter in den Bauch des Schiffs hinein.
Sie würde den Großen Kwiriki um Vergebung bitten, später. Doch zunächst einmal musste sie Nayimathun finden.
Zuerst sah sie nur Proviant. Fässer mit Wasser, Säcke mit Reis und Hirse. Kisten, die mit Beute gefüllt sein mussten. Als ihr dann etwas Grünes ins Auge fiel, stieß sie den Atem aus.
Nayimathun.
Sie atmete noch. Die Ketten hielten sie fest, und eine Wunde hatte sich entzündet, wo man Schuppen aus ihrem Körper geschnitten hatte. Aber sie atmete noch.
Loth schlug ein Zeichen auf seiner Brust. Er sah aus, als hätte er seinen Untergang gesehen.
Tané sank vor der Göttin auf die Knie, die einst ihre Familie gewesen war, und legte achtlos Schwert und Laterne beiseite.
»Nayimathun.«
Keine Antwort. Tané versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Tränen traten ihr in die Augen, als sie sah, welche schrecklichen Wunden die Ketten hinterlassen hatten.
Eine Träne lief ihr über das Kinn. Sie kochte vor Verachtung. Kein Mensch mit einer Seele im Leib würde einem lebendigen Wesen so etwas antun. Und niemand mit einem Funken Scham würde eine Göttin so behandeln. Die Drachen hatten so viel geopfert, um die Sterblichen zu beschützen, die die Welt mit ihnen teilten. Dafür bekamen sie von den Sterblichen nur Bosheit und Gier zurück.
Nayimathun atmete immer noch. Tané strich mit einer Hand über ihre Schnauze. Dort waren die Schuppen so trocken wie Kalkschulp. Es war unaussprechlich grausam, dass die Piraten sie so lange vom Wasser ferngehalten hatten.
»Große Nayimathun.« Sie flüsterte den Namen. »Bitte. Ich bin es. Tané. Lass mich dich nach Hause bringen.«
Ein Auge öffnete sich langsam. Das Blau war gedämpft, wie der letzte Strahl eines schon lange erloschenen Sterns.
»Tané.«
Sie hatte wahrhaftig niemals geglaubt, diese Stimme noch einmal zu hören.
»Ja.« Eine weitere Träne lief ihr über die Wange. »Ja, Große Nayimathun. Ich bin hier.«
»Du bist gekommen.« Nayimathuns Atemzüge klangen angestrengt. »Du hättest nicht kommen dürfen.«
»Ich hätte früher kommen müssen.« Tané senkte den Kopf. »Vergib mir. Vergib mir, dass ich zugelassen habe, dass sie dich gefangen genommen haben.«
»Offenbar hat jemand eben dich angegriffen«, grollte die Drachin. Ein Zahn fehlte in ihrem Unterkiefer. »Du bist verletzt.«
»Das ist nicht mein Blut.« Mit zitternden Händen öffnete Tané die Schatulle an ihrer Hüfte und rollte ungeschickt das Juwel heraus. »Ich habe eines der Juwelen gefunden, von denen du gesprochen hast, Nayimathun. Es war in die Seite meines Körpers eingenäht.« Sie hielt es hoch, sodass die Drachin es sehen konnte. »Dieser Mann aus dem Westen behauptet, er wüsste, wer das Gegenstück hat.«
Nayimathun betrachtete lange das Juwel und sah dann Loth an. Der zitterte von Kopf bis Fuß.
»Wir können darüber sprechen, wenn wir in Sicherheit sind«, sagte sie. »Aber indem du diese Juwelen gefunden hast, hast du uns eine Möglichkeit gegeben, gegen den Namenlosen Einen zu kämpfen. Allein dafür, Tané, steht jeder Drache, der noch atmet, in deiner Schuld.« Ein schwaches Licht leuchtete zwischen ihren Schuppen hindurch. »Ich bin immer noch stark genug, um den Rumpf zu zerbrechen, aber dafür muss ich frei sein. Du brauchst den Schlüssel für meine Ketten.«
»Sag mir, wer ihn hat.«
Die Drachin schloss erneut ihre Augen.
»Die Goldene Herrscherin«, sagte sie.