30. KAPITEL
WESTEN
Feuchte Haut rieb an seiner Haut, und eine Hand strich sanft über sein Haar. Das war das Erste, was er spürte, bevor die Qual in seinen Schlaf drang, scharf und rachsüchtig.
Die Luft brannte in seinem Mund. Sie stank nach Schwefel. Ein Wimmern entfuhr ihm.
»Jan.«
»Leise, Niclays.«
Er kannte diese Stimme. »Laya«, wollte er sagen, aber er brachte nur ein Stöhnen zustande.
»Oh, Niclays, den Göttern sei Dank.« Sie drückte ihm einen nassen Lappen auf die Stirn, als er wimmerte. »Du musst ruhig sein.«
Die Erinnerung an die Ereignisse von Komoridu flammte auf. Er ignorierte ihr Flehen, still zu sein, und griff nach seiner Kehle. Wo ihm die Klinge einer Piratin einen zweiten Mund geschlitzt hatte, fühlte er glänzende zarte Haut – die Narbe von einem Brenneisen. Er hob den Arm, der in einem angeschwollenen Stumpf endete, über dessen Ende sich ein Flickwerk aus schwarzen Nähten zog. Tränen quollen ihm aus den Augen.
Er war Anatom. Selbst in seinem benebelten Zustand wusste er, dass diese Wunde ihn so gut wie sicher hätte töten müssen.
»Still.« Laya strich ihm über das Haar. Ihre Wangen waren ebenfalls feucht. »Es tut mir so leid, Niclays.«
Ein ekelhaftes Pochen schmerzte in seinem Arm. Er nahm den Lederstreifen, den sie ihm reichte, und biss so fest er konnte darauf, um nicht zu schreien.
Ein Knarren drang in sein Bewusstsein. Langsam wurde ihm klar, dass das Schwanken nicht etwa mit dem Schmerz zusammenhing, sondern damit, dass Laya und er in einem eisernen Käfig saßen.
War er vorher schon ängstlich gewesen, drohte er jetzt vor Angst den Verstand zu verlieren. Erst dachte er, die Goldene Herrscherin hätte sie an Land abgesetzt und dem Hungertod ausgeliefert. Dann erinnerte er sich an das Letzte, was er vor seiner Ohnmacht gehört hatte. An das Klatschen von Drachenschwingen.
»Wo?«, keuchte er. Allein bei diesem einen Wort musste er sich beinahe übergeben. »Laya. Wo sind wir?«
Laya schluckte so schwer, dass er die Bewegung in ihrer Kehle sehen konnte. »Im Furchtberg.« Sie zog ihn an sich. »Es muss der Furchtberg sein. Solche roten Adern im Fels hat kein anderer Berg.«
Der Geburtsort des Namenlosen Einen. Niclays wusste, dass er sich eigentlich vor Furcht in die Hose machen müsste, aber er hatte nur einen Gedanken, nämlich wie nah er an Brygstad war.
Er unterdrückte ein Aufkeuchen. Der Abstand zwischen den Stangen war groß genug, um sich hindurchzuzwängen, aber den Sturz konnten sie beide nicht überleben. In der sonnenlosen Höhle konnte er schwach eine gewaltige Fläche Schuppen ausmachen.
Rote Schuppen.
Aber nicht von einer lebendigen Bestie. Nein – sie waren als Memento auf die Wand dieser Höhle gemalt worden. Es zeigte eine Frau mit einer Kriegskappe aus Lasia, die sich dem Namenlosen Einen entgegenstellt und ihr Schwert in seine Brust bohrt.
Das Schwert war unverkennbar Ascalon. Und die Frau, die es benutzte, musste Cleolind Onjenyu sein, die Prinzessin des Reichs von Lasia.
Rote Schuppen. Rote Schwingen. Das ungeheuerliche Biest bedeckte den größten Teil der Wand. Wie im Delirium begann Niclays die Schuppen zu zählen, während Laya seine Stirn abtupfte. Er würde alles tun, um sich von den Qualen abzulenken. Er hatte sie zweimal gezählt, bis er in einen unruhigen Dämmerschlaf fiel und von Schwertern, Blut und einer rothaarigen Leiche träumte. Als Laya sich neben ihm anspannte, öffnete er die Augen.
Eine ganz in Weiß gekleidete Frau war in der Höhle aufgetaucht. Jetzt wusste er, dass er delirierte.
»Sabran!«, stieß er hervor.
Es musste ein Fiebertraum sein. Sabran Berethnet stand vor ihm. Ihr schwarzes Haar betonte die wächserne Blässe ihrer Haut. Ihre angebliche Schönheit hatte ihn immer frösteln lassen, als wäre er mit einem Fuß durch eine dünne Eisschicht gebrochen.
Ihr Gesicht kam näher. Diese Augen, dieses cremige Jadegrün.
»Hallo, Niclays«, sagte die Frau. »Mein Name ist Kalyba.«
Er konnte nicht einmal krächzen. Sein Körper war ein vollkommen gefühlloser Gegenstand, unbeweglich und kalt.
»Ich nehme an, du bist ein wenig verwirrt.« Ihre Lippen waren so rot wie ein reifer Apfel. »Ich bedaure, dass ich dich so weit habe wegschaffen müssen, aber du standest an der Schwelle des Todes. Und ich finde die Verschwendung von Leben geschmacklos.« Sie legte ihm eine eisige Hand auf den Kopf. »Ich will es dir erklären. Ich bin vom Ersten Blut, wie Neporo, deren Geschichte man dir in Komoridu vorgelesen hat. Ich habe vom Weißdornbaum gegessen, als Inys noch keine Königin hatte.«
Selbst wenn Niclays etwas anderes als Wimmern hätte hervorbringen können, hätte er nicht gewusst, was er in der Gegenwart dieses Wesens hätte sagen sollen. Laya umklammerte ihn fester und zitterte am ganzen Körper.
»Ich nehme an, du weißt, wo du bist. Ich kann mir vorstellen, dass es dich ängstigt, aber dieser Ort ist sicher. Ich habe ihn vorbereitet, verstehst du? Für den Frühling.« Kalyba strich ihm mit spöttischer Sanftheit eine Haarsträhne aus den Augen. »Der Namenlose Eine ist hierhergekommen, nachdem Cleolind ihn verwundet hatte. Er bat mich, einen Künstler zu suchen, der diese Geschichte an die Wände malen konnte, um zu zeigen, was an jenem Tag in Lasia geschehen ist. Damit er sich auf ewig daran erinnern konnte.«
Niclays hätte sie vielleicht für dem Wahnsinn verfallen gehalten, wenn er sich nicht selbst verrückt vorgekommen wäre. All das musste ein Albtraum sein.
»Unsterblichkeit ist meine Gabe«, flüsterte Kalyba. »Im Gegensatz zu Neporo jedoch habe ich gelernt, diese Gabe zu teilen. Und sogar die Toten zum Leben zu erwecken.«
Jannart.
Ihr Atem war so kalt wie die Luft im eisigsten Winter. Niclays starrte sie an, vollkommen fasziniert von ihren Augen.
»Ich weiß, dass du ein Alchemist bist. Erlaube mir, diese Gabe mit dir zu teilen. Dir zu zeigen, wie du die Säume des Alters lösen kannst. Ich könnte dir sogar beibringen, wie du einen Menschen aus der Asche seiner Knochen wiederauferstehen lassen kannst.«
Ihr Gesicht veränderte sich. Das Grün ihrer Augen verwandelte sich in Grau, und ihr Haar wurde rot wie Blut.
»Dafür möchte ich dich nur um einen winzigen Gefallen bitten«, sagte Jannart, »nur einen winzig kleinen Gefallen.«
*
Es war das erste Mal seit vielen Jahrzehnten, dass das Haus Berethnet die Herrscher des Südens empfing. Ead stand rechts neben Sabran und beobachtete die Monarchen.
Jantar Taumargam, der Großzügige, hatte genau die Ausstrahlung, die sein Beiname versprach. Es war nicht seine körperliche Präsenz, denn er war zierlich und schlank wie eine Feder, auf den ersten Blick wirkte er fast gebrechlich. Seine Augen jedoch waren wie tiefe Brunnen. Sobald er jemanden mit seinem Blick gebannt hatte, gehörte er ihm, bis er ihn wieder freigab. Er trug eine saphirfarbene Brokatrobe mit einem hohen Kragen, die mit einem goldenen Riemen geschlossen wurde. Seine Königin Saiyma war bereits auf dem Weg nach Brygstad.
Neben ihm stand die Hohe Herrscherin von Lasia.
Mit fünfundzwanzig war Kagudo Onjenyu die jüngste Monarchin der bekannten Welt, aber ihre Haltung und ihre Ausstrahlung machten deutlich, dass jeder, der sie nicht ernst nahm, einen hohen Preis dafür zahlen würde. Ihre Haut war dunkelbraun. Muscheln der Kaurischnecke lagen um ihren Hals und ihre Handgelenke, und jeder einzelne ihrer Finger glänzte von Gold. Auf ihren Schultern lag ein Schal aus Seeseide, nach Art der Kumenga. Seit dem Tag ihrer Geburt waren stets vier Schwestern der Priorei dafür abgestellt, sie zu beschützen.
Nicht dass Kagudo besonders schutzbedürftig gewesen wäre. Die Gerüchte wollten wissen, dass sie eine ebenso großartige Kriegerin war, wie Cleolind es einst gewesen war.
»Wie Ihr wisst, ist die mentenische Armee nur klein«, sagte Sabran gerade. »Die Wolfsmäntel von Hróth werden eine große Hilfe sein, ebenso wie ihre Marine, die mit meiner zusammen kämpft. Aber dennoch brauchen wir mehr Soldaten.« Sie machte eine Pause und atmete mehrmals durch. Karr warf ihr einen besorgten Blick zu. »Ihr habt beide genügend Soldaten und Waffen zur Verfügung und seid stark genug, um Sigosos Armee aufzuhalten.«
Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sabran hatte darauf bestanden, die Südlichen Herrscher persönlich zu begrüßen, aber Ead wusste, dass ihre Haut immer noch glühte.
Tané lag derweil selbst mit Fieber im Bett. Sie hatte von der Frucht gegessen. Sabran hätte die Frau aus dem Osten gern dabeigehabt, aber es war besser für sie, wenn sie schlief. Sie brauchte viel Kraft für die Aufgabe, die vor ihr lag.
»Die Ersyr hält nicht viel von Konflikten«, antwortete Jantar. »Der Morgensänger spricht sich gegen den Krieg aus. Aber wenn die Gerüchte zutreffen, die wie ein Lauffeuer durch mein Land gehen, dann haben wir anscheinend keine andere Wahl, als zu den Waffen zu greifen.«
Die Südlichen Monarchen waren im Schutz der Nacht angekommen. Als Nächstes würden sie zu Saiyma nach Brygstad reisen, um sich dort mit der Hohen Prinzessin Ermuna zu beraten. Es war viel zu riskant, mittels Briefen über eine Strategie zu konferieren.
Keiner der Herrscher trug seine Krone. An diesem Tisch saßen sie sich als Gleichgestellte gegenüber.
»Cárscaro wurde niemals eingenommen«, merkte Kagudo an. Ihre Stimme klang so volltönend, dass die Anwesenden sich unwillkürlich etwas gerader hinsetzten. »Die Vetalda haben die Stadt aus gutem Grund in die Berge gebaut. Ein Angriff über die vulkanische Ebene wäre Wahnsinn.«
»Der Meinung bin ich auch.« Jantar beugte sich vor und betrachtete die Karte. »Die Spindeln sind von Wyrm verseucht.« Er tippte mit einem Finger darauf. »Yscalin hat auf drei Seiten einen natürlichen Schutz. Aber nicht an seiner Grenze mit Lasia.«
Kagudo blickte mit unbewegter Miene auf die Karte.
»Vicomte Arteloth Beck war im Sommer im Palast der Erlösung«, sagte Sabran. »Dort hat er erfahren, dass das Volk von Cárscaro keineswegs ein williger Diener des Namenlosen Einen ist. Wenn wir König Sigoso absetzen können, wird Cárscaro von innen heraus fallen, vielleicht sogar ohne Blutvergießen.« Sie zeigte auf der Karte auf die Stadt. »Unter dem Palast gibt es einen Belagerungsgang. Die Donmata Marosa scheint tatsächlich eine Verbündete zu sein, und sie kann uns vielleicht von innen heraus helfen. Wenn eine kleine Gruppe von Soldaten sich den Weg durch diesen Gang kämpfen und den Palast erreichen kann, bevor der Hauptangriff erfolgt, könnte man Sigoso ein Ende bereiten.«
»Das wird aber nicht die Wyrm töten, die Cárscaro verteidigen«, wandte Kagudo ein.
Ein Lakai kam und schenkte ihnen Wein ein. Ead lehnte ab. Sie brauchte einen klaren Kopf.
»Du solltest wissen, Sabran«, fuhr Kagudo fort, »dass ich mein Siegel nicht unter diese Belagerung setzen würde, wäre sie nicht für Lasia so wichtig. Ehrlich gesagt finde ich es höchst fragwürdig, unsere Soldaten für eine solch blutige Ablenkung zu opfern, während Ihr Euch dem Namenlosen Einen stellt. Ihr habt entschieden, dass wir gegen die Kätzchen kämpfen und Ihr gegen die Katze, dabei kann er genauso schnell mein Reich angreifen.«
»Die Idee mit der Ablenkung war mein Vorschlag, Majestät«, warf Ead ein.
Jetzt blickte die Hohe Herrscherin von Lasia sie zum ersten Mal an. Ead spürte ein Kribbeln im Nacken.
»Vicomtess Nurtha«, sagte Kagudo.
»Königin Sabran hat den Angriff auf Cárscaro vorgeschlagen, aber ich habe ihr empfohlen, dem Namenlosen Einen auf Der Tiefe zu begegnen.«
»Verstehe.«
»Selbstverständlich«, fuhr Ead fort, »seid Ihr vom Blut und die Thronfolgerin des Hauses Onjenyu, dessen Land der Namenlosen Eine vor allen anderen verwüstet hatte. Wenn Ihr diese Grausamkeit an Eurem Volk rächen wollt, übergebt einem Eurer Generäle den Befehl über die Belagerung von Cárscaro. Und gesellt Euch zu uns auf das Meer.«
»Ich wäre sehr dankbar für Euer Schwert, Kagudo«, sagte Sabran. »Wenn Ihr Euch für meine Front entscheiden würdet.«
»Wirklich?« Kagudo nippte an ihrem Wein. »Ich kann mir ungefähr ausmalen, wie sehr Ihr die Gesellschaft einer Häretikerin genießen würdet.«
»Wir nennen Euch nicht mehr Häretiker. Wie ich in meinem Brief versprochen habe, sind diese Tage zu Ende.«
»Sieh an, das Haus Berethnet hat also nur tausend Jahre und eine Krise dieser Größenordnung benötigt, um seine eigenen Lehren der Höflichkeit zu befolgen.«
Sabran war klug genug, um sie laut überlegen zu lassen. Kagudo betrachtete Ead eine Weile.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Raunus soll mit Euch gehen. Er ist ein Seefahrer, und mein Volk hat Vorrang vor einem uralten Groll. Sie wollen ihre Herrscherin auf dem Schlachtfeld in ihrer Heimat sehen. Außerdem hat Cárscaro unser Reich schon viel zu lange bedroht.«
Von da an ging es nur noch um Strategie. Ead versuchte zuzuhören, aber sie war mit ihren Gedanken woanders. Die Konzilskammer schien ihr bedrückend eng, und schließlich stand sie auf. »Wenn Eure Majestät mich entschuldigen würden.«
Sie alle hörten auf zu reden.
»Selbstverständlich, Vicomtess Nurtha.« Jantar lächelte kurz.
Sabran sah ihr nach. Ebenso Kagudo.
Draußen war die Nacht heraufgezogen. Ead benutzte ihren Schlüssel, um in den Königlichen Garten zu schlüpfen, wo sie sich auf eine Steinbank setzte und den Rand umklammerte.
Sie musste Stunden dort gehockt haben, in Gedanken versunken. Zum ersten Mal fühlte sie das Gewicht der Verantwortung wie einen Felsbrocken auf ihren Schultern.
Alles kam jetzt darauf an, dass sie und Tané die Juwelen richtig einsetzten. Tausende von Leben, ja das Überleben der Menschheit hingen an diesen beiden Steinen. Einen anderen Plan gab es nicht. Nur die Hoffnung, dass die beiden Fragmente einer Legende in der Lage sein würden, diese Bestie aus dem Furchtberg erneut zu binden. Jeder Moment, den sie länger am Leben blieb, war ein Moment, in dem Soldaten im Vorgebirge von Cárscaro starben. Und in jedem dieser Momente würde ein anderes Schiff brennen.
»Vicomtess Nurtha.«
Ead blickte hoch. Am Himmel zeigte sich das erste Licht, und Kagudo Onjenyu stand vor ihr.
»Euer Majestät.« Sie erhob sich.
»Bitte, behaltet Platz.« Kagudo trug jetzt einen pelzgefütterten Mantel, der mit einer Brosche über einer Schulter befestigt war. »Ich weiß, dass die Schwestern der Priorei keinen anderen Souverän akzeptieren als Die Mutter.«
Ead erwies ihr trotzdem diese Ehre. Es stimmte, dass die Priorei nur ihre Priorin als Herrscherin akzeptierte, aber Kagudo war vom Blut der Onjenyu, der Dynastie Der Mutter.
Kagudo betrachtete sie mit offenkundigem Interesse. Die Hohe Herrscherin war auf eine Art und Weise schön, die einem kurz das Herz stehen bleiben ließ. Ihre Augen waren lang und schmal, bogen sich an den Ecken nach oben und saßen tief über breiten Wangenknochen. Als sie jetzt vor ihr stand, konnte Ead den orangefarbenen prachtvollen Rindenstoff ihres Rockes sehen. Und sie hatte die Mütze der königlichen Kriegerin aufgesetzt.
»Ihr schient tief in Gedanken gewesen zu sein«, sagte die Herrscherin.
»Ich habe viel zu bedenken, Majestät.«
»Wie wir alle.« Kagudo warf einen Blick auf den Alabasterturm. »Unser Kriegsrat ist zu Ende, einstweilen. Vielleicht möchtet Ihr ein Stück mit mir gehen. Ich brauche frische Luft.«
»Es wäre mir eine Ehre.«
Sie folgten dem Kiesweg, der sich durch den Königlichen Garten schlängelte. Kagudos Leibwachen mit ihren goldenen Armreifen gingen unmittelbar hinter ihnen. Sie trugen gefährlich aussehende Speere.
»Ich weiß, wer Ihr seid, Eadaz uq-Nâra.« Kagudo sprach Selinyi. »Chassar uq-Ispad hat mir schon vor vielen Jahren von dieser jungen Frau erzählt, deren Pflicht darin bestand, die Königin von Inys zu bewachen.«
Ead hoffte, dass sie nicht so überrascht aussah, wie sie sich fühlte.
»Ich nehme an, Ihr wisst bereits, dass die Priorin tot ist. Und was die Priorei angeht – es scheint, dass eine Hexe sie besetzt hat.«
»Ich habe gebetet, dass es nicht stimmen möge«, sagte Ead.
»Unsere Gebete werden nicht immer erhört«, erwiderte Kagudo. »Zwischen Eurem und meinem Volk besteht schon lange eine Verbindung. Cleolind von Lasia stammte aus meinem Haus. Wie meine Vorfahrin habe ich unsere Beziehung zu ihren Mägden immer geehrt.«
»Eure Unterstützung war entscheidend für unseren Erfolg.«
Kagudo blieb stehen und drehte sich zu ihr herum. »Ich werde jetzt ganz offen sprechen«, sagte sie. »Ich wollte, dass Ihr ein Stück mit mir geht, weil ich Euch kennenlernen wollte. Ich wollte Euch persönlich treffen. Immerhin kommt schon bald die Zeit, wo die Roten Jungfern eine andere Priorin wählen müssen.«
Das Gewicht von ihren Schultern sackte jetzt in ihren Bauch. »Dabei habe ich kein Mitspracherecht. In der Priorei gelte ich als Verräterin.«
»Mag sein. Aber es ist sehr gut möglich, dass Ihr Eurem ältesten Feind gegenübertretet. Und solltet Ihr den Namenlosen Einen töten können … Nun, in dem Fall würden Euch Eure Verfehlungen zweifellos vergeben werden.«
Wenn es dazu nur käme!
»Mita Yedanya blickte, anders als ihre Vorgängerin, vor allem nach innen. Gewiss, etwas Verinnerlichung ist vernünftig, sogar notwendig. Wenn Euer Aufstieg zu Eurer hohen Position am Hof von Inys jedoch irgendetwas aussagt, Eadaz, dann dass Ihr ebenfalls nach außen blickt. Ein wahrer Herrscher sollte beides vermögen.«
Ead ließ diese Worte in ihrem Inneren Wurzeln schlagen. Vielleicht würde niemals etwas daraus erwachsen, aber der Samen war da.
»Habt Ihr denn nie davon geträumt, Priorin zu werden?«, wollte Kagudo wissen. »Immerhin seid Ihr eine Nachfahrin von Siyāti uq-Nâra. Der Frau, die Cleolind für würdig erachtete, ihre Nachfolgerin zu werden.«
Natürlich hatte sie davon geträumt. Jedes Mädchen in der Priorei wollte eine Rote Jungfer sein, und jede Rote Jungfer hoffte, dass sie eines Tages die Repräsentantin Der Mutter werden würde.
»Ich weiß nicht, ob dieser Blick nach außen mir gut gedient hat«, erwiderte Ead ruhig. »Ich wurde verbannt und als Hexe beschimpft. Eine meiner eigenen Schwestern wurde ausgeschickt, um mich zu ermorden. Ich habe acht Jahre lang Königin Sabran beschützt, in dem Glauben, dass sie vom Blut Der Mutter wäre, nur um herauszufinden, dass sie es niemals war.« Kagudo lächelte knapp. »Ihr habt das nie geglaubt?«
»Aber nein, keinen Moment lang. Wir beide wissen, dass Cleolind Onjenyu, die bereit war, für ihr Volk zu sterben, dieses Volk niemals für Galian Berethnet verlassen hätte. Und Ihr wusstet es auch, selbst wenn Ihr keinen Beweis dafür hattet. Aber die Wahrheit neigt stets dazu, ans Licht zu kommen.«
Die Hohe Herrscherin hob ihr Gesicht. Der Mond verblasste allmählich am Himmel.
»Sabran hat mir versprochen, dass die Welt nach dem Ende unserer Kämpfe erfährt, wer den Namenlosen Einen vor tausend Jahren vertrieben hat; dafür will sie sorgen. Sie wird Der Mutter wieder zu ihrer wahren Bedeutung verhelfen.«
Diese Wahrheit würde das Tugendtum bis in seine Grundmauern erschüttern. Sie würde wie der Klang einer gewaltigen Glocke über alle Kontinente hallen.
»Ihr seht genauso überrascht aus, wie ich es war«, sagte Kagudo und verzog die Lippen. Ead war nicht klar, ob es ein Lächeln war. »Jahrhunderte von Lügen wird man nicht an einem Tag ungeschehen machen können, selbstverständlich nicht. Die Kinder der Vergangenheit sind in dem Glauben gestorben, dass Galian Berethnet das Schwert geschwungen hat, und dass Cleolind Onjenyu nichts weiter war als die kuhäugige verzückte Braut an seiner Seite. Das wird man nicht ungeschehen machen können, ebenso wenig wie man die Wunden zu heilen vermag, die dadurch geschlagen wurden. Aber zumindest werden die Kinder von morgen mit der Wahrheit leben.«
Ead wusste, welchen Schmerz dieses Geständnis Sabran bereiten würde. Wenn sie endlich und öffentlich ihre Bande zu der Frau durchtrennte, die sie als Jungfer gekannt hatte. Die Frau, deren wahre Geschichte sie niemals erfahren hatte.
Aber sie würde es trotzdem tun. Denn es war das Richtige, das Einzige, was sie tun konnte.
»Ich vertraue auf die Priorei. So wie ich es immer getan habe.« Kagudo legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Die Götter mögen mit dir gehen, Eadaz uq-Nâra. Ich hoffe sehr, dass wir uns noch einmal treffen.«
»Das hoffe ich auch, Majestät.«
Ead verbeugte sich vor dem Blut der Onjenyu. Und sie war sehr überrascht, als Kagudo diese Geste erwiderte.
Sie trennten sich an den Toren des Königlichen Gartens. Ead lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer, während der Tag allmählich den Horizont aufhellte. Ihr schwindelte von all den Neuigkeiten und den ungewissen Möglichkeiten.
Priorin. Falls sie den Namenlosen Einen tatsächlich besiegen konnte, würde die Hohe Herrscherin jeden Anspruch unterstützen, den sie auf diese Position erhob. Und das war keine Kleinigkeit. Es gab nur sehr wenige Priorinnen in der Vergangenheit, die durch die Unterstützung der Onjenyu geehrt worden waren.
Als sie eine Stimme ihren Namen rufen hörte, kehrte sie erschreckt in die Gegenwart zurück.
Margret rannte so schnell auf sie zu, wie ihre Röcke es erlaubten.
»Ead!« Sie nahm sie an den Händen. »König Jantar hat meinen Brief tatsächlich erhalten. Er hat den Kühnen mitgebracht!«
Ead zwang sich zu einem Lächeln. »Das freut mich sehr für dich.«
Margret runzelte die Stirn. »Geht es dir gut?«
»Bestens.«
Sie drehten sich zu den Palasttoren herum, wo sich die Höflinge zusammenscharten, um Sabrans Rede zu hören. Margret schob ihren Arm unter den von Ead.
»Ich war sicher, dass dieser Tag niemals kommen würde«, gab sie zu, als sie langsam dem Rest des Hofes folgten. »Der Tag, an dem eine Königin des Hauses Berethnet verkünden muss, dass wir wieder Krieg gegen die Drakonische Armee führen.«
Die Palasttore waren noch nicht geöffnet. Die Stadtwachen hatten in mehreren Reihen dahinter Aufstellung bezogen, während sich der Hofstaat hinter ihnen versammelte. Adelige und Bauern starrten sich durch die Gitterstäbe an.
»Du hast wegen meiner Hochzeit gefragt. Ich wollte Tharian eigentlich heiraten, sobald du aufgewacht bist«, sagte Margret. »Aber das kann ich jetzt wohl kaum tun, nicht ohne Loth.«
»Wann dann?«
»Nach der Schlacht.«
»Kannst du denn so lange warten?«
Margret stieß ihr den Ellbogen in die Seite. »Der Ritter der Gemeinschaftlichkeit verlangt, dass ich so lange warte.«
Die Menge vor den Palasttoren wuchs immer mehr an und wurde zusehends lauter, und schon bald rief sie im Chor nach ihrer Königin. Als die Zeiger der Uhr auf die sechste Stunde zukrochen, kam Tané und stellte sich neben sie. Jemand hatte ihr die Knoten aus dem Haar gebürstet und sie in ein Hemd und eine Hose gesteckt.
Ead erwiderte ihr Nicken. Sie spürte das Siden in der Frau aus dem Osten. Es brannte so heiß wie glühende Kohlen.
Glocken läuteten im Turm. Als die königliche Fanfare ertönte, verstummte die Menschenmenge endlich. Die Ruhe wurde von Hufschlag unterbrochen. Sabran kam in vollem Harnisch auf einem weißen Pferd herangaloppiert.
Sie trug die silberne Rüstung des Winters. Ihr Umhang war mit schwerem rotem Samt gesäumt, sodass man an ihrer Seite das zeremonielle Schwert sehen konnte. Ihre Lippen waren rot wie eine frische Rose. Ihr Haar war zu dem Widderhorn frisiert, das Glorian die Dritte bevorzugt hatte. Die Herzöge der Spiritualität folgten ihr. Jeder hatte das Banner seiner Familie in der Hand. Tané beobachtete mit ausdrucksloser Miene, wie sie vorbeiritten.
Die Schlachtrösser blieben vor den Toren stehen. Sabran packte die Zügel ihres Pferdes fester, als Aralaq von hinten heranschlich und sich beschützend neben sie stellte. Er knurrte leise. Mit hoch erhobenem Kopf betrachtete die Königin von Inys die verblüfften Gesichter der Menschen ihrer Stadt.
»Mein geliebtes Volk des Tugendtums«, sagte sie. Ihre Stimme klang kräftig und autoritär. »Die Drakonische Armee ist zurückgekehrt.«