31. KAPITEL
OSTEN
Es war schon Jahrhunderte her, dass eine Flotte aus dem Osten Die Tiefe überquert hatte. Die vierzig Schiffe waren bis an den Rand mit Harpunen, kleinen drehbaren Einpfünder-Kanonen und Speerschleudern armiert. Ihre Segel waren mit schimmerndem Wachs bestrichen, das aus der Galle von seiikinesischen Wyrm gewonnen wurde und verhinderte, dass das Tuch leicht Feuer fing. Die gewaltige Tanzende Perle
segelte vorweg, neben ihr die Renitenz,
das Schlachtschiff, auf dem sich der Kriegsherr von Seiiki befand.
Und um die Schiffe herum schwammen die Drachen.
Loth beobachtete eine der Kreaturen aus der Gästekabine auf der Tanzenden Perle
. Immer wieder durchbrach das Wesen die Wasseroberfläche, sodass die Reiterin in ihrem Sattel Atem holen konnte. Die Kriegerin trug eine Maske mit Visier und einen Helm mit einem Netz aus Metallfäden, um ihren Nacken zu schützen. Sie hätte warm und trocken auf einem Schiff sitzen können, stattdessen jedoch zog sie es vor, mit ihrem Wyrm in diesem schwarzen Wasser zu bleiben.
Sollten sich die beiden Seiten der Welt jemals versöhnen, würde dies vermutlich sehr bald auf allen Meeren ein ganz gewöhnlicher Anblick sein.
Der Ewige Kaiser nippte an einem Glas Roséwein aus Lacustrin. Sie spielten gerade ein Spiel Buben und Damen, das Loth ihm am Tag zuvor beigebracht hatte.
»Erzählt mir etwas von Eurer Königin.«
Loth riss seinen Blick von dem Drachen los. »Majestät?«
»Ihr fragt Euch, warum ich das wissen will.« Der Ewige Kaiser lächelte. »Ich weiß nur sehr wenig über die Herrscher von der anderen Seite Der Tiefe, Vicomte. Wenn Königin Sabran eine Verbündete meines Landes werden soll, würde es mir wohl anstehen, etwas mehr über sie zu wissen als nur ihren berühmten Namen. Stimmt Ihr mir da nicht zu?«
»Doch, Euer Kaiserliche Majestät.« Loth räusperte sich. »Was möchtet Ihr wissen?«
»Ihr seid ihr Freund.«
Loth dachte eine Weile darüber nach. Wie sollte er das Porträt einer Sabran malen, die er seit seinem sechsten Lebensjahr kannte? Seit einer Zeit, in der sie sich nur darüber Gedanken machen mussten, wie viele Abenteuer sie an einem Tag erleben konnten.
»Königin Sabran ist denen gegenüber loyal, die ihr die Treue halten. Sie hat ein gutes Herz«, gestand er schließlich. »Aber sie verbirgt es gut, um sich zu schützen. Um unberührbar zu erscheinen. Ihr Volk erwartet das von einer Königin.«
»Ihr dürftet feststellen, dass alle Völker so etwas von ihren Herrschern erwarten.«
Das stimmte wohl.
»Manchmal überkommt sie eine ungeheure Melancholie«, fuhr Loth fort. »Sie bleibt dann tagelang im Bett. Sie nennt dass ihre Schattenstunden. Ihre Mutter, Königin Rosarian, wurde ermordet, als sie vierzehn Jahre alt war. Sabran war dabei. Seitdem ist sie nie wieder wirklich glücklich gewesen.«
»Und ihr Vater?«
»Wilstan Fynch war einst der Herzog der Besonnenheit. Er ist ebenfalls tot.«
Der Ewige Kaiser seufzte. »Ich fürchte, dann haben wir zumindest gemeinsam, dass wir Waisen sind. Meine Eltern sind den Blattern zum Opfer gefallen, als ich acht Jahre alt war. Aber meine Großmutter hat mich zu unserem Jagdschloss in den Norden gebracht, als sie erkrankten. Ich war zutiefst verärgert, dass ich mich nicht von ihnen verabschieden durfte. Jetzt begreife ich, dass dies eine Gnade war.« Er trank einen Schluck Wein. »Wie alt war Ihre Majestät, als sie gekrönt wurde?«
»Vierzehn.«
Die Krönung hatte an einem dunklen und verschneiten Morgen im Heiligtum Unserer Dame stattgefunden. Anders als ihre Mutter, die in einer Barke zur Krönung gekommen war, wovon noch heutzutage gesprochen wurde, war Sabran in ihrer Kutsche durch die Straßen gefahren, bejubelt von zweihunderttausend ihrer zukünftigen Untertanen. Aus ganz Inys waren sie herbeigeströmt, um mitzuerleben, wie ihre Prinzessin zur jungen Königin gekrönt wurde.
»Ich nehme an, es gab eine Regentin«, sagte der Ewige Kaiser.
»Ihr Vater war Reichsverweser und wurde von Ihrer Durchlaucht Igrain Crest unterstützt, der Herzogin der Justiz. Kürzlich hat sich allerdings herausgestellt, dass Crest für den Tod von Königin Rosarian verantwortlich war und zudem … für andere Gräueltaten.«
Der Ewige Kaiser hob seine Brauen. »Noch etwas, was wir gemeinsam haben. Nach meiner Inthronisierung folgte eine fast neunjährige Regentschaft. Und einer dieser Regenten wurde zu machthungrig, um am Hof bleiben zu können.« Er stellte den Becher ab. »Was noch?«
»Sie jagt und musiziert gern. Als Kind liebte sie es zu tanzen. Jeden Morgen tanzte sie sechs Galliarden.« Seine Brust schnürte sich zusammen, als er an diese Zeit dachte. »Nach dem Tod ihrer Mutter hat sie viele Jahre lang nicht getanzt.«
Der Ewige Kaiser betrachtete Loths Gesicht. Im Licht der bronzenen Laterne des Schiffs wirkten seine Augen unergründlich.
»Und jetzt sagt mir«, fuhr er dann fort, »ob sie einen Liebhaber hat.«
»Majestät …«, begann Loth, der nicht wusste, was er sagen sollte.
»Schon gut. Ich fürchte, Ihr würdet keinen besonders guten Herrscher abgeben, weil Euer Gesichtsausdruck dafür zu leicht zu entschlüsseln ist.« Der Ewige Kaiser schüttelte den Kopf. »Ich habe mich einfach nur gewundert, dass sie mir nicht ihre Hand für den Pakt angeboten hat. Ich kann es ihr nicht verdenken.« Er trank erneut einen Schluck. »Vielleicht ist Ihre Majestät erheblich mutiger in dem Versuch, die Traditionen zu verändern, als ich es war.«
Loth sah zu, wie der Monarch sich noch etwas Wein einschenkte.
»Denn wisst Ihr, auch ich habe mich verliebt. Ich war zwanzig, als ich sie traf, im Palast. Ich könnte Euch von ihrer Schönheit singen, Vicomte Arteloth, aber ich bezweifle, dass selbst der größte Schriftsteller der Geschichte ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen könnte. Und leider war ich noch nie ein besonders begabter Schreiber. Aber ich kann Euch sagen, dass ich stundenlang mit ihr reden konnte, etwas, was ich mit niemand anderem je vermochte.«
»Wie lautete ihr Name?«
Der Ewige Kaiser schloss einen Moment die Augen. Loth sah, wie seine Gurgel sich bewegte, als er schluckte.
»Nennen wir sie einfach … Die Seejungfrau.«
Loth wartete darauf, dass er weitersprach.
»Natürlich zerrissen sich schon bald alle das Maul darüber. Das Große Sekretariat erfuhr schon bald von unserer Beziehung. Sie waren nicht erfreut, angesichts ihrer niederen Stellung und der Tatsache, dass ich immer noch keine angemessene Gemahlin geehelicht hatte. Aber ich kannte meine Macht. Ich sagte ihnen, ich würde tun, was ich wollte.« Er stieß scharf die Luft durch die Nase aus. »Welche Arroganz! Ich besaß große Macht, gewiss, aber ich schuldete sie der Kaiserlichen Drachin, meinem Leitstern. Ich flehte sie an, aber obwohl sie meinen Schmerz erkannte, billigte sie die Paarung nicht. Sie sagte, es lauerte ein Schatten in meiner Geliebten, den niemand kontrollieren könnte. Sie sagte, meine Macht würde den Schatten befreien. Deshalb müsse ich sie gehen lassen, um unser beider willen.«
Er schüttelte den Kopf. »Anfangs widersetzte ich mich. Ich verschloss mich der Realität und wollte die Affäre nicht beenden. Ich wollte nicht aufhören, mit ihr in den Heiligen Seen zu schwimmen, wenn sie mich darum bat, oder sie in meinen Palästen mit Geschenken zu überhäufen. Aber die Stabilität meines Landes beruhte auf der Allianz von Menschen und Drachen. Ich konnte sie ebenso wenig brechen, wie ich einen Kometen in seiner Bahn aufhalten könnte. Und ich fürchtete, dass das Große Sekretariat einen Weg finden könnte, sie verschwinden zu lassen, wenn ich die Frau, die ich liebte, heiratete. Wenn ich sie nicht wie eine Gefangene behandeln und mit Leibwächtern ersticken wollte, musste ich nachgeben.«
Loth dachte daran, wie das Konzil der Tugenden Ead ins Exil geschickt hatte. Wegen des Verbrechens der Liebe.
»Ich befahl ihr, mich zu verlassen. Sie weigerte sich. Schließlich sagte ich, ich hätte sie niemals gewollt, nie beabsichtigt, sie zu meiner Kaiserin zu machen. Diesmal sah ich den Schmerz, den ich ihr zufügte. Und ihren Zorn. Sie sagte mir, dass sie aus Trotz ihr eigenes Reich errichten und mir eines Tages ihr Messer ins Herz rammen würde, so wie ich es mit ihr gemacht hätte.« Seine Wangenmuskeln zuckten, als er die Zähne zusammenbiss. »Ich habe sie nie wiedergesehen.«
Loth schenkte sich ein Glas Wein ein.
Sein ganzes Leben lang hatte er eine Gefährtin und Gemahlin finden wollen. Jetzt fragte er sich, ob es vielleicht sein Glück gewesen war, dass er sich nie verliebt hatte.
Der Ewige Kaiser hatte sich in seine Koje gelegt, den Kopf auf einen Arm gestützt, und blickte schwermütig an die Decke.
»Im Imperium der Zwölf Seen lebt ein Vogel mit purpurroten Federn.« In seiner Stimme machte sich der Genuss des Weines bemerkbar. »Wenn Ihr ihn im Flug seht, haltet Ihr ihn für ein Juwel mit Flügeln. Viele haben diesen Vogel gejagt … Sobald Ihr ihn jedoch ergreift, fangen Eure Hände an zu brennen. Denn diese Federn sind ebenso kostbar wie giftig.« Er schloss die Augen. »Dankt Euren Rittern der Tugenden, Vicomte Arteloth, dass es Euch nicht von Geburt bestimmt war, einen Thron zu besteigen.«