36. KAPITEL
WESTEN
Brygstad, Hauptstadt des Freistaates Mentendon, das Kronjuwel der Gelehrsamkeit im Westen. Er hatte Jahre davon geträumt, wieder durch ihre Straßen zu streifen.
Da waren sie noch, die hohen schmalen Häuser, jedes mit einem Glockengiebel. Hier die wie mit Zucker gepuderten Dächer. Dort der verdrehte Turm des Sanktuariums des Heiligen, der sich aus dem Herzen der Stadt erhob.
Niclays Roos saß in einer beheizten Kutsche, eingewickelt in einen pelzgesäumten Umhang. Während seiner Rekonvaleszenz im Ascalon Palast hatte die Hohe Prinzessin Ermuna einen Brief geschickt und seine Anwesenheit am Hof erbeten. Sein Wissen über den Osten, schrieb sie, würde helfen, die Beziehungen zwischen Mentendon und Seiiki zu verbessern. Möglicherweise würde er sogar aufgefordert, an den Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen mit dem Imperium der Zwölf Seen mitzuarbeiten.
Er wollte nichts davon. Dieser Hof war für ihn verhext. Wenn er dort hinging, würde er nur die Geister seiner Vergangenheit finden.
Trotzdem musste er sich dort blicken lassen. Man schlug eine königliche Einladung nicht aus, schon gar nicht, wenn man nicht erneut verbannt werden wollte.
Die Kutsche rumpelte über die Sonnenbrücke. Durch das Fenster blickte er auf den gefrorenen Bugen und die schneebedeckten Türme der Stadt, die verloren für ihn gewesen war. Er hatte diese Brücke zu Fuß überquert, als er zum ersten Mal an den Hof gekommen war. Von Rozentun war er auf einem Heuwagen hierhergereist. In jener Zeit hatte er sich eine Kutsche nicht leisten können. Seine Mutter hatte ihm sein Erbe vorenthalten und nicht ganz ungerechtfertigterweise darauf hingewiesen, dass es sich in etwa auf die Kosten seiner Ausbildung belief. Alles, was er besessen hatte, waren eine scharfe Zunge und das Hemd auf seinem Leib gewesen.
Für Jannart hatte es gereicht.
Jetzt endete sein linker Arm unmittelbar unter dem Ellbogen. Auch wenn der Stumpf manchmal schmerzte, war dieser Schmerz leicht zu ignorieren.
Auf der Tanzenden Perle hatte der Tod seine Wange geküsst. Die Inysh-Ärzte hatten ihm versichert, dass er das Schlimmste inzwischen hinter sich hatte und der Rest seines Arms heilen würde. Er hatte Ärzten aus Inys nie getraut. Seiner Meinung nach waren es einfach nur fromme Quacksalber, aber er vermutete, dass er in diesem Fall wohl keine andere Wahl hatte, als ihnen zu glauben.
Eadaz uq-Nâra hatte den Namenlosen Einen mit dem Schwert der Wahrheit tödlich verwundet. Und dann, als wäre das nicht genug Heldentum für eine Nacht, hatten Tané Miduchi und sie ihm mit den Himmlischen Juwelen den Rest gegeben. Das war der Stoff, aus dem Legenden gewoben wurden, eine Geschichte, würdig, in einem Lied verewigt zu werden. Und Niclays hatte die ganze verdammte Aufregung verschlafen. Bei dem Gedanken zuckten seine Mundwinkel unwillkürlich. Jannart hätte sich darüber halb totgelacht.
Irgendwo in der Stadt läuteten Glocken. Jemand wurde getraut.
Die Kutsche fuhr am Freistaat-Theater vorbei. In manchen Nächten hatte sich Edvart als niederer Junker verkleidet und war mit Jannart und Niclays aus dem Palast geschlichen, um sich eine Oper, ein Konzert oder ein Schauspiel anzusehen. Hinterher waren sie ins Alte Viertel gegangen, um zu trinken, damit Edvart seine Sorgen eine Weile hinter sich lassen konnte. Niclays schloss die Augen, als er sich an das Gelächter seiner längst verstorbenen Freunde erinnerte.
Wenigstens war es einigen wenigen seiner Freunde gelungen, nicht zu sterben. Nach der Belagerung von Cárscaro hatte er einen Suchtrupp nach Laya ausgeschickt. Im Fieberwahn auf der Tanzenden Perle hatte er sich an gewisse Dinge aus der Höhle erinnert, die ihr Gefängnis gewesen war – vor allem an die roten Adern, die sich durch die Wände zogen.
Man hatte sie tatsächlich im Furchtberg gefunden. Kurz vor dem Verdursten waren sie in einem Feldlazarett wieder aufgepäppelt worden, und die Hohe Herrscherin Kagudo hatte sie auf ihrem eigenen Schiff zurück nach Nzene gebracht. Nachdem sie Jahrzehnte fort gewesen war, war sie jetzt endlich wieder zu Hause und hatte ihm bereits geschrieben und ihn aufgefordert, sie zu besuchen.
Das würde er bald tun, wenn er genug von Mentendon in sich aufgesogen hatte, um sicher zu sein, dass es wirklich existierte. Um sicher zu sein, dass dies hier real war.
Die Kutsche blieb vor den Toren des Brygstad Palastes stehen – es war ein strenges Bauwerk aus dunklem Sandstein, in dem sich ein prachtvolles Inneres aus weißem Marmor und Gold verbarg. Ein Lakai öffnete den Kutschschlag.
»Doktor Roos«, sagte er. »Ihre Königliche Hoheit, die Hohe Prinzessin Ermuna, heißt Euch am Hof von Mentendon willkommen.«
Heiße Tränen prickelten in seinen Augen. Er warf einen Blick auf das Buntglasfenster im Schlafgemach des höchsten Turms.
»Noch nicht.«
Der Lakai wirkte verdattert. »Doktor«, sagte er. »Ihre Königliche Hoheit erwartet Euch am Mittag.«
»Um zwölf, mein Junge. Aber noch ist es nicht zwölf.« Er lehnte sich zurück. »Nimm mein Gepäck, ich muss erst noch das Alte Viertel aufsuchen.«
Zögernd gab der Lakai den entsprechenden Befehl.
Die Kutsche rumpelte durch den Norden der Stadt, vorbei an Buchläden und Museen und Zunfthallen und Backhäusern. Gierig nach diesem Anblick lehnte sich Niclays aus dem Fenster und stützte sich auf die Ellbogen. Die Gerüche von den freien Märkten stiegen ihm in die Nase, Düfte, von denen er in Orisima so oft geträumt hatte. Pfefferkuchen und gezuckerte Quitten. Pasteten, die man mit der flachen Klinge eines Messers öffnen konnte und in denen sich Birnenspiralen und Käse und in Scheiben geschnittene hart gekochte Eier befanden. Pfannkuchen, die mit gezuckertem Weinbrand durchtränkt waren. Die Apfelkuchen, die er so gern auf seinen Wanderungen entlang des Flusses gegessen hatte.
An jeder Ecke verkauften Händler in Buden Pamphlete und Traktate. Bei diesem Anblick dachte Niclays an Purumé und Eizaru, seine Freunde auf der anderen Seite der Welt. Vielleicht, wenn und falls der Seebann jemals aufgehoben wurde, konnten sie mit ihm über diese Straßen flanieren.
Die Kutsche blieb vor einer etwas schäbig wirkenden Herberge in einer Gasse stehen, die vom Brunna-Platz abzweigte. Die goldene Farbe des Herbergsschildes war schon längst abgeblättert, aber im Inneren war die Sonne Im Neuen Glanz noch genauso prachtvoll wie in seiner Erinnerung.
Er musste etwas erledigen, bevor er sich dem Hof stellte. Er würde die Geister seiner Vergangenheit aufsuchen, bevor sie ihn fanden.
*
Es war eine Tradition des Volkes von Mentendon, dass man an seinem Geburtsort auch zur Ruhe gebettet wurde. Nur in höchst seltenen Fällen war es erlaubt, dass jemand woanders seine letzte Ruhestätte fand.
Jannart war einer dieser seltenen Fälle gewesen. Die Tradition hatte verlangt, dass er in Zeedeur beigesetzt wurde, aber Edvart hatte, zerrissen von Gram, seinem liebsten Freund die Ehre einer Grabstätte auf dem Silbernen Friedhof erwiesen, wo Mitglieder des Hauses von Lievelyn bestattet wurden. Kurz darauf war Edvart am Schweißfieber erkrankt und hatte sich zusammen mit seiner kleinen Tochter zu ihm gesellt.
Der Friedhof lag nur einen kurzen Fußweg vom Alten Viertel entfernt. Unberührter Schnee bedeckte das gesamte Gelände.
Niclays hatte das Mausoleum nie besucht. Stattdessen war er nach Inys geflüchtet, gepeinigt von der Weigerung, die Tatsachen hinzunehmen. Er glaubte nicht an ein Nachleben, also hatte er es auch nie für sinnvoll erachtet, zu einer Steinplatte zu sprechen.
Im Mausoleum war es eiskalt. Auf dem Sarkophag befand sich ein Alabasterrelief.
Als Niclays sich dem Abbild näherte, atmete er tief ein. Wer auch immer dieses Relief geschaffen hatte, hatte Jannart sehr gut gekannt, als er in den Vierzigern gewesen war. Auf dem Schild der Statue, die den Schutz des Heiligen im Tod repräsentierte, fand sich eine Inschrift.
JANNART UTT ZEEDEUR
SUCHE DIE MITTERNACHTSSONNE
NICHT AUF DER ERDE
SONDERN FINDE SIE IN DIR
Niclays legte die gespreizten Finger über die Worte.
»Deine Knochen liegen hinter mir. Vor mir liegt nichts. Du bist tot, und ich bin ein alter Mann«, murmelte er. »Ich verüble dir diese lange Zeit, Jannart. Ich hatte mich in dem Glauben eingerichtet, dass ich vor dir sterben würde. Vielleicht habe ich sogar versucht, es herbeizuführen. Ich habe dich gehasst, die Erinnerung an dich, weil du zuerst gegangen bist. Weil du mich verlassen hast.« Sein Hals schnürte sich zu, und er drehte sich um. Dann sank er zu Boden, den Rücken an den Sarkophag gelehnt, und verschränkte die Hände zwischen den Knien.
»Ich habe sie im Stich gelassen, Jan.« Er sprach so leise, dass seine Worte kaum zu verstehen waren. »Ich habe mich verloren, und ich habe dein Enkelkind aus den Augen verloren. Als die Wölfe Truyde umkreisten, war ich nicht da, um sie abzuwehren. Ich dachte …«
Niclays schüttelte den Kopf. »Ich habe nur an den Tod gedacht. Als sie mich aus dem Bauch der Tanzenden Perle geholt haben, habe ich das Meer brennen sehen. Ich habe Licht aus der Dunkelheit gesehen. Feuer und Sterne. Ich habe in Die Tiefe geblickt und hätte mich fast hineingestürzt.« Er lachte heiser auf. »Doch dann bin ich zurückgetreten. Zu viel Herzschmerz, um leben zu können, aber zu feige, um zu sterben. Dann jedoch … Du hast mich aus einem bestimmten Grund auf diese Reise geschickt. Und der einzige Weg, den ich mir vorstellen konnte, dich zu ehren, bestand darin weiterzuleben. Du hast mich geliebt. Bedingungslos. Du hast in mir die Person gesehen, die ich sein konnte. Und diese Person werde ich sein, Jan. Ich werde durchhalten, meine Mitternachtssonne.« Er berührte noch einmal das Alabastergesicht, diese Lippen, die denen des lebenden Jannart so glichen. »Ich werde mein Herz lehren, wieder zu schlagen.«
Es schmerzte, ihn im Dunkeln zurückzulassen. Trotzdem ging Niclays. Diese Knochen hatten ihn schon vor langer Zeit gehen lassen.
Draußen schneite es etwas weniger, aber die Luft war immer noch sehr kalt. Als er über den Friedhof zurückging und seine Tränen wie eisige Perlen auf seinen Wangen lagen, trat eine Frau durch die schmiedeeisernen Tore des Eingangs. Sie trug einen mit Zobel gefütterten Mantel. Als sie den Kopf hob, öffnete sie überrascht den Mund, und Niclays blieb wie angewurzelt stehen.
Er kannte sie gut.
Aleidine Teldan utt Kantmarkt stand vor ihm auf dem Friedhof.
»Niclays«, flüsterte sie.
»Aleidine«, antwortete er ungläubig.
Sie war eine immer noch attraktive Frau im Herbst ihres Lebens. Ihr kastanienrotes Haar war so dicht wie immer, von grauen Strähnen durchzogen und zu einer einfachen Frisur gelegt. Sie hatte immer noch den Liebesknoten-Ring an der Hand, aber nicht mehr auf dem Zeigefinger, wohin er gehörte. Dort fand sich kein Ring.
Sie starrten sich an. Aleidine erholte sich als Erste. »Du bist also wirklich zurück.« Sie stieß so etwas wie ein Lachen aus. »Ich habe Gerüchte gehört, aber nicht gewagt, ihnen Glauben zu schenken.«
»Ja, allerdings. Nach einigen Prüfungen.« Niclays versuchte sich zu fassen, aber seine Kehle schien geschrumpft zu sein. »Ich …« Er räusperte sich. »Du lebst jetzt also hier? In Brygstad, meine ich, nicht auf dem Friedhof.«
»Nein. Oh nein. Ich lebe immer noch in der Seidenhalle, aber Oscarde lebt jetzt hier. Ich habe ihn nur besucht. Bei der Gelegenheit wollte ich auch Jannart einen Besuch abstatten.«
»Selbstverständlich.«
Einen Moment schwiegen sie.
»Setz dich einen Moment zu mir, Niclays«, sagte Aleidine dann mit einem kurzen Lächeln. »Bitte.«
Er überlegte, ob es klug wäre, ihr zu folgen, ging aber dennoch hinter ihr her zu einer Steinbank an der Friedhofsmauer. Aleidine wischte den Schnee vom Stein, bevor sie sich hinsetzte. Er erinnerte sich daran, dass sie stets Dinge getan hatte, die normalerweise die Lakaien erledigen sollten, wie zum Beispiel die Intarsien zu polieren und die Porträts abzustauben, die Jannart überall im Haus aufgehängt hatte.
Sie schwiegen lange, ohne Anstalten zu machen, die Stille zu brechen. Niclays beobachtete, wie die Schneeflocken langsam herabsanken. Er hatte sich jahrelang immer wieder gefragt, was er sagen würde, falls er Aleidine jemals wiedersah. Jetzt fehlten ihm die Worte.
»Niclays, dein Arm!«
Sein Umhang war zur Seite gerutscht und hatte den Armstumpf enthüllt. »Ach, das. Piraten, ob du es glaubst oder nicht.« Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Oh, ich glaube es. In dieser Stadt reden die Leute. Du hast bereits den Ruf eines Abenteurers errungen.« Sie erwiderte das Lächeln. Es vertiefte die feinen Fältchen um ihre Augen. »Niclays, ich weiß, dass wir … wir haben nach Jannarts Tod niemals richtig miteinander gesprochen. Du bist so schnell nach Inys abgereist …«
»Nicht.« Seine Stimme war heiser. »Ich weiß, dass du es begriffen haben musst. All diese Jahre …«
»Ich habe nicht vor, dich deshalb zu tadeln, Niclays.« Aleidines Stimme klang liebenswürdig. »Jannart war mir sehr wichtig, aber ich hatte keinen Anspruch auf sein Herz. Unsere Familien haben unsere Ehe arrangiert, wie du sehr wohl weißt. Es war nicht seine Entscheidung.« Schneeflocken fingen sich in ihren Wimpern. »Er war ein außergewöhnlicher Mann. Ich wollte nur, dass er glücklich war. Und du hast ihm dieses Glück geschenkt, Niclays. Deshalb hege ich keinen Groll gegen dich. Stattdessen danke ich dir.«
»Jannart hat geschworen, niemandem außer dir seine Gunst zu schenken. Er hat es in einem Sanktuarium geschworen, vor Zeugen!«, presste Niclays heraus. »Und du warst immer eine fromme Frau, Ally.«
»Das war ich, und das bin ich noch«, räumte sie ein, »und deshalb habe ich mich geweigert, meinem geliebten Jannart gegenüber meinen Eid zu brechen, auch wenn er seinen Schwur mir gegenüber gebrochen hatte. Ich habe geschworen, zuerst und vor allem ihn zu lieben und ihn zu verteidigen.« Sie legte ihre zierliche Hand auf seine. »Er brauchte deine Liebe. Und der beste Weg, das zu ehren, was ich ihm gelobt hatte, bestand darin, es ihm in Frieden zu gewähren. Und zuzulassen, dass er dich liebte.«
Sie meinte es ernst. Die Ehrlichkeit ihrer Überzeugung war auf ihrem Gesicht abzulesen. Niclays versuchte zu sprechen, aber die Worte, welche Worte auch immer er hatte äußern wollen, blieben ihm im Hals stecken. Er drehte die Hand herum, und sie legte ihre hinein.
»Truyde«, sagte er schließlich. »Wo wurde sie zur Ruhe gebettet?«
Der Schmerz in ihren Augen war schier unerträglich. »Königin Sabran hat mir ihre sterblichen Überreste übersendet«, sagte sie. »Sie liegt in unserem Familiengrab in Zeedeur.«
Niclays packte ihre Hand fester.
»Sie hat dich schrecklich vermisst, Niclays«, sagte sie. »Sie war Jannart so ähnlich. Ich habe ihn in ihrem Lächeln gesehen, in ihrem Haar, in ihrer Klugheit … Ich wünschte, du hättest sie als Frau erleben können.«
Etwas umklammerte seine Brust und erschwerte ihm das Atmen. Sein Kinn zitterte in dem Bemühen, es in sich zu halten.
»Was wirst du jetzt tun, Niclays?«
Er schluckte den bitteren Geschmack des Grams herunter. »Unsere junge Prinzessin bietet mir einen Platz an ihrem Hof«, antwortete er. »Aber ich würde lieber einen Lehrstuhl annehmen. Nicht, dass mir irgendjemand einen anbieten würde.«
»Frag sie«, schlug Aleidine vor. »Ich bin sicher, dass die Universität von Brygstad dich mit offenen Armen aufnehmen würde.«
»Einen ehemaligen Exilanten, der sich in Alchemie versucht hat und wochenlang im Dienst von Piraten stand«, antwortete er sarkastisch. »Ja, das klingt genau nach jemandem, den sie suchen, um den Geist der nächsten Generation zu formen.«
»Du hast mehr von der Welt gesehen, als andere darüber geschrieben haben. Stell dir nur all die Einsichten vor, die du weitergeben könntest, Niclays. Du könntest den Staub von den Pulten fegen und den Lehrbüchern Leben einhauchen.«
Diese Möglichkeit erwärmte sein Herz. Er hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, aber vielleicht würde er tatsächlich Ermuna bitten, sich für ihn bei der Universität einzusetzen.
Aleidine blickte zum Mausoleum. Dann atmete sie stockend aus, und eine weiße Wolke bildete sich vor ihrem Mund.
»Niclays«, sagte sie dann. »Ich verstehe, wenn du dein Leben hier als ein anderer Mensch führen willst. Aber … wenn du mir von Zeit zu Zeit die Gunst deiner Gesellschaft schenken würdest …«
»Aber ja.« Er tätschelte ihre Hand. »Selbstverständlich werde ich das tun, Aleidine.«
»Das würde mich so freuen. Und selbstverständlich könnte ich dich auch wieder in die Gesellschaft einführen. Weißt du, ich habe einen sehr engen Freund an der Universität, der etwa in unserem Alter ist, und von dem ich weiß, dass er entzückt wäre, dich kennenlernen zu können. Alariks. Er unterrichtet Astronomie.« Ihre Augen funkelten. »Ich bin ganz sicher, dass du ihn mögen würdest.«
»Nun, das klingt …«
»Und Oscarde … oh, Oscarde wird außer sich vor Freude sein, dich wiederzusehen. Und selbstverständlich bist du eingeladen, so lange bei mir zu wohnen, wie es dir gefällt …«
»Ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen, aber …«
»Niclays«, unterbrach sie ihn, »du gehörst zur Familie. Du könntest dich niemals aufdrängen.«
»Du bist sehr freundlich.«
Sie blickten einander an, etwas atemlos von all diesen Höflichkeiten. Schließlich lächelte Niclays, und Aleidine erwiderte das Lächeln.
»Wie ich höre«, fuhr sie dann fort, »hast du eine Audienz bei unserer Hohen Prinzessin. Solltest du dich nicht dafür fertig machen?«
»Das sollte ich«, gab Niclays zu. »Aber vielleicht könnte ich dich zuerst noch um einen kleinen Gefallen bitten.«
»Selbstverständlich.«
»Ich würde dich bitten, mir in …« Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »In zwei Stunden alles zu erzählen, was passiert ist, seit ich Ostendeur verlassen habe. Ich muss Jahre von Politik und Nachrichten nachholen, und ich will nicht wie ein Narr vor unserer neuen Prinzessin stehen. Jannart war Historiker, ich weiß«, meinte er beiläufig, »aber du warst schon immer die beste Quelle, wenn es um Klatsch ging.«
Aleidine lachte. »Ich wäre entzückt«, willigte sie ein. »Komm, wir können am Bugen entlanggehen. Und dann kannst du mir alles über deine Abenteuer erzählen.«
»Oh, liebe Dame«, meinte Niclays, »damit könnte ich ein ganzes Buch füllen.«