37. KAPITEL
WESTEN
In Serinhall arbeitete Vicomte Arteloth Beck in einer kleinen Bibliothek. Auf dem Tisch neben ihm lagen ein Stapel Briefe und ein in Leder gebundenes Notizbuch. Seine Eltern waren eine Woche verreist, angeblich, um mal etwas anderes zu sehen, aber Loth wusste, dass seine Mutter versuchte, ihn auf die Zukunft vorzubereiten. Eine Zukunft als Graf von Goldenbirken, mit einem Sitz im Konzil der Tugenden und verantwortlich für die größte Provinz von Inys.
Er hatte gehofft, dass sich im Laufe der Jahre etwas in ihm verändern würde, wie ein Uhrwerk, das allmählich arbeitete, und dass er bereit dafür wäre. Stattdessen sehnte er sich an den Hof zurück.
Einer seiner liebsten Freunde war tot. Und was Ead anging, wusste er, dass sie nicht für immer in Inys bleiben würde. Die Nachricht, dass sie den Namenlosen Einen getötet hatte, hatte sich rasch verbreitet, und sie wollte den Ruhm nicht, den ihr diese Tat einbringen würde. Früher oder später würde ihr Weg sie wieder nach Süden führen.
Und ohne die beiden würde der Hof nicht mehr sein, was er einst für ihn gewesen war. Dennoch war das der Ort, wo er aufblühte. Sabran würde dort noch viele Jahre regieren. Und er wollte bei ihr sein, im Herzen ihres Landes, um ihr zu helfen, ein neues und goldenes Zeitalter für Inys anbrechen zu lassen.
»Guten Abend.«
Margret betrat die kleine Bibliothek.
»Ich denke, es gehört sich anzuklopfen.« Loth unterdrückte ein Gähnen.
»Das habe ich, Bruder. Und zwar mehrmals.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Hier. Warmer Wein.«
»Danke.« Er trank dankbar einen Schluck. »Welche Stunde haben wir?«
»Weit nach der Stunde, seit der wir beide längst hätten schlafen sollen.« Margret rieb sich die Augen. »Es ist sonderbar, so allein zu sein. Ohne Mama und Papa. Was hast du all die Stunden hier oben gemacht?«
»Alles.«
Er spürte ihren Blick auf sich, als er das Notizbuch zuklappte. Er hatte darin die Ausgaben des Haushaltes notiert.
»Du wärst viel lieber im Palast«, stellte Margret freundlich fest.
Sie kannte ihn viel zu gut. Loth trank den Wein und spürte, wie die Wärme sich in seinem Magen ausbreitete.
»Ich habe Serinhall immer geliebt. Und du hast immer den Hof geliebt. Und doch bin ich die Zweitgeborene, also musst du der Graf von Goldenbirken sein.« Margret seufzte. »Ich glaube, Mama wollte es dir gönnen, deine Kindheit nicht in Goldenbirken zu verbringen, da du dort Wurzeln schlagen würdest, sobald du älter warst. Genau genommen hat sie dafür gesorgt, dass wir beide uns in den falschen Ort verliebt haben.«
»Ja.« Die Absurdität dieser Vorstellung brachte ihn zum Lächeln. »Nun, daran können wir nichts ändern.«
»Ich weiß nicht. Inys verändert sich.« Margrets Augen funkelten. »Die nächsten Jahre werden sehr schwierig werden, aber sie werden diesem Land ein neues Gesicht geben. Wir sollten uns erlauben, unseren Horizont zu erweitern.«
Loth betrachtete sie skeptisch. »Du sagst sehr sonderbare Dinge, Schwester.«
»Die Menschen werden selten von ihren Zeitgenossen geschätzt.« Sie drückte seine Schulter, bevor sie einen Brief vor ihm auf den Tisch legte. »Er ist heute Morgen angekommen. Und versuche noch etwas Schlaf zu bekommen, Bruder.«
Sie ging hinaus. Loth drehte den Brief herum und sah das Wachssiegel. Es trug das Symbol der Birne des Hauses Vetalda.
Eine Faust schien sich um sein Herz zu legen. Er brach das Siegel und faltete den Brief auf, der in einer eleganten Handschrift verfasst worden war.
Während er las, wehte ein Wind durch das offene Fenster. Er trug den Geruch von frisch gemähtem Gras und Heu in den Raum und von dem Leben, nach dem er sich gesehnt hatte, solange er weit weg von zu Hause gewesen war. Den Duft von Goldenbirken.
Jetzt jedoch hatte sich etwas verändert. Andere Düfte drangen wie die Brandung in seine Träume. Salz und Teer und kalter Seewind. Wein, gewürzt mit Ingwer und Muskatnuss. Und Lavendel. Die Blume, deren Duft seinen Traum von Yscalin durchzogen hatte.
Er nahm den Federkiel auf und begann zu schreiben.
*
Das Feuer im Königlichen Schlafgemach im Dornbuschhaus war heruntergebrannt. Frost überzog alle Fenster wie mit Spitze. In dem dämmrigen Schein lag Sabran auf dem Rücken auf einem Sofa, müde vom Wein, und es sah aus, als würde sie jeden Moment einschlafen. Neben dem Kamin lag Ead, die den Höhepunkt der Erschöpfung schon lange hinter sich hatte, und sog ihren Anblick in sich auf.
Manchmal, wenn sie Sabran ansah, hätte sie fast glauben können, sie wäre der Melancholische König, der einem Trugbild zwischen den Dünen nachjagte. Dann berührte Sabran ihre Lippen mit ihrem Mund oder schob sich im Mondlicht auf ihre Seite des Bettes, und sie wusste, dass all das Wirklichkeit war.
»Ich muss dir etwas erzählen.«
Sabran sah sie an.
»Vor ein paar Tagen ist Sarsun zu mir gekommen«, murmelte Ead. »Mit einem Brief von Chassar.«
Der Sandadler war in den Ascalon Palast geflogen und auf ihrem Arm gelandet. Er hatte eine Nachricht am Fuß. Ead hatte lange gebraucht, um den Mut zu sammeln, sie zu lesen, und noch länger, um sich über ihre Gefühle klar zu werden, nachdem sie es getan hatte.
Geliebte Kleine,
ich habe keine Worte, um meinen Stolz über das auszudrücken, was ich über deine Taten auf Der Tiefe gehört habe, oder meine Erleichterung darüber kundzutun, dass dein Herz noch so stark schlägt wie immer. Als die Priorin deine Schwester ausgeschickt hat, um dich zum Schweigen zu bringen, konnte ich nichts unternehmen. Feige, wie ich bin, habe ich dich im Stich gelassen, obwohl ich Zâla das Gegenteil versprochen hatte.
Und doch werde ich erinnert, wie so oft, dass du meines Schutzes niemals bedurft hast. Du bist dein eigener Schild.
Ich schreibe dir jetzt, um dir lang erwartete Kunde mitzuteilen. Die Roten Jungfern möchten, dass du nach Lasia zurückkehrst, um den Mantel der Priorin um deine Schultern zu legen. Falls du annimmst, treffe ich dich am ersten Tag des Winters in Kumenga. Sie könnten deine ruhige Hand und deinen klaren Kopf gut gebrauchen. Vor allem jedoch benötigen sie dein großes Herz.
Ich hoffe, du kannst mir vergeben. Wie dem auch sei, der Orangenbaum harrt deiner.
»Die Nachricht, dass ich die Schlächterin des Namenlosen Einen war, hat sich herumgesprochen«, sagte sie. »Es ist die größte Ehre, die sie mir erweisen können.«
Langsam setzte sich Sabran auf.
»Ich bin glücklich für dich.« Sie nahm Eads Hand. »Du hast den Namenlosen Einen getötet. Und das war schon immer dein Traum.« Sie sahen sich an. »Wirst du annehmen?«
»Falls ich gehe«, antwortete Ead, »könnte ich die Zukunft der Priorei formen.« Sie verschränkte ihre Finger mit denen von Sabran. »Vier Erhabene Westliche sind tot. Das bedeutet, dass ihre Wyrmelinge und jede andere Brut, die sie gezeugt haben, ihr Feuer verloren haben; aber selbst ohne dieses Feuer stellen sie eine Gefahr für die Welt dar. Sie müssen gejagt und getötet werden, wo auch immer sie sich verstecken. Und selbstverständlich … ist immer noch ein mächtiger Feind frei und am Leben.«
»Fýredel.«
Ead nickte. »Er muss zur Strecke gebracht werden«, erklärte sie. »Aber als Priorin könnte ich auch dafür sorgen, dass die Roten Jungfern an der Stabilität dieser Welt arbeiten. Einer Welt, auf der nicht mehr der Schatten des Namenlosen Einen liegt.«
Sabran schenkte ihnen beiden einen Becher Birnenmost ein.
»Und du wärst dann in Lasia.« Ihr Ton verriet nichts.
»Ja.«
Plötzlich herrschte Spannung zwischen ihnen.
Ead war nie so naiv gewesen zu glauben, dass sie zusammen in Inys leben konnten. Als Vicomtess befand sie sich zwar gesellschaftlich in einer Position, eine Königin heiraten zu können, aber sie wollte keine Prinzessinnengemahlin sein. Sie wollte keine Titel oder Ehren, sie wollte keinen Platz neben dem Marmorthron. Eine Ehe mit einer Königin erforderte Loyalität nur ihrem Reich gegenüber, und Ead empfand keinerlei Loyalität außer der zur Mutter.
Und dennoch konnte sie das, was zwischen ihnen bestand, nicht leugnen. Es war Sabran Berethnet, die ihre Seele berührte.
»Ich würde dich besuchen«, sagte Ead. »Nicht … allzu oft, verstehst du? Die Priorin gehört in den Süden. Aber ich würde einen Weg finden.« Sie nahm einen Becher. »Ich weiß, dass ich dir das schon einmal gesagt habe, Sabran, aber ich würde es dir nicht verübeln, wenn du es vorziehen würdest, nicht so zu leben.«
»Ich würde fünfzig Jahre allein leben, wenn ich dafür einen Tag mit dir bekäme.«
Ead erhob sich und ging zu ihr. Sabran richtete sich auf, und sie setzten sich unmittelbar voreinander, die Beine verschränkt.
»Ich muss dir auch etwas erzählen«, sagte die Königin von Inys dann. »Ich habe vor, in etwa einem Jahrzehnt abzudanken. Ich werde diese Periode nutzen, um einen reibungslosen Machtwechsel vom Haus Berethnet auf ein anderes Herrscherhaus zu gewährleisten.«
Ead zog die Brauen hoch.
»Dein Volk glaubt an die Göttlichkeit deines Hauses«, wandte sie ein. »Wie willst du ihm das erklären?«
»Indem ich ihm sage, dass jetzt, nach dem Tod des Namenlosen Einen, der uralte Schwur des Hauses Berethnet, nämlich ihn in Schach zu halten, erfüllt ist. Und dann werde ich das Versprechen einlösen, das ich Kagudo gegeben habe«, fuhr sie fort. »Ich werde meinem Volk die Wahrheit sagen, über Galian und über Cleolind. Es wird eine Große Reformation des Tugendtums geben.« Sie atmete tief aus. »All das wird sehr schwierig werden. Es wird Jahre des Widerstands geben, des Zorns – aber es muss getan werden.«
Ead sah ihren eisern entschlossenen Blick. »So sei es.« Sie legte den Kopf auf Sabrans Schulter. »Aber wer wird nach dir regieren?«
Sabran legte ihre Wange an Eads Stirn. »Ich denke, zunächst muss es einer aus der nächsten Generation der Herzöge der Spiritualität sein. Es wird dem Volk leichter fallen, einen neuen Herrscher aus dem Adelsstand zu akzeptieren. Aber in Wahrheit … Ich halte es nicht für besonders gut, wenn die Zukunft irgendeines Landes darauf beruht, dass seine Herrscher Kinder bekommen. Eine Frau ist mehr als eine Gebärmutter, in die man einen Samen sät. Vielleicht kann ich diese Große Reformation noch weitertreiben. Vielleicht kann ich sogar die Grundlagen der Thronfolge erschüttern.«
»Dass du das kannst, glaube ich.« Ead strich zärtlich über ihr Schlüsselbein. »Du kannst sehr überzeugend sein.«
»Ich nehme an, diese Gabe habe ich von meiner Urahnin geerbt.«
Ead wusste, wie sehr der Gedanke an Kalyba sie verfolgte. An Kalyba und die Prophezeiung, die sie gemacht hatte. Sabran wachte nachts oft auf und erinnerte sich an die Hexe, deren Gesicht solch ein Spiegelbild ihres eigenen gewesen war.
Nachdem Ead wieder gesund geworden war, hatte sie Kalybas Leichnam nach Nurtha gebracht. Es war schwierig gewesen, jemanden aufzutreiben, der sie auf die Insel ruderte, aber als die Menschen schließlich in Ead die Vicomtess Nurtha erkannten, hatte eine junge Frau sie über den Kleinen See gerudert.
Die wenigen Menschen, die in Nurtha lebten, sprachen nur Morgisch und hängten noch Sträuße aus Weißdorn an ihre Türen. Niemand hatte auch nur ein Wort mit ihr gesprochen, als sie durch den Wald gegangen war.
Der Weißdornbaum war gefällt worden, aber er verfaulte nicht. Ead sah, dass er einst so prachtvoll gewesen war wie seine Schwester im Süden. Sie hatte zwischen seinen Zweigen gestanden und sich vorgestellt, wie ein junges Mädchen aus Inys eine rote Beere pflückte und aß, eine Beere, die ihr Leben für immer veränderte.
Sie hatte die Hexe von Inysca unter dem Baum zur Ruhe gebettet. Das einzige Erste Blut, das es jetzt noch gab, floss in den Adern von Sabran und Tané.
Eine Weile erfüllte nur das Knacken des Feuers die Stille. Schließlich setzte sich Sabran auf den Hocker vor Ead, damit sie sich in die Augen sehen konnten, und verschränkte ihre Finger mit ihren.
»Versprich mir, dass du mich nicht auslachst.«
»Willst du etwas Albernes sagen?«
»Wahrscheinlich.« Sabran verstummte, als müsste sie sich sammeln. »In der Zeit vor dem Tugendtum haben die Menschen von Inysca denen, die sich liebten, einen Verlobungsschwur geleistet. Ein Versprechen, dass sie irgendwann zusammen ein Heim gründen würden.« Sie sah Ead in die Augen. »Du musst deine Pflicht als Priorin erfüllen und ich meine als Königin von Inys. Eine Weile müssen wir getrennte Wege gehen … aber in zehn Jahren von jetzt an werde ich dich am Strand von Perchling treffen. Und dann werden wir unser Irgendwo finden.«
Ead blickte auf ihre verschränkten Hände.
Zehn Jahre, ohne jeden Tag mit ihr zusammen zu sein. Zehn Jahre Trennung. Der Gedanke erzeugte eine Leere in ihr.
Aber sie kannte das Gefühl, sich nach etwas weit Entferntem zu sehnen. Sie wusste, wie man durchhielt.
Sabran beobachtete ihr Gesicht. Schließlich beugte sich Ead vor und küsste sie.
»Zehn Jahre«, flüsterte sie. »Und keinen einzigen Sonnenaufgang mehr.«