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Das Beben nahm einfach kein Ende. Ich war ihm hilflos ausgeliefert. Es konnte nicht wahr sein, dass Dani und ich jetzt bei einem Erdbeben starben – nach dem, was wir im vergangenen Jahr überlebt hatten. Und das arme Baby.

Unheimliche Erinnerungen wurden wach. Während ich da auf dem Boden lag und darauf wartete, dass das Ende kam, tauchten die Bilder dieser schrecklichen Nacht am Syrkhultasee wieder auf, als sei es gestern gewesen. Ich kniff die Augen zu, wollte nicht hinschauen und mich lieber auf den Lärm konzentrieren. Aber es half nichts. Die Ereignisse dieser Nacht überfielen mich noch einmal und machten alles doppelt so schlimm.

Es war am Silvesterabend passiert. Dani war damals schon ein halbes Jahr spurlos verschwunden gewesen. In dem Sommer, als sie gekidnappt wurde, hatte ich einen Nervenzusammenbruch, nachdem die Polizei mir mitgeteilt hatte, dass sie die Suche nach Dani einstellen würden. Einen geschlagenen Monat verbrachte ich danach in der Psychiatrie. Doch dann nahm ich all meine Kraft zusammen und machte mich auf die Suche nach Dani. Ich weigerte mich hartnäckig zu glauben, dass sie tot war. Völlig unbeirrt ging ich jeder noch so kleinen Spur nach, traf Menschen, stellte unablässig Fragen. Nichts konnte meinen Durst nach Antworten stillen. Nach und nach deutete alles darauf hin, dass Danis Verschwinden im Zusammenhang mit einer geheimnisvollen Ordensgemeinschaft stand, die in den Sechzigerjahren gegründet worden war. Am Ende war ich mir sicher, dass diese Leute Dani entführt hatten.

Die meisten Menschen um mich herum waren skeptisch – mein Psychologe, die Polizei, mein Freundeskreis – und am Ende war Carl der Einzige, der mir glaubte. In den Monaten, in denen ich fieberhaft nach Dani suchte, kümmerte er sich rührend um mich. Aber am Silvesterabend hatten wir Streit, der Auslöser war meine Eifersucht gewesen. Ich stand kurz vor dem nächsten Zusammenbruch, war völlig paranoid und hysterisch.

Da machte ich mich ganz allein auf den Weg zu einer Kirche, die in Schonen mitten im Wald lag. Das war ein letzter verzweifelter Versuch, Dani zu finden. Ich vertraute ganz auf meine Intuition, denn immer wieder konnte ich fühlen, was in meiner Schwester vorging. Dani und ich waren zwar eineiige Zwillinge, aber so etwas hatten wir vorher noch nie erlebt, und hinterher im Übrigen auch nicht mehr. Nur in dieser Zeit, als sie verschwunden war, konnten wir die Gefühle der anderen wahrnehmen, wie durch Telepathie.

Als ich Dani schließlich in der Kirche fand, wo sie in der Krypta eingesperrt war, war es fünf vor zwölf. Aber ich konnte ihr zur Flucht verhelfen. Jim Zander, der geistige Führer der Sekte, versuchte uns aufzuhalten, doch Dani erschlug ihn, rasend vor Wut, mit einem Kerzenleuchter.

Er hatte sie bei einem spiritistischen Ritual in der Kirche brutal vergewaltigt. Auf diesen Paarungsritus hatte man sie sechs Monate lang vorbereitet. Er sollte zur Geburt eines göttlichen Kindes führen. Sie bemalten Danis Körper kunstvoll, als sei sie eine Puppe. Sie stachen ihr Ringe durch die Brustwarzen. Jim propagierte immer wieder, dass Frauen einer niederen Art angehörten. Dani war ein Tier in einem Käfig. Nur ein Werkzeug. Aber sie überlebte diese Hölle, ohne den Verstand zu verlieren, und ich konnte mir kaum vorstellen, welche Willenskraft man dafür aufbringen musste. Als sie eine Zwischenblutung bekam, ging Jim davon aus, dass sie eine Fehlgeburt gehabt hatte, und wollte sie zur Strafe auf einem Scheiterhaufen verbrennen. Dann sollte ich in die Kirche geholt werden, um Danis Platz einzunehmen, so lautete sein Plan.

In der Silvesternacht wollten sie sie hinrichten, am selben Abend, als ich sie endlich fand und retten konnte. Aber auf unserer Flucht durch den Wald sind wir dann in eine Wildfalle der Sekte geraten. Wäre Carl nicht in letzter Sekunde mit Sondereinsatzkräften der Polizei aufgetaucht und hätte uns gerettet, wir wären beide auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Seitdem war nun ein gutes halbes Jahr vergangen, und immer, wenn mich irgendein Angstgefühl überkam, tauchten die Bilder dieser Nacht zwanghaft wieder auf – die Fackeln in der Krypta wie ein Flammenmeer, die Männer in den weißen Kutten, die uns festhielten. Am deutlichsten sah ich Jims blutiges Gesicht vor mir, als Dani mit dem Kerzenleuchter wie besinnungslos auf ihn einschlug und gar nicht mehr aufhören konnte. Gegen diese Erinnerungen kam ich nicht an. Die Bilder haben sich hartnäckig gehalten – unabhängig vom Lauf der Zeit und von unseren Zukunftsträumen.

Noch immer schämte ich mich dafür, dass es Jim gelungen war, mich zu manipulieren. Monatelang hatte er ein doppeltes Spiel getrieben – während er Dani in der Krypta quälte, schlich er sich in mein Leben ein und tat so, als sei er mein Freund. Ich war sogar drauf und dran gewesen, mich auf eine Beziehung mit ihm einzulassen. Er hatte sich allerdings auch wirklich überzeugend präsentiert. Der erfolgreiche Architekt. Männlich, aber sensibel. Buk sogar in seiner Freizeit Sauerteigbrot. Doch da draußen in der Kirche übernahm er die Rolle des brutalen, allmächtigen Sektenführers.

Diese Sekte war vollkommen verrückt. Sie nannten sich die Wächter des Wanderfalken , doch für mich waren sie ausschließlich die »Mördersekte«. Wie die Killerwale, allerdings tausendmal schlimmer. Man wird sie einfach nicht los. Die Sektenmitglieder waren über die ganze Welt verstreut, lauter angesehene Männer in hochrangigen Positionen. Viele gehörten zur Elite des Kulturbetriebs. Sie waren perfekt organisiert und sadistisch veranlagt. Dabei waren sie hart wie Stahl, in ihren Augen flackerte kein Fünkchen Mitgefühl. Psychopathen mit kaltblütigem, höhnischem Grinsen, kontrollsüchtig. Aber im Grunde waren das erbärmliche Menschen, die einem leidtun konnten. In der Gerichtsverhandlung hatten sie sich reumütig gegeben, doch das hatte ihnen nicht viel genützt. Jetzt saßen sie hinter Gittern, zumindest die Mehrheit von ihnen. Und obwohl Jim nicht mehr am Leben war, war Danis Hass ungebrochen. Wenn ich aus Versehen seinen Namen fallen ließ, flippte sie sofort aus. Jetzt machte ich einen großen Bogen um das Thema. Über die Sekte selbst konnte man mit ihr sprechen, aber der Name Jim löste in Dani noch immer heftige Reaktionen aus. Wenn er fiel, verlor sich ihr Blick in der Ferne, danach war sie eiskalt.

»Ich finde …«, hatte ich einmal zaghaft vorgeschlagen, »du solltest mit einem Psychotherapeuten über Jim reden.«

»Warum? Er ist doch tot«, sagte sie dann, und schon war dieser eiskalte Blick wieder da.

Ich versuchte krampfhaft, die kalten Schauer, die mir den Rücken hinunterliefen, zu ignorieren.

»Aber du reagierst so heftig, wenn sein Name fällt.«

Dann schweifte ihr Blick wieder ab, war ganz entrückt. Und genau das machte mir am meisten Angst – nicht ihre gefühlskalten Augen, sondern diese Leere in ihnen – da hatte ich das Gefühl, sie würde ganz verschwinden.

»Er hätte noch viel mehr Leid verdient gehabt«, sagte sie schließlich.

Ich wollte eigentlich sagen: »Wir können seine Leiche ja ausbuddeln und ihn noch mal verbrennen«, aber solche Geschmacklosigkeiten verkniff ich mir natürlich. Auch wenn es mir gutgetan hätte, es hätte mich befreit, mit Dani wieder über alles reden zu können, so wie früher.

Dass unsere Eltern uns verlassen hatten, als wir sechzehn Jahre alt waren, hatte unser Schicksal besiegelt. Sie wollten ihr Leben lieber in einer dubiosen, indischen Sekte namens Ammata Kumar fortsetzen. Seitdem mussten wir zwei allein zurechtkommen.

Jim war von Ammata Kumar als einer von mehreren Architekten eingeladen worden, um ein neues Gebäude für die Sekte zu entwerfen. Bei der Gelegenheit war ihm ein Foto von uns ins Auge gestochen, das meine Mutter in ihrem Büro stehen hatte. Und so war er überhaupt auf die Idee gekommen, uns für sein krankes Experiment zu benutzen – ein göttliches Kind zu zeugen.

Aber Carl hatte uns schließlich gerettet. Danach war einiges passiert – wir waren nach Kalifornien umgezogen, Carl hatte mich in seiner Firma Ash & Coal zur Partnerin gemacht, und unsere Beziehung war immer enger geworden. In unserem Haus am Meer in Half Moon Bay, wo wir jetzt wohnten, fühlte ich mich fast rundum sicher. Innerhalb weniger Monate war es Dani und mir gelungen, unser kaputtes Leben nach und nach wieder zusammenzuflicken. Äußerlich wirkte ich wohl meist gelassen, doch in meinem Kopf saß das Trauma tief. Die Angst würde mich nie aus ihren Fängen lassen, die Erinnerung konnte ich nicht auslöschen, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, dass wir auf einem guten Weg waren.

Doch jetzt, als das Erdbeben das Haus erschütterte und ich vor Angst fast verging, kamen die Szenen dieser Nacht schlagartig wieder hoch. Mir wurde kalt. Ich sah alles ganz klar vor mir. Mein Körper bebte unter meinen keuchenden Atemzügen. Carl . Jetzt würde ich ihn nie mehr wiedersehen. Und all diese unglaublichen Heldentaten, meine hartnäckige Suche nach Dani im letzten Jahr, alles Leid, das wir ertragen hatten, das süße Baby, und dann sollte es auf diese Art enden.

Dieses verfluchte Beben. Ich wollte raus ins Freie, raus aus den vier Wänden. Die Panik wuchs. Wie konnte man so etwas Furchtbares wie diese Sektengefangenschaft überleben, um dann innerhalb weniger Minuten zu Tode zu kommen, bloß weil man zufällig in einem erdbebengefährdeten Gebiet lebte? Es war so sinnlos und so ungerecht.

Genau in diesem Augenblick hörte das Beben auf.

Immerhin atmete ich noch.

Mein Puls hämmerte an meinen Schläfen, doch das Schwindelgefühl ließ schon nach. Von draußen hörte ich wieder das Rauschen der Wellen und weiter entfernt das Bellen eines Hundes.

Ich holte ein paarmal ganz tief Luft – wie eine Schwimmerin, die wieder auftaucht. Die Sonne kroch plötzlich hinter den Wolken hervor und schien durchs Fenster, fast als wolle sie feiern, dass das Erdbeben vorbei war.

Die Sonnenstrahlen fielen auf meine nackten Beine. Wie wunderbar, sie wieder zu spüren.

Wir hatten es geschafft.