Um mich herum ein einziges Chaos: umgekippte Möbel und auf dem Boden sämtliche Gegenstände kreuz und quer. Aber unser Haus stand noch, und an den Wänden konnte ich keine Risse erkennen.
Meine Ohren taten jetzt weh, aber die Übelkeit und der Schwindel waren abgeklungen. Ich stand auf und ging mit weichen Knien zu Dani ins Zimmer. Auch wenn ich bereits wusste, dass es ihr gut ging, so wie ein Zwilling das eben spürt, empfand ich eine große Erleichterung, es bestätigt zu finden: Zusammengekauert hockte sie unter dem Schreibtisch. Ihr stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Den Kleinen hielt sie krampfhaft fest. Sonderbarerweise war er an ihrer Brust ganz still. Ich hockte mich hin, kroch dann unter den Tisch und nahm sie in den Arm. Danis Nachthemd war klitschnass.
»Wir haben überlebt, das war ein Erdbeben«, sagte ich.
Danis Blick war verstört und sonderbar. Aus ihrem Mund drang ein tiefes Stöhnen.
»Ich dachte, ich würde sterben. Als Strafe dafür, dass ich Jim umgebracht habe.«
»Schsch, das ist nur der Schock. Komm mal da raus.«
Behutsam zog ich sie unter dem Tisch hervor. Ihr Sohn war tatsächlich an ihrer Brust eingeschlafen. Irgendwie hatte ich immer noch das Gefühl, das Haus würde schwanken, doch alles war ruhig, so wie nach einem Sturm.
Ich streichelte Dani über die Wange.
»Du machst dir doch keine Vorwürfe, dass du Jim getötet hast? Ich glaube, du hasst ihn immer noch.«
»Tu ich auch. Und dafür werde ich bestraft. Ich habe Fantasien, wie ich auch die anderen Männer, die dabei waren, umbringe. Ihnen die Augen aussteche. Mit dem brennenden Leuchter auf sie losgehe. Schon beim kleinsten Gedanken an sie spüre ich diesen unsäglichen Hass und die Demütigungen wieder. Warum werde ich das nicht los, Alex? Was stimmt mit mir nicht?«
Wenn sie so sprach, klang ihre Stimme ganz fremd. Arme Dani. Sie war immer die Fleißige, Brave von uns beiden gewesen. Intelligent, empathisch und nachsichtig. Ich dagegen war die mit dem losen Mundwerk und dem schwarzen Humor – aus der man nicht schlau wurde, die einen Flirt nach dem anderen hatte und sich weigerte, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Doch Dani konnte nach dieser Zeit der Gefangenschaft nicht mehr nachsichtig sein und vergeben. Und auch ich hatte mich verändert. Ich hatte erlebt, wie es ist, wenn man einen anderen Menschen so sehr vermisst, dass man sich selbst vergisst. Jetzt wollte ich ihr helfen, das Trauma zu verarbeiten, aber ich wusste nicht, wie.
»Es wird vorbeigehen«, sagte ich. »Da bin ich mir ganz sicher. Das sind posttraumatische Symptome.«
Und da fing der Raum wieder an zu vibrieren. Für einen Augenblick dachte ich schon, jetzt geht es wieder los, doch dann begriff ich, dass es nur ein kleines Nachbeben war.
»Das ist nicht gefährlich, nur ein Nachbeben«, beruhigte ich sie.
»Okay«, erwiderte Dani. »Ich glaube, das Schlimmste ist überstanden, jetzt habe ich keine Angst mehr.«
So saßen wir einfach still da. Warteten ab – ob es noch mal vibrierte, wackelte, bebte – doch nichts dergleichen.
»Lass uns mal den Fernseher einschalten«, sagte ich. »Vielleicht kommt schon etwas in den Nachrichten. Warte mal.«
Da fiel mir das Telefonat mit Carl wieder ein. Ich kroch in mein Schlafzimmer hinüber – warum auch immer auf allen vieren – aber das Gespräch war weg und der Akku in meinem Handy leer. Und in all dem Durcheinander war es unmöglich, ein Ladekabel zu finden.
Ich stand wieder auf, ging ins Wohnzimmer zurück und flog fast über einen Stuhl, der umgekippt auf dem Boden lag. Dann schaltete ich den Fernseher ein. Und da kamen schon die ersten Nachrichten über das Erdbeben. Stärke 6,3 auf der Richterskala, das Epizentrum an der Küste zwischen Half Moon Bay und dem San-Andreas-Graben, es wurden keine Toten gemeldet, allerdings zahlreiche Sachschäden, das stärkste Erdbeben seit 1926 in diesem Gebiet.
Jetzt brauchte ich frische Luft, doch es kostete mich große Überwindung, die Haustür zu öffnen. In meiner Fantasie hatte sich das Meer angehoben und rollte mit einer Monsterwelle direkt auf unser Haus zu. Ganz vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter. Laue Morgenluft schlug mir entgegen. Durch einen Nebelschleier fielen die ersten grellen Sonnenstrahlen auf den Strand.
Wie sonderbar, alles sah aus wie immer. Die Häuser, die Straßen, das Meer und die Anlegestelle in der Ferne. Eine große Welle schlug auf den Strand, doch sie kam nicht einmal in die Nähe der Dünen. Trotz der diesigen Luft glänzte die Küstenlandschaft lebendig und wild, voller Energie durch die brandenden, peitschenden Wellen. Die Luft roch nach Seegras und Schwefel. Vom Land drang Brandgeruch in meine Nase. Wie trostlos. Kein Mensch weit und breit. Aber dann sah ich auf und entdeckte jemanden. Im ersten Stock des Hauses nebenan stand ein Mann auf dem Balkon und lehnte sich ans Geländer. Er sah aufs Meer hinaus. Allein der Anblick dieses lebendigen Menschen beruhigte mich ungemein.
Dann erschien Dani hinter mir. Ich fuhr herum. Erleichterung lag in der Luft.
»Siehst du was?«, fragte sie mich.
»Nein, alles ist wie immer. Wo ist der Kleine?«
»Schläft weiter. Verrückt, oder? Ich habe ihn in sein Bettchen gebracht.«
Da legte ich ihr die Hand auf die Schulter. Sie erzitterte von der Berührung.
»Komm, wir gehen wieder rein und fangen an aufzuräumen«, sagte ich.
Unsere Wohnung war ein Chaos ohne Gleichen. Im Wohnzimmer gab es gar nicht viele Möbel, doch das Erdbeben hatte einiges angerichtet. Die Bücher waren aus den Regalen gefallen. Die Tür eines Hängeschranks in der Küche stand offen, und der Boden war voller Scherben von Gläsern und Geschirr. Das Haus gehörte der Firma Ash & Coal, wir hatten es nur gemietet. Es war schon in die Jahre gekommen, doch vor unserem Einzug hatten wir die Wände noch hellgrau streichen und auf den Böden ein hochwertiges Eichenparkett verlegen lassen.
Wenn ich etwas Schockierendes erlebe, ist es für mich die beste Medizin zu putzen. Das war schon immer so. Ich holte Kehrblech und Handschaufel und begann, die Scherben zusammenzufegen. Dani stellte die umgekippten Möbel wieder hin und hob die Bücher auf. Wir schwiegen einfach, schließlich wussten wir, was im Kopf der anderen vor sich ging. Eigentlich hätte ich als Erstes nach einem Ladekabel suchen und Carl zurückrufen sollen, doch ich brauchte ein paar Minuten, um mich zu sammeln.
Im Fernsehen liefen nun auf allen überregionalen Sendern die Nachrichten über das Erdbeben. Sie zeigten Bilder von Sprüngen in Gebäuden, abgerissenen Elektroleitungen und umgestürzten Bäumen. Es gab zwar ein paar Verletzte, aber nach aktuellem Kenntnisstand keine Toten.
An den Wänden hatten wir einige wenige Bilder aufgehängt, es waren überwiegend gerahmte Fotos. Nur an einem war die Glasscheibe heil geblieben. Es war eine Aufnahme von Dani und mir und stammte aus der Zeit vor den schrecklichen Ereignissen, also aus der Zeit, als wir noch glücklich waren. Wir standen auf einer Sanddüne vor unserem Sommerhaus in Lomma. Beim Betrachten hatte ich das Gefühl, es sei gestern gewesen. Fast roch ich den Duft des Meeres, der Nadelhölzer und unserer sonnengebräunten Haut. Wie sehnte ich mich zurück in diese Zeit, als wir noch unbeschwert waren!
Wie oft reiste ich in Gedanken in die Zeit vor der Entführung zurück, zu diesem Augenblick, in dem die Aufnahme gemacht worden war. Dann stellte ich mir vor, genau dann auf »Pause« zu drücken, um die Zukunft zu ändern. Ich machte mir selbst die größten Vorwürfe, dass ich an besagtem Abend betrunken gewesen war und Dani nicht begleitet hatte. Auf dem Heimweg war sie von Jim gekidnappt worden.
Mit Schuldgefühlen hat es etwas Sonderbares auf sich. Sie stecken nicht nur tief in einem drin, sie übertragen sich auch auf die Umgebung. Nachdem Dani die Gefangenschaft in der Sekte mit knapper Not überlebt hatte, trug ich einen Teil ihrer Angst ständig mit mir. Nach monatelanger Gefangenschaft reagierte sie paranoid auf alles und jedes. Ich wollte ihr helfen, versuchte, beruhigend auf sie einzuwirken, doch dafür musste ich meine eigene Angst verdrängen. Manchmal schüttete ich Carl mein Herz aus. Aber nur, wenn ich wirklich nicht mehr konnte.
Ich hängte unser Foto zurück an die Wand. Mein Blick wanderte zur Decke hoch, von wo ein ungewohnter Geruch kam, eine Mischung aus nassem Gips und Wandfarbe. Während des Bebens hatte ich gedacht, das ganze Dach stürze ein, aber jetzt konnte ich feststellen, dass nur ein kleines Stück abgebrochen war. In der Ecke sah es aus, als sei da erst kürzlich etwas zugespachtelt worden. Dort saß ein Streifen Klebeband, der ein Kabel fixierte, das entlang der Leiste in Richtung Haustür geführt wurde. Das weckte meine Neugier, und ich ging zum Hauseingang und öffnete die Tür.
Und da entdeckte ich an der Außenwand unseres Hauses eine Überwachungskamera.