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Sanctum-Rehaklinik für Suchterkrankungen,

Arjeplog, Norrland

Die Wanduhr zeigt Viertel vor sechs.

Das ist die Todesstunde, so nennen jedenfalls die Schwestern und Pfleger diese Zeit am frühen Morgen gern, weil dann die meisten Patienten in dieser widerwärtigen Suchtklinik im Schlaf versterben. Genau dann dreht die Pflegehelferin mit dem Medikamentenwagen ihre Runde und weckt sie. Zu einer Zeit, wenn alle im Tiefschlaf sind.

Zumindest alle außer Andrea. Sie ist die einzige Person, die schon wach ist.

Sie sitzt am Fenster und wartet. Draußen ist es noch dunkel, aber diese Dunkelheit stört sie nicht. Die Dunkelheit in ihr ist schlimm. Obwohl auch das ein Ort ist, an dem sie sich verstecken kann. Wenn man in ein schwarzes Loch abtaucht, ist es leichter zu vergessen, wer man früher mal gewesen ist. Heute drehen sich ihre Gedanken allerdings mehr darum, wer sie in Zukunft sein möchte.

An der Einfahrt zum Klinikgelände steht ein großes, von Spots angestrahltes Schild. Darauf ist ein manisch lächelnder Mann abgebildet, daneben der Schriftzug: Sanctum-Rehaklinik – wo die Seele Ruhe findet . Doch in Andreas Fall geht es nicht um Drogenentzug, eher wird sie hier damit vollgepumpt, um sie gefügig zu machen. Dass sie das Wort Rehabilitation benutzen, ist der blanke Hohn. Es handelt sich nämlich um keine normale Rehaklinik.

Der ganze Betrieb erinnert Andrea eher an eine freireligiöse Gemeinschaft. Sie ist am falschen Ort gelandet, das wird die Zukunft zeigen.

Sie nimmt die Stille in sich auf, diese ganz eigenartige Stille in dieser Klinik – sie wirkt steril und statisch. Oft geht sie ihr derart auf die Nerven, dass sie ganz kribbelig wird. Sie sehnt sich so sehr nach dem echten Leben, denn hier passiert einfach nichts. Und wie sie sich danach sehnt! Die Medikamente beeinträchtigen fast alles, bremsen sie, machen sie benommen und zerstreut, nur ihre Sehnsucht bleibt. Fast wären ihr die brutaleren Behandlungsmethoden lieber, wie Zwangsjacken oder Elektroschocks, um dieser fürchterlichen Eintönigkeit hier ein Ende zu machen. Sie hofft auf kleine Veränderungen im Tagesablauf, bloß ein bisschen Freiraum. Mehr will sie ja gar nicht. Das ist das Einzige. Aber das ist reines Wunschdenken. Sie werden sie niemals laufen lassen – nach allem, was sie getan hat.

Es gibt Dinge, die werden dir nie verziehen.

Nicht mehr lange, dann wird die Pflegehelferin mit den Medikamenten kommen. Und wie immer wird sie ihr noch zusätzlich ein paar Beruhigungsmittel in den Pappbecher schmuggeln, nur um ganz sicherzugehen. Die Pflegerin ist freundlich, aber die Höflichkeit der Menschen ist immer ganz dünnes Eis. Die Angestellten in diesem Betrieb sind wie Maden, sie ernähren sich von totem, abgestorbenem Material. Am schlimmsten ist die Psychotherapeutin, Ursula Becker. Sadistisch lächelnd wandelt sie über die Flure. Ursula Becker meint, Andrea befinde sich im Spätstadium einer ausgedehnten Psychose, wolle es aber nicht wahrhaben. Sie nervt damit, dass Andrea ihre Wut bearbeiten solle, ihre Erinnerungen , sie soll all das bearbeiten, wovon Ursula Becker nicht die geringste Ahnung hat.

Aber Andrea weigert sich aufzugeben.

Eines Tages wird Ursula Becker nicht mehr bei der Arbeit erscheinen. Sie wird krank werden, einen Unfall erleiden oder sich einen Fehltritt erlauben und ihren Job verlieren. Und dann wird jemand anders ihren Platz einnehmen. Hier liegt Andreas ganze Hoffnung, dass jemand nachrückt, der sie besser versteht.

Sie wirft wieder einen Blick auf die Wanduhr. Zwölf Minuten vor sechs.

Sekunden später ertönt vom Flur her ein dumpfer Knall.

Sie verspürt einen leichten Windzug. Die Tür quietscht, als sie geöffnet wird.

Schwere Schritte knarzen auf dem Linoleumboden.

Ein Körper, der leicht verschwitzt riecht. Eine Knoblauchnote im Atem.

Das versetzt sie in Aufregung. Diese Person ist ihr fremd.

Langsam dreht sie sich um.

Ein etwas übergewichtiger Mann in den Fünfzigern zieht sich einen Stuhl vom Tisch und nimmt vor ihr Platz. Er hat graue Haare und trägt eine Hornbrille. Auf seinem Namensschild steht Dipl.-Psychologe Nils Wallin .

»Ihre behandelnde Psychotherapeutin hat leider eine Lebensmittelvergiftung und ist krankgeschrieben«, erklärt er.

Das ist die beste Nachricht seit Langem. Andrea fragt sich, warum nicht längst jemand auf die Idee gekommen ist, Ursula Becker zu vergiften.

»Ich habe mir gedacht, ich schaue gleich heute Morgen mal bei Ihnen vorbei, um mich zu erkundigen, wie es Ihnen geht«, fährt Nils Wallin fort.

Auf eigentümliche Weise reckt er immer wieder seinen Nacken, und nach jedem Satz muss er schlucken. In einer Hand hält er einen Notizblock, in der anderen lässt er einen Stift durch die Finger rotieren.

»Heute wird auch die Schwester mit der Medizin nicht kommen«, spricht er weiter. »Ich habe jetzt die Leitung der Psychiatrie im Haus übernommen und mir Ihre Unterlagen geholt. Da ich die Dinge etwas anders sehe, werden wir an Ihrer Medikation einiges umstellen.«

Sein durchdringender Blick macht sie auf gewisse Weise nervös, sie weiß selbst nicht genau, warum.

Sie reißt sich zusammen, um sanft zu lächeln – Sympathie erheischend.

»Jetzt werde ich Sie nicht länger belästigen. Nach dem Mittagessen komme ich noch mal vorbei, dann können wir uns in Ruhe unterhalten«, sagt er und sieht sie noch einmal intensiv an.

Es wirkt eigenartig, dass er so freundlich ist, aber sie ist ja nicht blöd. So benimmt man sich nur, wenn man etwas von jemandem will.

Nachdem er wieder gegangen ist, sitzt sie noch lange mit halb geschlossenen Augen da.

Es gibt einen Weg hinaus . Dieses Ziel darf sie nicht aus den Augen verlieren.