Kurz darauf flimmerte die News von der Babykidnapping-Bande in allen Nachrichtensendungen über den Bildschirm – stündlich, bis in die Nacht hinein. Gott sei Dank fiel Danis Name nicht, doch auf jedem Sender tauchten verpixelte Bilder der verhafteten Männer auf. Im Zusammenhang mit der Ergreifung der Täter wurde Steves Securityagentur mehrfach erwähnt. Einige Eltern, die sich um ihre Kinder sorgten, erstellten eine Seite auf Facebook, auf der sie Tipps austauschten, wie man sich schützen könne. Und mir fiel auf, dass die Menschen, die auf der Strandpromenade vor unserem Haus vorbeiliefen, sich auf einmal nervös umsahen und ganz angespannt wirkten. Wer sich traute, mit dem Kinderwagen spazieren zu gehen, ging nicht allein. Die Mütter ließen sich von mindestens einem Mann begleiten.
Gegen Ende der Woche wurden Carl, Dani, Steve und ich in die Polizeizentrale in San Francisco einbestellt, weil noch Fragen offen waren und man uns über die weitere Vorgehensweise informieren wollte. Dani hatte Erik in der Bauchtrage dabei. Die Büros waren aufgeheizt, die Fenster vom Kondenswasser beschlagen. Der Polizeibeamte, der uns empfing, stellte sich als Kommissar Ben Nguyen vor. Er hatte asiatische Wurzeln und war ungefähr Mitte vierzig, in seinem kurzärmeligen Hemd sah er mit seinen unglaublich muskulösen Armen wie ein American-Football-Profi aus. Er hatte eine ruhige, angenehme Art, doch ihm liefen die Schweißtropfen über die Stirn.
»Die Klimaanlage ist schuld«, sagte er und seufzte. »Es ist jetzt das dritte Mal in diesem Jahr, dass sie ausfällt.«
Er führte uns in einen kleinen Raum, in dem es noch wärmer war, und stieß die Tür mit dem Fuß zu. Dann knipste er das Leuchtstoffröhrenlicht an und ließ sich hinter einem Schreibtisch nieder, der von Papieren übersät war. An der Wand hing ein Zettel, auf dem unzählige Telefonnummern notiert waren.
»Setzen Sie sich doch«, sagte er. »Und bitte entschuldigen Sie diese Unordnung.«
Wir nahmen Platz. Meine Kleider klebten schon jetzt auf der Haut. Erst in diesem Augenblick fiel mir auf, dass Nguyen offenbar mit Steve bekannt war, denn sie unterhielten sich gleich angeregt über ein Baseballspiel. Dann wandte sich Ben Nguyen Dani zu.
»Als Erstes möchte ich betonen, dass der Säugling, der in Palo Alto entführt worden ist, völlig unbeschadet wieder bei seinen Eltern angekommen ist. Wir haben das kleine Mädchen in der Wohnung des Mannes gefunden, der jetzt in Untersuchungshaft sitzt. Das Kind war den Zwischenhändlern noch nicht übergeben worden. Wir nehmen an, dass die Täter unter Druck gestanden haben und dies der Grund dafür gewesen ist, dass sie Ihr Kind so schnell wie möglich an sich bringen wollten«, sagte er und warf einen Blick auf Erik, der sanft schlummerte.
»Welch ein Segen, dass Sie das andere Baby gefunden haben«, sagte Dani.
»Ja, absolut. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Täter einer Bande angehören, die Kinder entführt und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Sie agieren vor allem in Kalifornien und Oregon. Die Männer, mit denen wir es zu tun haben, stammen aus Oakland und sind noch nicht lange dabei.«
Ben Nguyen warf einen Blick in seine Unterlagen, dann fuhr er fort.
»Mir ist bekannt, dass sie im letzten Jahr Opfer eines schrecklichen Verbrechens geworden sind, und wir haben dies in unsere Ermittlungen natürlich einbezogen. Doch es gibt keinerlei Hinweise auf Verbindungen zwischen dieser Sekte und der Bande, die die Kinder entführt.«
»Sind Sie mit allen Details darüber vertraut, was die Sekte den beiden in Schweden angetan hat?«, fragte Carl.
»Ja, und wir nehmen die Sache sehr ernst. Doch in unseren Archiven taucht diese Sekte überhaupt nicht auf.«
»Sie haben keinen offiziellen Namen, besitzen keine Adresse und sind deshalb in den Registern der Behörden auch nicht gelistet«, erläuterte ich. »Sie sind vollkommen inkognito. Aber sie haben eine Agenda, ein riesiges Netzwerk und Kontakte und Mitglieder überall auf der Welt.«
Ben Nguyen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Ja, ich weiß, das erschwert die Nachverfolgung natürlich beträchtlich, doch wie gesagt, es gibt keinerlei Hinweise auf Verbindungen zu diesen Männern. Unsere Täter sind bereits durch Jugendstrafen und Rowdyverhalten aufgefallen. Ich würde bezweifeln, dass sie mit solchen Personen, wie Sie sie da beschreiben, in Kontakt stehen.«
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Steve.
»Noch lange sind nicht alle Bandenmitglieder gefasst. Wir haben eine Sonderkommission gebildet und lassen weitere Verdächtige beschatten, um alle dingfest zu machen.«
»Glauben Sie, dass sie noch einmal versuchen werden, Erik zu kriegen?«, fragte Dani.
»Nein, das halten wir für eher unwahrscheinlich. Die wissen jetzt, dass Ihr Haus observiert wird, ein solches Risiko würden sie nicht eingehen. Sie können beruhigt sein.«
Und seine Worte waren beruhigend. Sogar Dani konnte erleichtert aufatmen. Wir beantworteten ihm noch weitere Fragen. Am Ende bat er Dani, den Mann zu identifizieren, der Erik entführen wollte.
Wir warteten so lange draußen vor der Polizeizentrale. Die Temperaturen waren inzwischen deutlich gesunken. Während wir das Gespräch mit Nguyen geführt hatten, war ein kühler Wind aufgekommen. Jetzt ging es mir besser. Ich hatte mich überzeugen lassen, dass der Kidnappingversuch nicht mit den Aktivitäten der Sekte zusammenhing.
»Das war ganz eindeutig der Typ, der hinter Erik her war, keine Frage«, sagte Dani, als sie zu uns auf die Straße kam. »Und jetzt war er lange nicht mehr so aufgeblasen. Ich hoffe, er bekommt eine satte Strafe und sie finden die restlichen Mitglieder der Bande. Wollen wir jetzt los, Steve?«
»Was habt ihr vor?«, fragte ich.
»Steve wird mich auf den Schießstand mitnehmen«, antwortete sie.
»Was? Warum denn das? Hast du das mit der Pistole ernst gemeint?«
»Ja, ich möchte schießen lernen. Steve wird mir helfen, den Schein zu machen.«
»Ich will Dani nur ein paar technische Dinge zeigen«, sagte Steve. »Das heißt, heute wird sie noch nicht mit einer Pistole nach Hause kommen.«
»Das hoffe ich«, erwiderte ich.
»Schauen wir mal«, sagte Dani und lächelte.
Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, doch es war ein gutes Gefühl, sie mit einem Securityofficer unterwegs zu wissen.
Eine gute Woche später saßen Carl und ich auf seinem Balkon und sahen gebannt zu, wie die Sonne über der Bucht unterging. Knapp über dem Horizont hielt sie sich hinter Nebelschleiern noch eine ganze Weile, während der Himmel in Rot, Hellblau und Orange erstrahlte. Die Golden Gate Bridge hob sich mächtig und stolz vor dem Schauspiel ab. Ganz solide stand sie da, als würde sie alles und alle überdauern. Die Wasseroberfläche schimmerte roséfarben und war ruhig, sie sah wie ein Spiegel aus, der in der Bucht lag. Carl meinte, es könne noch dauern, bis der Winter kam, der legendäre San-Francisco-Herbst würde noch anhalten.
Eigentlich hätten wir uns um das Abendessen kümmern sollen, doch wir saßen bloß da, verzaubert von der schönen Aussicht.
»Und, kannst du dich langsam entspannen?«, fragte Carl.
»Ja, das kann ich. Aber findest du es nicht auch verdächtig, dass so etwas geschieht, kaum dass wir der Sekte entkommen sind?«
Er überlegte.
»Nein, im Grunde nicht. Dani geht oft mit Erik auf der Strandpromenade spazieren. Im Haus wohnt kein Mann. Die Kidnapper haben Erik vermutlich für eine leichte Beute gehalten.«
Doch trotz seiner Argumente konnte ich nicht aufhören zu zweifeln.
»Es ist doch nicht zu fassen, wie brutal das Schicksal ist. Dani hat doch gerade erst so viel durchgemacht. Kann das wirklich Zufall sein?«
»Ja, das glaube ich tatsächlich, Alex. Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass es anders sein sollte.«
Damit beendeten wir das Thema. Und nun machte ich mir auch keine Sorgen mehr.
»Gehts dir jetzt besser?«, fragte er mich.
»Ja.«
Er blinzelte mich an. Ich hatte das Gefühl, er wollte etwas sagen. Er blickte auf, betrachtete die Skyline von San Francisco, und mir war, als könne ich seine Gedanken berühren, sie hingen in der Luft zwischen uns.
»Woran denkst du?«, fragte ich ihn.
»Ich habe eine Idee, aber ich weiß noch nicht genau, wie ich es sagen soll«, begann er. »Ich möchte nicht, dass du mich falsch verstehst.«
»Leg los.«
»Nein, vergiss es. Der Zeitpunkt ist völlig falsch. Nach diesem Schrecken, den wir gerade erlebt haben.«
»Du weißt genau, dass mich dein Gerede nur noch neugieriger macht.«
»Dann versprich mir, dass du nicht sauer wirst.«
»Kommt drauf an.«
»Es geht um unser Liebesleben. Ich würde gern was Spannendes mit dir ausprobieren.«
»Was willst du damit sagen? Ich dachte, du magst keinen perversen Sex.«
»Tu ich auch nicht, aber ich liebe es zuzuschauen, wenn dich Glücksgefühle überrollen. Deshalb dachte ich, vielleicht möchtest du es mal mit einem Dreier probieren?«
Dieser Vorschlag kam derart aus dem Nichts, dass es mir die Sprache verschlug.
»Vielleicht sagst du lieber klipp und klar, wenn du mit einer anderen Frau schlafen willst«, erwiderte ich schließlich. »Ich werde dich nicht daran hindern, aber mit uns ist dann Schluss.«
»Ich meine keinen Dreier mit einer anderen Frau.«
»Mit einem Mann?«
»Genau.«
Das war der Hammer. Eine Sexfantasie, die mir immer wieder durch den Kopf geisterte, bestand darin, es mit zwei Männern gleichzeitig zu machen. Einmal hatte ich es tatsächlich auch schon ausprobiert, doch die Männer hatten viel zu wenig Feingefühl bewiesen und wollten zu schnell zum Ziel kommen. Das war einfach nicht schön gewesen. Aber in meinen Träumen stellte ich mir Partner vor, die etwas mehr Erfahrung mitbrachten. Bei dem Gedanken daran stieg mir die Hitze ins Gesicht.
»Mir ist das jetzt echt ein bisschen peinlich«, sagte ich.
»Warum? Mit unseren Klientinnen redest du jeden Tag über flotte Dreier, Vierer und andere Dinge, die noch wesentlich intimer sind.«
»Du hast doch immer gesagt, wir sollten darauf achten, Privatleben und Job zu trennen.«
»Ja, stimmt. Tut mir leid. Ich hätte dir das jetzt nicht erzählen sollen, so kurz nach diesem Kidnappingversuch. Das war wirklich unsensibel von mir. Vergiss es einfach. Ich bin ein Idiot.«
»Ich hab das tatsächlich mal ausprobiert, als ich achtzehn war. Aber damals war es ein Reinfall. Ich hatte nicht mal einen Orgasmus.«
»Bei einem Dreier mit zwei Männern muss die Frau ganz klar im Mittelpunkt stehen. Sonst wird es nichts«, sagte Carl.
»Aber würde dir das denn nichts ausmachen? Wirst du nicht eifersüchtig?«
»Doch. Aber Eifersucht kann auch erregend sein.«
»Hast du schon viel Erfahrung mit flotten Dreiern?«
»Geht so. Aber die stammen gefühlt aus einem anderen Leben, so lange ist das her. Und noch nie hab ich das mit jemandem gemacht, den ich so sehr liebe wie dich.«
»Findest du, dass in unserem Liebesleben etwas fehlt?«
»Nein, gar nicht. Aber ich habe immer wieder diese Fantasie. Du bist noch so jung, ich dachte mir, da möchtest du vielleicht mal was Neues ausprobieren. Etwas Spannendes.«
Ohne zu wissen warum, schossen mir die Tränen in die Augen.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Carl besorgt.
»Nein. In letzter Zeit ist einfach so viel passiert.«
»Weine nicht, Alex. Das war nur so eine Idee. Vergiss es einfach.«
»Ich hab nicht gesagt, dass ich das nicht will. An welchen Mann denkst du dabei?«
»Den kannst du dir aussuchen, wir haben doch die vielen Kontakte über die Agentur. Alle sind vertrauenswürdig und auf Geschlechtskrankheiten getestet. Keiner von ihnen wird dir so einen Genuss bereiten wie ich, aber sie werden ihr Bestes geben, dafür werde ich sorgen.«
»Du bist ganz schön überzeugt von dir, Carl.«
»Eigentlich nicht. Die Sache macht mich sogar fast nervös. Mir ist es wichtig, dass du etwas Tolles erlebst.«
Ich taxierte ihn. Er wirkte unsicher, fuhr sich über den leichten Kinnbart, der in den letzten Tagen gewachsen war. Im Licht der Dämmerung, das auf sein Gesicht fiel, erschien sein Teint ungewohnt blass. Seine Sommersprossen hoben sich jetzt noch deutlicher ab.
»Der Zeitpunkt, das anzusprechen, war falsch, stimmt’s?«, sagte er.
Ich überlegte.
»Nein, warum denn? Ich bin nur etwas überrumpelt.«
»Wir könnten es als eine Form von Rekreation betrachten, vielleicht sogar als Therapie«, sagte er und lächelte.
»Du hast wirklich die Gabe, so was in richtig nette Worte zu verpacken. Lass mir einfach ein bisschen Zeit, okay?«
Er legte mir die Hand auf die nackte Schulter. Obwohl sie ganz warm war, bekam ich eine Gänsehaut. Mir entfuhr ein sehnsüchtiger Seufzer.
»Ja klar. Jetzt musst du überhaupt nichts entscheiden«, sagte er. »Jetzt werde ich kochen.«
Ich setzte mich auf einen Barhocker und sah Carl zu, wie er sich in der Küche an die Arbeit machte. Er konnte all seine Rezepte auswendig und wog die Zutaten genau ab. Er gab Öl in eine Pfanne, schnitt Gemüse klein, brachte in einem Topf Wasser zum Kochen und öffnete den Ofen, aus dem heiße Luft entwich. Ein Anblick, als befände ich mich in einem Labor.
Schon im Alter von sieben Jahren hatte Carl das Kochen gelernt. Es hätte sonst auch nichts zu essen gegeben, denn seine Mutter war depressiv gewesen. Später hatte Carl reihenweise Kochbücher studiert, und mittlerweile hatte er aus seinen Kochkünsten eine Wissenschaft gemacht.
An diesem Abend kochte er Meeresfrüchterisotto und grillte Maiskolben im Ofen. Beim Essen beobachtete ich, wie das T-Shirt über seinem Brustkorb spannte, er sich mit den Ellenbogen auf die Tischkante stützte und energisch in einen Maiskolben biss. Bei allem, was er tat, war er mit voller Konzentration bei der Sache. Ich fragte mich, wie er es überhaupt mit mir aushielt, mit einem so impulsiven Menschen.
Ich malte mir ein Leben aus, in dem Dani und ich nicht Opfer dieser Sekte geworden waren, ein Leben, in dem zwei ganz normale, junge Frauen Kalifornien entdeckten. Ein Leben, in dem ich mich nicht ängstlich umblickte, oder die schlimmen Erinnerungen mich immer wieder lähmten. Dann stellte ich mir vor, wie Dani sechs Monate lang jeden Tag die Angst ausgehalten hatte, es könnte ihr letzter sein. Kein Wunder, dass sich so viel Hass in ihr angestaut hatte. Doch dann fand ich, dass es an der Zeit war, die dunklen Gedanken loszulassen. Jetzt lebte ich in einer der schönsten Städte der Welt. Und hatte einen Traummann an meiner Seite.
Einen Dreier. Leichtes Magenkribbeln stellte sich ein. Ich fragte mich, wie das rein praktisch aussehen könnte. So wie ich Carl kannte, hatte er bereits etwas ausgeheckt. Die Vorstellung, sich einfach hinzugeben, die Welt für ein paar wunderbare Stunden zu vergessen und mich verwöhnen zu lassen, war mit einem Mal unglaublich verlockend.
Als wir mit dem Essen fertig waren und abgeräumt hatten, gingen wir auf den Balkon raus. Schweigend lehnten wir am Geländer und beobachteten Seite an Seite, wie es über den Lichtern der Stadt Nacht wurde.