Sanctum-Rehaklinik für Suchterkrankungen,
Arjeplog, Norrland
Das Foto ist auf einem A4-Blatt ausgedruckt. Ein Mann um die dreißig, kupferfarbenes Haar, stahlgraue Augen. Für einen kurzen Moment steht Andreas Welt still. Es ist Ewigkeiten her, dass sie sich zu einem Mann hingezogen gefühlt hat, aber er berührt sie irgendwie. Ihr kommt etwas in den Sinn, an das sie sich nicht erinnern will, doch vergessen kann sie es auch nicht. Der Duft eines attraktiven und wohlhabenden Mannes. Der Triumph der Eroberung.
»Sie sind ihm noch nicht begegnet, oder?«, fragt Nils Wallin und sieht sie fragend an.
»Nein, nein. Aber ich weiß, wer er ist. Man kann ihn ja durchaus als Promi bezeichnen.«
»Ja, in gewissen Kreisen ist er sehr beliebt. Aber es ist gut, wenn Sie sich bisher noch nicht über den Weg gelaufen sind. Auch wenn er allein dem Aussehen nach zu urteilen etwas Ähnlichkeit mit den zwei Männern hat, um die es in der Therapie ging, hat das jetzt keinerlei Bedeutung. Er und Sie haben nämlich einiges gemeinsam.«
»Könnten Sie bitte deutlicher werden?«
»Der Arme ist in schlechte Gesellschaft geraten. Er beschützt eine Frau, die auf etwas, was in Wirklichkeit unserem Orden gehört, Anspruch erhebt. Sie können ihn vor dem sicheren Untergang bewahren. Es wird also eine Win-win-Situation sein. Für uns, für Sie und auch für ihn.«
»Erzählen Sie mehr.«
»Wir wissen einiges von ihm. Tragische Kindheit. Der Vater Alkoholiker, der die Ehefrau misshandelt hat. Ich denke, Sie werden sich gut verstehen. Aber jetzt sehen Sie sich bitte dieses Bild an.«
Er legt ihr ein anderes Blatt Papier vor.
Die Frau auf dem zweiten Foto hat ein feingliedriges Gesicht, einen dezenten Überbiss, wie manches Fotomodell, was Eva nicht besonders anspricht. Unzählige Sommersprossen breiten sich von der Nasenwurzel über die Wangen aus. Die Augenbrauen sind sanft geschwungen. Doch ihre großen Augen sprechen Bände – über ihnen liegt eine Art Trauerschleier, der sie älter aussehen lässt. Andrea würde sie sonst auf gut zwanzig schätzen. Diese Frau hat Todesängste ausgestanden. Vielleicht würde sie nach einer kieferorthopädischen Behandlung als Model für H&M durchgehen, doch für ein exklusives Haute-Couture-Label reicht ihre Schönheit nicht. Andrea kennt sich aus. Sie hat selbst für ein solches Unternehmen gearbeitet.
Eine Erinnerung kommt hoch, eine Nachrichtensendung, die Andrea zufällig im Gemeinschaftsraum bei Sanctum gesehen hat, bevor eine Pflegerin kam und den Fernseher ausgeschaltet hat. Es ging um eine Kirche, davor befand sich hohes Polizeiaufgebot.
»Jetzt denken Sie mal scharf nach. Haben Sie die Frau schon mal getroffen?«, fragt Nils Wallin.
Andrea schüttelt den Kopf.
»Nein. Aber ist sie vielleicht mal in den Nachrichten gewesen?«
»Ja. Und das werde ich Ihnen später genauer erklären. Das Einzige, was Sie jetzt schon wissen müssen, ist, dass sie zum Teil für das verantwortlich ist, was Ihrer Familie zugestoßen ist. Wovon ich Ihnen schon berichtet habe.«
Andrea läuft noch immer ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er ihre Familie erwähnt. Manchmal ist es gut, dass das Leben am seidenen Faden hängt und Blutsbande innerhalb von Augenblicken durchtrennt werden können. Diese Verbrecher haben bekommen, was sie verdienten. Dennoch ist ihr die Frau auf dem Foto nicht sympathisch. Sie weiß aber nicht recht, warum. Ist sie vielleicht eine Bedrohung?
»Und was soll ich tun?«
Wallin trommelt mit dem Zeigefinger auf dem Bild des Mannes herum.
»Die zwei haben eine Beziehung. Sie sollen seine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Es ist nicht zu übersehen, dass Sie schön sind, Andrea, doch das wird nicht ausreichen, um ihn zu erobern. Er reagiert auf ganz andere Dinge als nur die rein körperliche Anziehungskraft.«
»Aber ist er nicht so eine Art Sexexperte?«
»Na ja, ein selbst ernannter vielleicht«, sagt Nils Wallin und lacht trocken. »Er hat ein Buch geschrieben, das sollten Sie lesen. Wir haben einen ganzen Ordner mit Material über ihn zusammengestellt, den bekommen Sie in einer Woche zu lesen.«
Eine ganze Woche noch. Sie versucht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Durch das winzige Fenster sieht sie, wie neblig dieser Morgen ist. Der abgestorbene Rasen liegt da, starr und matt vom Frost. Die Luft, die zu ihnen ins Zimmer dringt, riecht nach Metall. Vom Boden steigt ihr der Geruch eines starken Putzmittels in die Nase. Dieser Ort ist wie tot, Arjeplog ist die Hölle auf Erden. Sie sehnt sich mit jeder Faser ihres Körpers danach, hier wegzukommen.
»Warum muss ich dafür noch eine ganze Woche bleiben?«, fragt sie ihn.
»Sie müssen glaubwürdig sein, wenn Sie auf ihn treffen. Er ist Psychologe.«
Das bist du auch. Und trotzdem kapierst du überhaupt nichts.
»Und was habe ich von all dem?«
»Zuallererst entlasse ich Sie. Wir stellen Ihnen eine komplett neue Identität zur Verfügung und die Chance, sich einen der begehrtesten Männer Schwedens zu angeln. Das bedeutet zudem die Möglichkeit, einen Schlussstrich unter Ihre Vergangenheit zu ziehen und sich auf die Reise in eine vielversprechende Zukunft zu machen. Bleibt nur die Frage, ob Sie sich einer solchen Aufgabe gewachsen fühlen. Misserfolge sind nämlich nicht einkalkuliert. Wenn es nötig ist, setzen wir die Therapie noch einige Zeit fort.«
Jetzt kommt es drauf an. Sie darf nicht allzu enthusiastisch wirken. Und schon gar nicht manisch.
»Werden wir beide miteinander in Kontakt stehen?«, fragt sie.
»Teilweise schon. Aber Sie werden während dieses Auftrags auch eine Kontaktperson vor Ort haben. Andrea, fühlen Sie sich wirklich schon in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen? Oder sollen wir lieber mit der Therapie fortfahren?«
Therapie . Dieses sinnlose Gerede, die reine Zeitverschwendung. Aber inzwischen weiß Wallin ganz gut, wie sie tickt. Manchmal ahnt sie, dass trotz des vielen Psychologengeschwafels eine Art Hirntätigkeit bei ihm stattfindet.
»Nein, das schaffe ich. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so selbstsicher gefühlt habe.«
»Ihnen ist aber klar, dass Sie tägliche Berichte an uns abliefern müssen? Sie werden unter Aufsicht stehen.«
»Sie haben mir ein neues Leben versprochen.«
»Mit gewissen Einschränkungen, ja.«
Es ist so offensichtlich, dass er sie reinlegen will. Doch sie spielt sein Spiel mit. Aus der Ferne hört sie das Motorengeräusch eines Flugzeugs. Menschen, die in Freiheit leben.
Der Gedanke fliegt so schnell durch ihren Kopf, dass sie ihn gerade noch zu fassen bekommt.
Ich bin intelligenter als alle Mitglieder deines durchgeknallten Ordens. Es wird ein Leichtes sein, euch zu überlisten.
Es ist unmöglich, das Lächeln, das an ihren Mundwinkeln zerrt, zurückzuhalten, darum dreht sie den Kopf weg. Sieht zum Fenster und verfolgt das heisere Krächzen der Krähen im Garten.