15

Sanctum-Rehaklinik für Suchterkrankungen,

Arjeplog, Norrland

Heute ist Nils Wallin bestens gelaunt. Seine Stimme strotzt nur so vor Energie.

»Es gibt ein paar Dinge zu besprechen, bevor ich die Entlassungspapiere ausstellen kann«, sagt er. »Sie werden eine neue Identität erhalten. Wir verändern Ihr Aussehen. Sie bekommen einen blonden Bob und farbige Kontaktlinsen. Später wird jemand vorbeikommen und sich um diese Details kümmern. Während des Klinikaufenthalts haben Sie ja ein bisschen zugelegt, das ist gut so. Achten Sie darauf, regelmäßig zu essen, damit Ihre hübschen Kurven nicht verschwinden.«

Andrea wundert sich, dass er darauf Wert legt. Bald wird sie auch erfahren, warum. Bald. In seinem Gesicht sucht sie nach Hinweisen. Aber sie wird keine weiteren Fragen stellen. Sie braucht ihn. Er hat die Macht, ihr ein neues Leben zu schenken. Möglicherweise hat er auch die Macht, sie zugrunde zu richten, doch das wird sie verhindern.

»Ihr Name ist ab heute Eva Sand«, fährt er fort. »Sie arbeiten jetzt für uns, Sanctum – die erfolgreichste Klinikkette auf dem Gebiet der Suchtbehandlungen. Sie verfolgen einen humanitären Auftrag. Ihr Herz brennt für Frauen, denen Gewalt angetan wurde.«

Eva Sand . Sie lässt sich den Namen auf der Zunge zergehen, er klingt sympathisch. Und er passt zu der Person, die sie früher mal gewesen ist – die alles unter Kontrolle hatte, dass niemand die Leere in ihr ahnen konnte. In diesem Augenblick wird Andrea zu Eva Sand. Sie stellt sich vor, dass sie ab sofort Eva ist. Und es fühlt sich gut an. Befreiend.

»Ich habe hier hilfsweise noch Medikamente gegen die Angstzustände für Sie«, sagt Wallin und hält ihr ein paar Tablettenröllchen hin. »Aber nur eine am Tag, das müssen Sie mir versprechen.«

»Versprochen.«

»Die anderen Medikamente sind abgesetzt, daher sollten Sie deren Angst dämpfende Wirkung kompensieren. Und wenn Sie spüren, dass sich wieder so ein Tobsuchtsanfall ankündigt, wie helfen Sie sich dann?«

»Tief durchatmen, immer zuerst ganz tief durchatmen. Bis zehn zählen, einmal oder zweimal, bevor ich noch im Affekt das Falsche tue. Mich selbst fragen, ob die Wut berechtigt ist. Meine Tobsucht ist irrational. Viele meiner Erinnerungen stimmen überhaupt nicht. Für diese Wut gibt es gar keinen Grund mehr.«

»Richtig, und dann?«

»Dann soll ich daran denken, was Sie mit mir machen, wenn ich den Auftrag vermassele. Mir die Konsequenzen vor Augen halten.«

»Und, muss ich Sie daran erinnern, welche das sein werden?«

Sie merkt, dass sie beinahe die Augen verdreht, doch sie kann sich gerade noch zusammenreißen.

»Nein, nicht nötig.«

»Gut. Und welches neue Ziel verfolgen Sie ab sofort? Was wollen Sie unbedingt erreichen?«

»Ich engagiere mich dafür, dass die Gewalt gegen Frauen endlich aufhört. Für die Rechte der Frauen zu kämpfen, ist meine Bestimmung.«

Er überreicht ihr einen Laptop.

»Darauf finden Sie einige Dateien, die Sie während der Reise lesen sollten. Übersichten über unsere Aktivitäten und Organisationen, auch eine Zusammenfassung der Ergebnisse und etwas Statistik. Sie sollten die Zahlen im Kopf haben, um jederzeit darauf zurückgreifen zu können.«

Sie verstaut den Laptop in ihrer neuen Lederaktentasche.

»Ihre Kontaktperson wird Sie in Kalifornien aufsuchen. Sie müssen rund um die Uhr darauf gefasst sein, dass wir Sie kontaktieren werden, wir können Sie überall und jederzeit ausfindig machen. Feierabende gibt es nicht.«

Er legt ihr einen Reisepass, ein Flugticket und ein Smartphone hin.

Ein Smartphone! Ihr Herz macht einen kleinen Satz.

»Alle Kontakte, die für Sie wichtig sind, sind bereits eingespeichert. Wir haben auch verschiedene E-Mail-Konten für Sie erstellt. Wenn Sie die sozialen Netzwerke benutzen wollen, ist das Ihre Sache. Aber treten Sie auf keinen Fall unter Ihrem tatsächlichen Namen auf.«

Dann legt er ihr Fotos vor, auf denen der Mann und die Frau zu sehen sind.

»Sie werden sich in ihr Leben einschleichen. Er wird es kaum merken, erst wenn Sie schon ständig um ihn sind. Und zwar in jeder Hinsicht. Und wenn Sie mit ihm fertig sind, was bleibt von ihm übrig?«

»Herr Wallin, das müssen Sie wirklich nicht mehr fragen.« Ihr falscher Blick ist wohlplatziert.

»Und was ist mit ihrer Zukunft?«

»Die Arme wird einsam und verzweifelt sein. Sie wird Selbstmordgedanken haben. Und dann werden Sie sich erbarmen und ihr einen Platz in der Klinik anbieten.«

Das sagt sie jetzt nur, um die Worte wirken zu lassen.

Ein Wolfslächeln geht über Nils Wallins Gesicht.

»Ich werde Sie vermissen, Andrea, Entschuldigung – Eva. Enttäuschen Sie mich nicht.«