17

Eva

Sie sitzt in einem Café, an einem Tisch mit Blick auf die Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt Carl Ashers Büro.

Jetzt wartet sie nur darauf, dass das Unausweichliche geschieht. Sie kann es vorhersehen. Menschen sind so berechenbar. Frauen lassen sich von ihren naiven Teenieträumen steuern. Männer vom Testosteron. Warum sollte es bei Alexandra Brisell und Carl Asher anders sein.

Eva schließt die Augen und denkt an das wunderbare Leben, das auf sie wartet. Die Erfüllung all ihrer Träume.

Es geht ihr blendend. Könnte nicht besser sein.

Ihr Gesichtsausdruck bleibt neutral, während ihr Bilder von Erfolg und Ruhm durch den Kopf flattern. Ihre Gedanken wandern zu Carl zurück. Zwischen ihnen hat es sofort gefunkt. Wer könnte besser zu ihr passen, wenn ihr neues Leben begann? Attraktiv genug, um auf dem roten Teppich und in den Hochglanzmagazinen eine gute Figur abzugeben. Wohlhabend genug, um ihr alle materiellen Wünsche zu erfüllen. Ein Sprungbrett, noch dazu ein richtig gutes. Sie ist rundum zufrieden. Vielleicht sollte sie die Medikamente nach und nach absetzen. Wer braucht Beruhigungsmittel, wenn alles läuft wie geschmiert?

Nur ein paar Minuten später sichtet sie Alex Brisell auf der anderen Straßenseite. Alex knallt die Haustür zu und verschwindet. Sie scheint vor Wut zu kochen.

Eva weiß, dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, wann Carl ihr hinterherläuft. Leider ist sie hier im Café mit jemandem verabredet. Sonst könnte sie Carl abfangen, sie müsste einfach nur vor dem Haus auftauchen, ganz zufällig. Es ist geradezu lächerlich einfach, einen Keil zwischen Menschen zu treiben. Keine Beziehung trotzt jedem Sturm. Die meisten sind wie Kartenhäuser, die einstürzen, sobald man mit dem kleinen Finger dagegenschnippt.

Da sitzt mit einem Mal ein Mann vor ihr. Eva hat ihn gar nicht bemerkt. Schätzungsweise ist er Ende dreißig und sieht auffällig maskulin aus. Sein Teint ist sonnengebräunt, das Haar rabenschwarz. Sein Blick erinnert sie an einen Adler. Er strahlt eine natürliche Autorität aus, und seine Erscheinung zeugt von jeder Menge Kohle. Dieser Mann nimmt sich, was er haben will, er braucht viel Aufmerksamkeit. Neben ihm ist nicht mehr viel Platz. Seine Selbstverliebtheit ist keineswegs zu übersehen. Eva darf nicht vergessen, wie klein und unbedeutend sie in den Augen solch eines Menschen ist. Nur ein winziger Spielstein. Aber mittlerweile gelingt es ihr, so gefällig wie nötig zu sein, wenn sie sich einen Nutzen davon verspricht.

Der Mann betrachtet sie mit durchdringendem Blick.

»Wie schön, dass wir uns jetzt endlich kennenlernen, Eva. Ich hoffe, Sie werden unsere Erwartungen erfüllen.«

»Das werde ich bestimmt«, erwidert sie mit fester Stimme.

»Gut, denn unsere Ansprüche sind hoch. Aber lassen Sie mich vorab ein paar Worte zu unserer Tätigkeit sagen. Haben Sie schon mal gesehen, wie die Erde nach einer extremen Dürre aussieht? In Ländern wie Madagaskar oder Zimbabwe?«

Sie antwortet nicht. Es scheint eine rein rhetorische Frage zu sein.

»Zuerst verdunstet jede Feuchtigkeit von der Erdoberfläche, bis sie hart wie Granit ist, also undurchdringlich«, fährt er fort. »Am Ende springt sie auf. Doch es bildet sich nicht eine einzige lange Furche, sondern es entstehen Millionen von kleinen Rissen. Und genau so ist unsere Vorgehensweise. Wir haben ein Netzwerk, das viel, viel weiter verzweigt ist, als Sie es sich vorstellen können. Erst verbreiten wir uns genau wie diese Risse, wir erschaffen sie, treiben kleine Keile in die Gesellschaft – und lassen unsere Überzeugungen dann wie einen Monsunregen auf sie niederprasseln. Wir breiten uns mit atemberaubender Geschwindigkeit aus. Dort, wo wir uns niederlassen, entsteht neues Leben. Rechtschaffene Menschen bekommen endlich wieder frische Luft zum Atmen. Der Abschaum, der auf Kosten der anderen lebt, wird verdrängt. Können Sie sich das vorstellen, Eva?«

Ja, und ob sie das kann. Auch wenn er es nicht glauben mag. Sie selbst ist verhärtet, aufgesprungen und hat nach Wasser gedürstet, seit sie denken kann.

»Wenn Sie glauben, Sie könnten uns hintergehen und uns entkommen, dann haben Sie noch nicht begriffen, mit wem Sie es zu tun haben. Wir sind in jeder Gesellschaftsschicht präsent, allwissend und allmächtig.«

Er lächelt, doch sie hat das Gefühl, dass er auf keinen Fall scherzt.

Allmächtig? Ist er vielleicht geisteskrank? Nein, es ist offensichtlich, dass er eine Vision verfolgt, eher leidet er an Größenwahn.

»Was für ein Gefühl ist es, so viel Macht zu besitzen?«, fragt sie, doch da überschreitet sie bereits eine Grenze – denn er lächelt nur unterkühlt und schweigt.

»Ich würde es niemals wagen, Sie infrage zu stellen oder zu täuschen«, schiebt sie schnell hinterher.

Er lacht auf, mit heiserer Stimme.

»Gut, Eva. Ich werde hier in San Francisco Ihre Kontaktperson sein. Sie können mich Axel nennen, der Nachname ist unwichtig. Und wenn wir uns in der Öffentlichkeit begegnen, kennen Sie mich nicht.«

»Verstehe«, sagt sie.

Unter ihren langen Wimpern mustert sie ihn. Da kommt ihr ein Gedanke, blitzschnell, aber die Erkenntnis ist entscheidend: Diese Männer wird sie niemals loswerden, es sei denn, es gelingt ihr, sie zu überführen. Das würde alles ändern. Innerlich flucht sie, dass sie nicht daran gedacht hat, dieses Gespräch mit dem Smartphone aufzuzeichnen. Nächstes Mal.

Bis auf weiteres wird sie alles tun, um es ihnen recht zu machen. Damit wird sie leben können.