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Eva

Sie steht vor dem Eingang zu der Agentur Ash & Coals. Carl ist ein Workaholic und fast immer vor Alex im Büro. Sie hingegen nimmt die Arbeit nicht ganz so ernst. Eva hat sie eine Zeit lang beobachtet und kennt jetzt ihre Gewohnheiten und Eigenheiten.

Und da taucht er auch schon auf, frisch rasiert und energiegeladen. Als er sie erblickt, ist er erstaunt und wirkt auf Anhieb eher distanziert. Doch mit ihrer letzten Verabredung war sie äußerst zufrieden. Heute kann sie es sich herausnehmen, ein bisschen Gas zu geben.

»Entschuldigung, nicht dass Sie mich für unhöflich halten, weil ich so früh am Morgen hier auftauche«, sagt sie. »Aber gestern ist mir eine Idee gekommen, die mir nicht aus dem Kopf gehen will. Ich verspreche, Sie nicht lange aufzuhalten.«

»Kommen Sie kurz mit hoch«, sagt er höflich, bleibt aber förmlich.

Sie steigt hinter ihm die Treppe hinauf. Er schließt die Tür auf und geht am Empfangsbereich vorbei ins Büro. Eva bleibt in der Tür stehen und sieht sich um. Die Einrichtung ist spartanisch, zwei Schreibtische, ein paar Sessel, mehr nicht. Der Raum ist hoch und lichtdurchflutet. Zwei riesige Fenster lassen die Sonne herein. Langsam macht Eva einen Schritt ins Büro.

Doch Carl beachtet sie gar nicht. Stattdessen kümmert er sich peinlich genau um all das, was er für den Start in den Arbeitstag braucht. Er schaltet die Kaffeemaschine ein, checkt den Anrufbeantworter und seinen E-Mail-Posteingang, lässt die Jalousie herunter und kontrolliert den Papierkorb, der allerdings leer ist. Und währenddessen würdigt er sie keines Blickes.

»Wahnsinn, wie genau Sie mit allem sind«, sagt sie.

»Ordnung und Symmetrie sprechen mich nun mal an.«

Sie nimmt auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch Platz. Betrachtet seinen muskulösen Oberkörper, den das enge T-Shirt erst deutlich zur Geltung bringt. Auch seine Oberschenkelmuskulatur kann sich sehen lassen. Seine Hüften sind breit, doch seine groben Hände ziemlich sexy. Er bewegt sich dynamisch. Seine Haltung ist gut. Die Konzentration, mit der er sich dem Kleinkram widmet, hat etwas Komisches. Aber seine starke Persönlichkeit ist nicht zu übersehen, er hat Charisma, und trotz seines mehr als lässigen Kleidungsstils verschafft er sich sicherlich bei vielen auf Anhieb Respekt.

»Na ja, einen leeren Papierkorb zweimal zu checken, hat das nicht doch etwas Zwanghaftes?«, fragt sie amüsiert.

»Keineswegs. Das ist Sorgfalt«, sagt er, und in seinem Tonfall liegt keine Spur von Ironie.

»Und Ihre Assistentin. Nimmt sie die Dinge … genauso ernst?«

»Alex ist Partnerin, nicht Assistentin. Nein, sie ist das krasse Gegenteil.«

»Ist das denn kein Problem?«

»Ihre Intuition und Leistungsfähigkeit wiegen ihre Ungenauigkeit voll auf«, sagt er lächelnd.

Und sein Lächeln ist so schön, dass Eva beinahe weich wird und ihren Auftrag und alle Opfer, die sie gebracht hat, um einzusteigen, schon fast vergisst. Bei diesem Spiel. Sie zwingt sich selbst, sich an diese Zombies zu erinnern, die noch immer bei Sanctum über die engen Gänge wandeln. Aber sie ist da raus, sie ist jetzt hier. Und wird es tun. Allein der Gedanke reicht aus, und schon ist sie wieder hoch konzentriert.

»Was wollten Sie mir denn erzählen?«, fragt Carl.

»Ich habe vorgeschlagen, dass wir anstelle von Zeitungsartikeln eine Reportage drehen. Die Führungsebene bei Sanctum hat das noch nicht abgesegnet, aber ich gehe davon aus, dass sie meiner Argumentation folgen wird. Ein Film wird mehr Aufmerksamkeit erhalten, und die können wir in Zukunft beide sehr gut gebrauchen.«

Nachdenklich runzelt er die Stirn.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich möchte eine Reportage über Sie drehen, und Ihren Kampf für die Rechte der Frauen darstellen.«

Er lässt sich auf seinen Schreibtischstuhl sacken.

»Ach wirklich? Ich hoffe, Sie planen da keine Enthüllungen über meine Kindheit.«

»Nein, wir setzen bei Ihrer Studentenzeit in Lund an und arbeiten uns nach und nach in die Gegenwart vor. Der Schwerpunkt soll auf der Zeit liegen, in der Sie das Buch geschrieben haben und gegen massiven Widerstand ankämpfen mussten. Gegen die vielen Vorurteile. Bitte, sagen Sie Ja! Das wird großartig.«

»Und was hat das rein praktisch zu bedeuten?«

»Ein paar Reisen nach Schweden. Wir müssten ja Aufnahmen an den Originalschauplätzen machen. Ich arbeite gern mit einer hervorragenden Filmproduktionsfirma zusammen, die hat auch schon unsere Werbefilme gedreht. Ich möchte, dass die Reportage etwa einen Monat, bevor der Solvikhof eröffnet wird, ausgestrahlt wird. Den Film runden wir noch mit ein paar Informationen über die Arbeit von Sanctum und unser Projekt, das Frauenzentrum, ab. Was halten Sie davon?«

»Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass wir den Hof nicht zeigen können, man darf nicht wissen, wo er liegt.«

»Nein, in dem Film wird es vorrangig um Ihre Person, Ihre Forschung und Ihr Buch gehen. Dass Sie den Solvikhof eröffnen, wird nur zu Beginn und im Schlussteil zur Sprache kommen.«

»Ich verstehe nicht ganz, was Sie sich davon versprechen.«

»Sie sind viel zu bescheiden, Carl. Von Ihnen können wir eine ganze Menge lernen. Der Solvikhof soll eine Art Pilotprojekt für unsere eigenen Zentren sein. Wir versuchen nie, unsere Konkurrenz zu verdrängen. Betrachten Sie uns als helfende Hand. Wir kämpfen für die Sache, nicht für den Profit. Unser Ziel ist es, Menschen zu helfen, die ein schweres Schicksal haben. Das Besondere an Ihnen ist, dass Sie die Rechte der Frauen weit mehr thematisieren als jeder andere männliche Protagonist. Man braucht Sie, um beim Thema Gleichberechtigung die Männer ins Boot zu holen. Dabei geht es nicht nur darum, Übergriffe zu verhindern, sondern auch um das Recht auf Sex, der beiden Partnern Spaß macht.«

»Ich möchte, dass der Solvikhof ein Ort wird, an dem Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, Sicherheit und Ruhe finden. Das hat nicht das Geringste mit meinen Ansichten über Sex zu tun.«

»Selbstverständlich nicht. Aber wenn mehr Männer Ihre Theorien vertreten würden, gäbe es auch weniger Übergriffe. Ihr Buch wirkt doch auf gewisse Art präventiv, oder sehe ich das falsch?«

Carls Lippen kräuseln sich. Es ist so einfach, denkt Eva zufrieden. Mit Schmeicheleien geht er einem auf den Leim, wie jeder andere erfolgreiche Mann auch.

»Und ich gebe zu, ich habe unsere Geschäftsführung ein bisschen unter Druck gesetzt«, fügt sie hinzu. »Das ist wirklich eines der Themen, die mir persönlich sehr am Herzen liegen.«

Sie hält die Luft an, wartet darauf, dass er die Frage ausspricht, die ihm auf der Zunge liegt.

»Wieso interessieren Sie sich so dafür, Eva?«

Sie wendet den Blick ab, zögert, scheint in sich zu gehen. Eine Kunstpause, reine Strategie.

»Das ist sehr privat.«

»Wenn Sie nicht darüber sprechen möchten, ist das völlig in Ordnung.«

Sie seufzt.

»Okay, wenn wir in Zukunft zusammenarbeiten wollen, ist es vielleicht nicht schlecht, meine Geschichte zu kennen. Und wenn ich sie jemandem erzähle, dann Ihnen. Ich fasse mich kurz, versprochen.«

Trotzdem bekommt er natürlich die lange Fassung zu hören, die sie mit Nils Wallin abgestimmt und eingeübt hat. Also die Wahrheit, leicht modifiziert.

»Ich stamme aus einer sehr religiösen Familie und bin ein störrisches Kind gewesen. Mein großer Bruder ist damals auf die Idee gekommen, mir den Teufel auszutreiben, und hat mich abends in eine Scheune gesperrt und gequält. Die Bandbreite war groß. Mal hat er mich festgebunden, dann hat er mich ausgepeitscht. Einmal hat er mich mit einem Eisen gebrandmarkt, das man für die Kühe benutzt …«

Hier macht Eva eine Pause und wartet, bis sich ihre Augen mit Tränen füllen. Das hat sie schon recht früh gelernt.

»Am schlimmsten war es in den Sommerferien, wenn kein Erwachsener da war, der eingreifen konnte. Mein Bruder war ein böser, berechnender Mensch.«

Als sie darüber spricht, wundert sie sich selbst, wie gefasst sie ist. So war es wirklich. Ihr Bruder war ein eigennütziges Monster.

Ihre Gedanken wandern zu ihrer Kindheit zurück. Als sie an ihre Racheakte denkt, huscht ihr ein Lächeln übers Gesicht. Wie sie seinen lächerlichen Hund rasierte und er hinterher aussah wie eine Ratte. Oder die Nacht, in der sie ihn in den Penis biss. Danach hatte er keine so große Klappe mehr. Doch dann muss sie daran denken, wie er sie dafür bestraft hat. Das schnürt ihr den Hals zu. Für einen Augenblick denkt sie, es fängt wieder an – dass sie sich selbst nicht wiedererkennt und plötzlich zu einer anderen wird – das geistert ihr jetzt wieder im Kopf herum, und das muss sie auf jeden Fall verhindern. Ohne ihre Medikamente wird es schwieriger werden, diese Spirale zu stoppen.

Carl räuspert sich und lenkt Eva ab, das hilft. Seine klaren, grauen Augen blicken sie wohlwollend und sanft an. Manche Menschen hören sich allzu gern reden. Doch Carl ist anders, er hört gerne zu. Er schafft eine Atmosphäre von Stille.

»Aber warum haben sich deine Eltern nicht eingeschaltet?«, fragt er betroffen.

»Mein Vater war tiefreligiös und hat ihm alles durchgehen lassen. Er hat auch geglaubt, ich sei vom Teufel besessen. Und meine Mutter hat sich nie gegen meinen Vater gestellt.«

Evas Episoden sind sorgsam ausgewählt. Carl hört ihr konzentriert zu. In seinem Gesicht spiegelt sich ihr Leid wider, sein Blick ist voller Mitgefühl. Aber sie kann es sich nicht erlauben, Gefühle für ihn zu entwickeln. Das Ganze ist ein Spiel. Wie Schach. In ein paar Wochen schon wird sie seine Königin einkassieren. Und im nächsten Zug setzt sie ihn Schach matt. Nur einer kann gewinnen. Nur einer bekommt die Macht. Und außerdem klafft ein riesiger Abgrund in ihr, da gibt es keine Empathie, nur eine schreckliche Leere.

»Ich hatte einen Onkel, der sehr freundlich war«, sagt sie. »Eines Tages hat er mitbekommen, was mein Bruder da in der Scheune mit mir gemacht hat. Da hat mein Onkel mich mit sich genommen. Bei ihm habe ich dann eine Weile gewohnt. Doch leider war er Alkoholiker und hat sich im Rausch totgefahren.«

Carl öffnet den Mund und möchte etwas erwidern, doch sie spricht sofort weiter.

»Seit den Ereignissen in der Scheune habe ich ein etwas gestörtes Verhältnis zu Männern.«

»Hat dein Bruder dich vergewaltigt?«, fragt Carl behutsam.

»Nein, Sex war ein Tabuthema in der Familie. Der war nur erlaubt, wenn man Kinder zeugen wollte. Aber mein Bruder war von Natur aus brutal. Diese Dinge sind passiert, als ich zwischen acht und dreizehn Jahren alt war. Ich habe mich überhaupt nicht dagegen wehren können. Und jetzt fällt es mir enorm schwer, Berührungen von Männern zuzulassen.«

»Das kann ich verstehen. Hast du psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen?«

»Ja. Aber nichts hat mir so geholfen wie dein Buch. Wahrscheinlich habe ich es schon tausendmal gelesen. Am Ende sind die Seiten rausgefallen«, sagt sie und lacht, noch mit Tränen im Gesicht.

Er sieht sie sehr ernst an, mitfühlend.

»Danke, dass du mir das anvertraut hast.«

»Ich habe zu danken. Dein Buch hat mein Leben verändert. Ich hoffe, dass ich eines Tages deine Therapie ausprobieren kann. Seit ich das Buch gelesen habe, träume ich davon. Aber das behältst du bitte für dich.«

»Selbstverständlich.«

»Danke, das weiß ich zu schätzen.«

Es ist an der Zeit, das Thema zu wechseln. Für heute dürfte es genug sein, Eva ist dem Ziel ein Stück näher gekommen. Der Chauvi Axel kann zufrieden sein.

»Ich glaube, jetzt kann ich nicht länger darüber reden«, sagt sie. »Vielleicht können wir dieses Gespräch irgendwann fortsetzen, wenn du die Zeit hast?«, fragt sie hoffnungsvoll.

»Klar. Ich höre dir gern zu.«

»Aber wir könnten uns doch zum Essen treffen und uns über die Reportage austauschen? Ich habe zwar noch kein Drehbuch, aber schon ziemlich klare Vorstellungen, wie wir den Film dramaturgisch aufbauen.«

»Heute gehe ich mit Alex Mittagessen«, sagt er.

»Oh, sorry. Wie ungehörig von mir, so viel von deiner kostbaren Zeit zu stehlen.«

»Kein Problem«, erwidert er gelassen. »An einem anderen Tag können wir das gern nachholen. Oder wie wäre es mit einem Abendessen?«

Über Carls Gesicht huscht ein Lächeln. Und Eva ist überzeugt, dass auch er die erotische Spannung spürt, die jetzt zwischen ihnen knistert.