20

Auf dem Weg ins Büro lief ich im Treppenhaus Eva Sand in die Arme. Sie lächelte kühl und grüßte im Vorbeigehen. Dieses Gesicht. Mir war sofort wieder unwohl.

Aber ich hatte mir etwas überlegt. Ich würde mich zusammenreißen und Carl die geschäftlichen Entscheidungen allein überlassen. Ich wollte nicht ständig von diesen Zweifeln regiert werden.

Als ich ins Büro kam, telefonierte Carl gerade mit Brett. Sie hatten noch einige Vorbereitungen für die Jahresversammlung von Ash & Coal zu treffen. Brett sprach kein Wort Schwedisch, und mit der schwedischen Bürokratie kannte er sich erst recht nicht aus. Carls Stimme klang zunehmend ärgerlich.

»Ich komme rüber und erklär dir alles«, sagte er am Ende ihres Gesprächs. »Ich habe sowieso etwas in Schweden zu erledigen. In der Sache melde ich mich später noch mal.«

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, saß er in Gedanken versunken da.

»Was hast du denn in Schweden zu tun?«, fragte ich ihn.

Keine Antwort.

»Du weißt, dass Amanda heute ankommt?«, fragte er stattdessen. »Denkst du daran, sie vom Flughafen abzuholen?«

Amanda Leiding war eine neue Klientin. Carl hatte erzählt, dass sie ein Computergenie sei und in der Geschäftsführung eines der führenden IT -Unternehmen in Schweden saß. Ich kannte sie nicht, und die Information, dass ihre Reise jetzt stattfinden soll, hatten wir sehr kurzfristig erhalten. Brett hatte das Interview mit ihr in Schweden geführt. Jetzt sollte ich mich um sie kümmern, ihr die Villa zeigen, in der sie wohnen würde, und die weiteren Details ihres Besuchs mit ihr besprechen.

»Ja, ich bringe sie direkt nach Pacific Heights und in unser Haus«, antwortete ich.

Eine Weile arbeiteten wir schweigend vor uns hin, aber innerlich war ich unruhig. Ich konnte mich nicht konzentrieren.

»Findest du es nicht ein bisschen eigenartig, dass Eva Sand aus Schweden stammt?«

»Nein, warum? Sanctum betreibt doch einige Rehakliniken in Schweden, sie bekommen sogar Zuschüsse vom Staat.«

»Aber warum schicken Sie eine Mitarbeiterin einmal um den Globus?«

»Vermutlich sind sie der Auffassung, dass Eva die Richtige für diesen Job ist. Immerhin engagiert sie sich sehr für die Rechte der Frauen.«

Es versetzte mir einen Stich, wie ihr Name aus seinem Mund klang. Beinahe hätte ich erwidert, dass sie sich ja sehr schnell nähergekommen seien, doch ich konnte mich gerade noch beherrschen.

»Möchtest du noch mit mir Mittagessen gehen?«, fragte er.

»Nein, ich muss gleich los zum Flughafen.«

»Okay. Und eins noch: Unsere Zeit in Big Sur war traumhaft«, sagte er und lächelte mich an.

Da war er wieder mein Carl.

Unsere Klientinnen waren allesamt erfolgreiche schwedische Frauen und hatten noch etwas gemeinsam – sie wollten ihr Liebesleben aufpeppen. Manche hatte Gewalterfahrungen in Beziehungen oder erniedrigende Eifersuchtsdramen hinter sich. Die Betitelung von Ash & Coal als Datingagentur war einigermaßen schwammig. Eigentlich inszenierten wir die Sexfantasien dieser Frauen und ließen ihre Träume in unseren Villen Wirklichkeit werden. Aber alle, die daran beteiligt waren, taten das, weil sie selbst Spaß daran hatten, keiner wurde dafür bezahlt. Der Pauschalpreis, der den Klientinnen in Rechnung gestellt wurde, deckte allein die Kosten für die Organisation der Reise.

Aus Erfahrung wusste ich, dass die meisten Frauen bei ihrer ersten Buchung ziemlich nervös waren. Daher sah ich meine Aufgabe vorrangig darin, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, damit sie sich entspannen konnten. Aus diesem Grund hatte ich erwartet, dass es mit Amanda nicht anders sein würde – doch diese erste Begegnung mit ihr war eine Überraschung.

Als ich sie in der Ankunftshalle erblickte, traute ich meinen Augen nicht. Sie war ein Mensch, der aus der Masse herausstach, ihre Aura wirkte energiegeladen. Sie musste um die fünfzig sein, ihr Teint war olivfarben, ihr Haar lang und schwarz und die Augen hellblau. Die Kombination aus den dunklen Haaren und den hellen Augen war fesselnd. Deutliche Lachfältchen um Augen und Mund ließen ihr Gesicht nur noch interessanter erscheinen.

Allerdings war es nicht ihre Attraktivität, die mich aus der Bahn warf. Ich erinnerte mich schlagartig an ein iPad-Gemälde von Carl. Seinen allerersten Versuch. Eigentlich nur ein Experiment , hatte er es abfällig kommentiert. Auf dem Bild steht eine Frau mit dem Rücken zur Wand. Ein Mann hält eines ihrer Beine hoch und dringt in sie ein. Carl . Eine andere Frau lehnt am Rücken des Mannes. Ich hatte Carl mal gefragt, ob diese Frau seine Exfreundin sei, und das hatte er bejaht. Sie war älter als ich, in den Fünfzigern, bisexuell. Carl verfremdete die Gesichtszüge seiner Modelle auf seinen Bildern grundsätzlich, damit man sie nicht identifizieren konnte, doch Amanda war eine viel zu auffällige Erscheinung.

»Ach, Sie sind das!«, rief ich ihr zu.

»Wie bitte?«, fragte sie verwundert.

»Sie sind Carls Exfreundin.«

In ihren Augen begann es zu funkeln.

»Woher wissen Sie das?«

»So ein Gefühl. Und das Bild, auf dem Sie beide zu sehen sind.«

Wir standen mitten in der Ankunftshalle. Hin und wieder rempelten uns andere Reisende an, weil wir im Weg standen, doch ich war außerstande, mich vom Fleck zu bewegen. Warum hatte Carl kein Wort gesagt? Das war das Nächste, was er mir verschwiegen hatte, und das konnte man wirklich nicht als Kleinigkeit bezeichnen.

Amanda konnte meine Gedanken lesen.

»Sie fragen sich jetzt vermutlich, warum Carl Sie nicht aufgeklärt hat. Er hat mir versprechen müssen, unsere Beziehung geheim zu halten. Mein Exmann war so ein widerwärtig eifersüchtiger Stalker.«

Sie legte mir die Hand auf den Arm, freundlich, aber bestimmt.

»Machen Sie ihm keinen Vorwurf. Das ist allein meine Schuld. Ich wollte vermeiden, dass zwischen Ihnen und mir so eine seltsame Atmosphäre entsteht.«

»Ich werde nicht gern angelogen«, erwiderte ich kurz und knapp.

»Aber zwischen Ihnen läuft es doch nach wie vor gut, oder?«, fragte sie besorgt.

»Woher wissen Sie, dass wir zusammen sind?«

»Am selben Tag, als Sie sich zum ersten Mal begegnet sind, hat er mich angerufen und mir von Ihnen erzählt. Unmittelbar nach dem Vorstellungsgespräch.«

»Hat er mit Ihnen am Telefon Schluss gemacht? So ein Mistkerl.«

»Nein, nein. Wir haben unsere Beziehung ein paar Wochen später beendet, nachdem er sich Hals über Kopf in Sie verliebt hat. Es war von vornherein klar, dass die Sache zwischen Carl und mir nicht lange dauern wird. Vor allem ging es um Sex, aber jetzt sind wir immer noch gute Freunde.«

»Aber was hat er denn gesagt?«

»Dass Sie wahnsinnig unterhaltsam sind, märchenhaft schöne Augen haben und auf eine natürliche Weise sehr attraktiv wirken.«

»Das hat er alles gesagt?«

»Ja, ich kann mich an das Gespräch erinnern, als sei es gestern gewesen.«

»Haben Sie sich danach noch mal getroffen?«

»Ja, ein paar Male.«

»Aber Sie waren nicht … mit ihm im Bett?«, fragte ich.

»Keine Chance. Das wissen Sie doch, wenn Carl mit einer Frau zusammen ist, dann ist er auch monogam.«

Meine Gefühlswelt stand kopf. Eigentlich hätte ich mich aufregen müssen, doch ich empfand Amanda überhaupt nicht als Bedrohung. Sie machte mich nicht eifersüchtig. Die ganze Fahrt über unterhielten wir uns angeregt, bis wir nach Pacific Heights kamen, wo sich ihr Domizil befand. Sie war unglaublich freundlich – und wir verstanden uns so großartig, dass wir schnell miteinander vertraut wurden.

»Warum hast du dich entschieden, eine Reise bei uns zu buchen?«, fragte ich sie.

»Weil ich gewisse Fantasien, die mir durch den Kopf schwirren, einfach nicht loswerde. Geht das nicht allen Frauen so, die hierherkommen?«

»Vermutlich schon. Hast du noch Fragen?«

»Was ist an eurem Service so besonders?«

»Das Verständnis für die verborgenen Wünsche unserer Klientinnen. Absolute Diskretion. Respekt vor dem Verlangen, das ein anderer empfindet. Natürlich soll alles spannend und erregend sein, aber wir möchten außerdem, dass du das Gefühl hast, endlich anzukommen, gewissermaßen nach Hause.«

Obwohl es eine Standardantwort war, meinte ich jedes einzelne Wort ernst. Wer weiß, vielleicht wäre ich sogar selbst auf die Idee gekommen, es auszuprobieren, hätte es Carl nicht gegeben. Dieser verfluchte Carl.

Nun standen wir vor unserer Villa, die sich in einem kleinen Park befand und einen Panoramablick auf die Bucht bot. Amanda war vollkommen geflasht und stand mit offenem Mund staunend auf der Terrasse, während ich uns einen Kaffee kochte und ein paar Häppchen vorbereitete. Dann setzten wir uns raus und plauderten. Sie erzählte von ihrer gescheiterten Ehe mit einem Mann, der nicht akzeptieren konnte, dass sie bisexuell war. Nach der Scheidung hatte er sie verfolgt, bedroht und auf jede denkbare Weise schikaniert. In dieser Zeit lernte sie Carl auf einem Fest kennen, aber ihr war sofort klar, dass das zwischen ihnen nichts Festes werden konnte. Carl war der Altersunterschied zwischen ihnen völlig egal, sie hingegen sah das anders. Außerdem wusste sie, dass er nie lange blieb.

»Aber wie gesagt, es war in erster Linie eine Bettgeschichte«, sagte sie und wurde rot. »Na ja, dir muss ich ja nicht erklären, was Carl für ein großartiger Liebhaber ist. Und er hat mir auch vermittelt, dass es völlig okay ist, wenn ich manchmal gern mit Frauen intim bin.«

Eigentlich hätte ich wenigstens einen Hauch von Eifersucht spüren müssen, doch dem war nicht so. Es war höchst erstaunlich.

»Dann verrate mir doch mal, was da übermorgen geschehen wird«, sagte sie.

»Es ist alles vorbereitet, jemand wird später vorbeikommen und sich um die Einzelheiten kümmern. Aber zuerst reden wir mal ein bisschen über dich und deine Vorlieben.«

Und dann erzählte sie sehr emotional von ihrer Fantasie. Es ging um Sex mit zwei Männern und einer weiteren Frau. Dann stockte sie und lächelte.

»Ich möchte nicht sterben, ohne das einmal erlebt zu haben. Wie viele Menschen verlassen diese Welt, ohne ihre sexuellen Träume in die Tat umgesetzt zu haben? Das ist doch traurig. Aber ich möchte das nicht mit jemandem ausprobieren, den ich kenne, das ist mir unangenehm. Jetzt weißt du es, Alex. Deswegen bin ich hergekommen.«

Während sie noch den Blick auf der Terrasse genoss, ging ich ins Wohnzimmer und rief die Personen an, die den ersten Abend mit Amanda verbringen sollten, und instruierte sie entsprechend.

Als ich wieder hinauskam, badete die Bucht im Licht des Sonnenuntergangs. Millionen von Lichtern glitzerten über der Stadt. Riesige, kalifornische Pfefferbäume zeichneten sich wie verzweigte Schatten vor dem rötlichen Himmel ab. Ein Nebelstreifen, der Richtung Süden zog, verschwand im Nichts. Mich überkam ein merkwürdiges Gefühl. Ich verspürte eine Art Spannung, die Luft erschien mir wie aufgeladen. Der wunderschöne San-Francisco-Abend nahm mich ganz und gar gefangen.

»Jetzt muss ich zurück ins Büro«, sagte ich.

»Darf ich dich anrufen, wenn ich noch Fragen habe?«, fragte Amanda, als ich schon auf dem Weg hinaus war.

»Klar. Meine Handynummer ist im Telefon in deinem Schlafzimmer abgespeichert. Du kannst mich jederzeit anrufen.«

»Danke, lieb von dir. Und hier ist meine Nummer«, sagte sie, zog eine Visitenkarte aus der Handtasche und überreichte sie mir.

Als ich zurückkam, war Carl nicht im Büro. Alles sah hübsch ordentlich aus – als wäre er nie da gewesen. Ich rief ihn auf dem Handy an. Es dauerte Ewigkeiten, bis er ranging.

»Wo bist du?«, fragte ich ihn ärgerlich.

»Ich bin gerade mit Eva essen. Erklär ich dir gleich. In einer Viertelstunde bin ich wieder da.«

Ich musste mir auf die Zunge beißen, um ihn nicht anzuschnauzen. Jetzt kochte ich vor Ärger und konnte mich auf nichts anderes konzentrieren. Im Gegenteil, mir wurde so hundeelend, dass ich schon glaubte, krank zu werden.

Eine Viertelstunde später stand Carl wirklich im Büro.

»Warum hast du mir nicht erzählt, wer Amanda ist?« Ich überrumpelte ihn gleich mit meiner ersten Frage.

»Ich musste es ihr versprechen.«

»Im Ernst? Was hast du dir dabei gedacht? Ich hätte es früher oder später doch sowieso rausgekriegt.«

»Sie hat mich ausdrücklich gebeten, niemandem von unserer Liaison zu erzählen. Sie wollte euer Verhältnis auch nicht damit belasten.«

»Kein Problem, ich finde sie ausgesprochen sympathisch. Was mich belastet, ist, dass der Berg aus Lügen zwischen dir und mir täglich größer wird.«

Carl schwieg. Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Ich wusste ganz genau, dass es noch mehr gab, was er mir verheimlichte.

Er drehte sich um und sah mich an, doch mit seinen Gedanken war er ganz woanders.

»Möchtest du mir nichts von eurem Treffen erzählen?«, fragte ich ihn.

Er drehte den Kopf weg. Das tat er immer, wenn er wusste, dass mir das, was er gleich sagen würde, nicht gefallen würde. Dann fing er an, von der Reportage, die Eva drehen wollte, zu erzählen. Am liebsten wollte sie mit den Aufnahmen in Schweden sofort beginnen. Sanctum hatte schon gute Erfahrungen mit dem Team gemacht, das ihre Werbefilme gedreht hatte. Carl könnte die Reise mit dem Besuch bei Brett kombinieren, dem die Vorbereitungen der Jahresversammlung langsam über den Kopf wuchsen. Und dann fragte er, ob ich mir vorstellen könnte, hier die Stellung zu halten, wenn er fort war.

In diesem Augenblick war ich vollkommen sprachlos. Der Mann, der da vor mir stand, war nicht mehr Carl. Er sah mich auch anders an, fremdartig. Ich wünschte, er würde nicht mehr davon reden, und mit seiner Geheimniskrämerei aufhören und mich auch nicht mehr so behandeln, als wäre ich ihm lästig und lenkte ihn nur ab. Es fühlte sich an, als hätte er sich mit Eva Sand bereits verbündet, an einem heimlichen Ort, zu dem er mir den Zutritt verwehrte. Aber wenn ich jetzt aus der Haut fuhr, würde unser Gespräch zwangsläufig in einen Streit ausarten.

»Was meinst du?«, fragte er.

»Soll ich ehrlich sein?«

»Ja klar.«

»Du brauchst keine Reportage, um den Solvikhof zu eröffnen. Du bist der umtriebigste Mensch, den ich kenne, dir gelingt alles, was du dir vornimmst. Du brauchst überhaupt keine Hilfe von außen.«

»Aber die Dokumentation würde das Thema als solches aufgreifen und die Rechte der Frauen in einem größeren Zusammenhang sichtbar machen.«

Ich glaubte, dass er mir schon länger nicht mehr richtig zuhörte, und meine Meinung schien ihn überhaupt nicht zu interessieren.

»Carl, du hast deine Entscheidung längst getroffen«, sagte ich so gelassen wie möglich. »Du wirst dir kein einziges Wort von mir zu Herzen nehmen.«

»Doch, deswegen frage ich ja.«

»Du riechst nach ihrem Parfüm.«

»Alex, bitte. Können wir mal beim Thema bleiben?«

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und griff wahllos nach einem Blatt Papier, als könnte das die Situation retten. Stattdessen überrollte mich eine Welle von Gefühlen – Verbitterung, Eifersucht, aber am heftigsten war das ungute Gefühl, dass mir das Leben selbst entglitt.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Carl.

»Wenn du schon fragst: Ja. Ich erkenne dich nicht wieder.«

Er machte ein paar Schritte auf mich zu.

»Wie meinst du das?«

»Ich mag nicht schon wieder mit dir streiten. Lass mich in Ruhe über die Dinge nachdenken, dann reden wir morgen weiter. Allmählich wird es spät.«

Carl zuckte mit den Schultern, das tat er gern, wenn er fand, dass ich überreagierte. Ich stand auf und nahm meine Handtasche, die über dem Stuhl hing. Er kam auf mich zu und wollte mich in die Arme nehmen, doch ich wich ihm aus.

»Ich mache jetzt Feierabend, wenn du nichts dagegen hast.«

»Jetzt sei bitte nicht sauer, weil ich den Film drehen möchte.«

»Wir reden morgen weiter.«

Bevor ich das Büro verließ, suchte ich die Toilette auf. Eva Sands Parfüm lag in der Luft. Sie hatte sich also wieder in unseren Räumlichkeiten aufgehalten, während ich nicht da gewesen war. Als ich mich setzte, stach mir etwas Glitzerndes auf dem Rand des Waschbeckens ins Auge. Eine silberne Armbanduhr. Wer legte seine Uhr auf einer fremden Toilette ab? Schon klar – das war jemand, der hoffte, dass der Chef sie spät abends finden würde. Sie wusste ja, dass er gern lange arbeitete. Er würde sie anrufen und vorschlagen, sich in einer hippen Bar zu treffen. Die andere Möglichkeit: Sie wollte das Revier markieren. Als kleiner Hinweis für die Assistentin.

Ich warf die Uhr in den Mülleimer, knotete den Beutel zu und trug ihn raus. Es passierte leicht, dass Dinge, die auf dem Waschbecken lagen, auf den Boden fielen. Schnell verabschiedete ich mich von Carl, bevor es die nächste Diskussion gab.

Es war schon dunkel, als ich nach Hause fuhr. Ich mochte diese Abende, wenn der Touristenstrom versiegt und die sonst so stark befahrenen Straßen leer waren, wenn das Mondlicht durch zarte Wölkchen fiel und auf dem stillen, finsteren Wasser der Bucht glitzerte.

San Francisco und ich waren schnell miteinander warm geworden. Hier gab es keine Vergangenheit, die mir nachhing. Als wir hierherzogen, hatten wir bei null angefangen und ein ganz neues Leben entdeckt. Die verwinkelten Gassen, die sich um die bunten viktorianischen Häuser schlängelten. Die alten Straßenbahnen. Das Meer, das die Stadt einkesselte. Wenn ich hier allein durchs Viertel streifte, wusste ich, dass ich immer auf jemanden traf, der so freundlich war, mir sein Handy auszuleihen, wenn mein Akku mal wieder den Geist aufgegeben hatte, und mit mir plauderte, als seien wir Freunde. Typisch amerikanisch, so herrlich unkompliziert.

Aber in diesem Augenblick konnte ich all das Schöne um mich herum gar nicht aufnehmen. Mein Kopf war der reinste Bienenstock. Ich versuchte, die letzten Wochen zu analysieren. Man sollte sich nie von einem Mann abhängig machen. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, Carl loszulassen, ihn freizugeben. Da sich der Medienrummel nach den Ereignissen des vergangenen Jahres inzwischen gelegt hatte, war es für uns jetzt vielleicht möglich, nach Schweden zurückzugehen. Plötzlich wähnte ich mich dort viel sicherer. Sobald eine Beziehung kriselt, sollte man loslassen. Eifersucht ist so destruktiv. Ich konnte den Gedanken kaum ertragen, dass Carl vorhatte, sich weiterhin mit dieser Eva Sand abzugeben. Irgendwie klingelten bei mir immer wieder die Alarmglocken, zwar noch unterschwellig, aber bereits deutlich hörbar. In meinem Gefühlschaos wusste ich nicht, was ich eigentlich fühlte. Mir war, als hätte ich etwas zu erledigen, etwas, das so wichtig war, dass meine Instinkte versuchten, mein Hirn auszuschalten, um die Oberhand zu gewinnen.

Ich wollte Dani alles erzählen, doch als ich nach Hause kam, brannte kein Licht. An der Tür klebte ein Post-it-Zettel: Bin bei Steve, gegen elf zurück.

An diesem Abend fiel es mir schwer, zur Ruhe zu kommen. Meine Gedanken wanderten fortwährend zu Carl. Er verhielt sich plötzlich so anders. Als ich aus meiner Handtasche eine Packung Kaugummis herausnahm, fiel mein Blick auf Amandas Visitenkarte. Es war gegen 21 Uhr. Ich beschloss, mich zu erkundigen, ob alles ihren Wünschen entsprach. Als ich anrief, ging sie sofort ans Telefon, und wir plauderten angeregt über die bevorstehende Woche in der Stadt.

»Kann deine IT -Firma eigentlich Informationen über Personen und Unternehmen recherchieren?«, fragte ich sie.

»Du meinst, ob wir uns in Datenbanken einhacken?«, fragte sie und musste lachen.

Ich schnappte nach Luft, es war mir etwas peinlich.

»So in der Art.«

»Ja klar. Wen willst du überprüfen?«

Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich ihr die ganze Story von Carl und Eva erzählt.

»Und du bist jetzt eifersüchtig?«

»Ja, schon etwas … na ja, ehrlich gesagt, ziemlich.«

»Kann ich gut verstehen.«

»Findest du mich überempfindlich? Nach alledem, was Dani und ich mitgemacht haben …«

»Eine traumatische Erfahrung kann die Persönlichkeit durchaus verändern, aber Carl und du, ihr seid doch jetzt über ein Jahr lang ein richtig harmonisches Paar gewesen?«

»Ja, vorher hatten wir nur ganz selten Streit.«

»Aber das liegt jetzt nicht daran, dass du dich verändert hast, stimmt’s? Der Auslöser war Eva Sand, wenn ich dich richtig verstanden habe.«

»Genau. Und ich bin fest überzeugt, dass sie gefährlich ist.«

»Warum glaubst du das?«

»Sie hat gute Umgangsformen, ist eloquent und in allem ein Vollprofi. Aber von ihr gehen so starke negative Vibes aus, genauer kann ich es nicht beschreiben.«

»Nicht alle Psychopathen gehen gleich mit dem Messer auf uns los. Die meisten wenden wesentlich subtilere manipulative Methoden an. Vielleicht spürst du das auch.«

»Mag sein. Aber wenn ich versuche, es Carl zu vermitteln, dann klinge ich immer, als wäre ich paranoid und eifersüchtig.«

»Wie war noch mal ihr Name?«

»Eva Sand, sie arbeitet für die Sanctum-Rehaklinik für Suchterkrankungen.«

»Warte kurz, ich notiere mir das.«

»Es wäre auch gut zu wissen, ob das Unternehmen selbst in unsaubere Geschäfte verwickelt ist. Aber du musst sehr diskret sein. Und Carl darf absolut nichts davon erfahren.«

»Ich kümmere mich drum.«

»Findest du es schlimm, dass ich so hinter Carls Rücken agiere?«

»Es steht mir überhaupt nicht zu, das zu beurteilen. Das musst du mit dir selbst ausmachen.«

»Er lässt ja nicht mit sich reden. Ich glaube, ich habe einfach keine Wahl.«

»Dann solltest du dieses Gefühl auf keinen Fall ignorieren. Ich möchte mir auch nicht vorstellen, dass Carl in Gefahr ist. Ich werde ein paar Mitarbeiter zu Hause in Schweden bitten, Eva Sand und Sanctum unter die Lupe zu nehmen.«

Als das Telefonat zu Ende war, konnte ich kaum fassen, was ich gerade getan hatte.

Dennoch fühlte es sich richtig an. Und mehr als notwendig.