Nachdem ich alle Einzelheiten des Überfalls auf Eva kannte, kam mir auch dieses Ereignis suspekt vor.
Ich kannte das Gefühl, das man hat, wenn man sich in Lebensgefahr befindet, ziemlich gut. Wusste, wie der Puls hämmert, wenn einem der Tod im Nacken sitzt. An dem Morgen nach diesem Überfall war mir Eva im Treppenhaus über den Weg gelaufen. Sie kam gerade aus unserem Büro und hatte nicht damit gerechnet, mir zu begegnen. Einen Moment lang versuchte ich, mich in ihre Lage hineinzuversetzen – nach diesem brutalen Überfall hätte sie vollkommen durch den Wind sein müssen. Doch als unsere Blicke sich trafen, sah sie kein bisschen verängstigt aus. Eher zufrieden. Sie wirkte auf mich wie ein Model, das sich ganz entspannt auf den Weg zu einem Job machte. Sie elegant zu nennen, war noch untertrieben, vielmehr wirkte sie in ihrem tadellosen Outfit, mit der perfekten Frisur und den kirschrot leuchtenden Lippen geradezu glamourös.
Carl hatte mir am Telefon erzählt, dass Eva vor ihrem Hotel überfallen worden sei. Zuvor sei sie in einer Bar etwas trinken gewesen. Auf dem Heimweg hätte ein maskierter Mann sie überfallen und in eine Seitengasse gedrängt. Dort hätte er sie so lange geschubst, dass sie mit den Knien auf den Boden gestürzt sei, er hätte sie in den Schwitzkasten genommen und ihr gedroht, dass er sie endgültig zum Schweigen bringen würde, wenn sie die Zusammenarbeit mit Carl Ashers widerwärtiger Agentur fortsetze. Eva hatte Carl sofort angerufen, völlig unter Schock. Als er sie in ihrem Hotelzimmer sah, hatte sie große Schürfwunden an den Knien und redete zusammenhangloses Zeug. Carl verständigte erst Steve, danach die Polizei.
Die Ermittler verdächtigten hinter diesem Vorfall eine freireligiöse Gemeinde. Am Morgen hatte Carl ja bereits eine verdächtige Mail erhalten, und nun wollten sie mit dem Angriff auf Eva ihrer Drohung vermutlich mehr Gewicht verleihen.
Soviel ich wusste, hatte Carl keine Feinde, von den Wächtern des Wanderfalken abgesehen. Aber deren Stil war diese Drohmail nicht. Mit Jesus hatten sie es nicht so. Sie waren fest überzeugt, sie seien selbst Götter. Evas Überfall kam mir daher verdächtig vor, irgendwas stimmte da nicht. Und das machte mir eine Heidenangst.
»Hast du Eva von der Drohmail erzählt, bevor sie überfallen wurde?«, fragte ich Carl, als ich ins Büro kam.
»Ich habe das im Vorbeigehen wohl erwähnt. Warum?«
Da haben wir es, dachte ich. Äußerst schlau, liebe Eva. Sich auf eine so raffinierte Weise einen Vorteil aus der Drohmail an Carl zu verschaffen. Sein Beschützerinstinkt, wenn es um Gewalt an Frauen ging, stand dem einer Bärenmutter in nichts nach.
»Sie ist mir im Treppenhaus begegnet«, sagte ich. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie unter Schock stand.«
»Geht das schon wieder los? Können wir vielleicht einmal über die Agentur sprechen?«
Aber ich ließ nicht locker.
»Warum hat sie dich angerufen und nicht die Polizei?«
»Was tut das zur Sache? Kannst du bitte endlich aufhören, bei jeder Kleinigkeit misstrauisch zu werden? Eva ist überfallen worden. Ihre Knie waren blutig, als ich ins Hotel kam.«
»Komisch, ich habe das nur für oberflächliche Schürfwunden gehalten.«
Jetzt gab er sich gar keine Mühe mehr, den genervten Seufzer zu unterdrücken.
»Es reicht, Alex. Dieses Gespräch müssen wir nicht fortsetzen.«
Es war sinnlos, die Dinge überhaupt anzusprechen. Carl hörte mir schon lange nicht mehr zu. Und jetzt kam mir der schmerzliche Gedanke, dass ich vielleicht diejenige war, die den Bruch zwischen uns verursacht hatte. Und dann war da wieder diese Hilflosigkeit. Wir hatten uns doch immer vertraut. Wir konnten wirklich über alles miteinander reden. Doch jedes Mal, wenn ich es versuchte, zog er sich jetzt in seinen Panzer zurück. Ich erreichte ihn nicht mehr. Er entfernte sich Stück für Stück.
Carls Reaktion auf diesen Überfall beschäftigte mich noch wochenlang. Um seine eigene Sicherheit schien er sich keinerlei Sorgen zu machen, stattdessen machte er sich viele Gedanken um Eva. Manchmal beruhigte er sie am Telefon. Wenn ich das hinterfragte, hieß es, sie seien Freunde geworden. Bei diesem Gedanken fröstelte es mich.
Sie begannen, sich regelmäßig in unserem Konferenzzimmer zu treffen, um die Reportage durchzusprechen. Sie ließen die Tür immer offen, aber ich ertrug es nicht zuzuhören, wie sie sich angeregt unterhielten, und verließ meist kurz darauf das Büro. Carl verschob alle Klientengespräche aufs neue Jahr und verlegte auch die Reise nach Schweden auf kurz vor Weihnachten. Er fand es sicherer, erst dann zu fliegen, wenn sich die Lage beruhigt hatte.
In den kommenden Wochen wirkte er immer getriebener. Er telefonierte sehr viel mit Brett, polterte durchs Büro und verteilte Anweisungen für Banalitäten.
Unsere Beziehung hatte sich deutlich abgekühlt. Zu ihm zu ziehen, war längst kein Thema mehr. Seit wir in Big Sur gewesen waren, hatten wir kaum noch Sex miteinander gehabt. Die Atmosphäre war nach all den Ereignissen, dem vielen Streit und den Androhungen, beständig geladen. Unsere Zusammenarbeit verlief zwar weiterhin routiniert, doch mit dem Spaß an der Arbeit war es vorbei. Manchmal sprach er mich mit einer Stimme an, die kalt und autoritär klang. Das war sonst überhaupt nicht seine Art gewesen und so unerträglich, dass ich ihn am Ende nur noch ankeifte. Fast jeden Abend hatte ich einen Kloß im Hals, wenn ich mich schlafen legte. Mein märchenhaftes, sorgenfreies Leben in Kalifornien hatte sich nach und nach in einen Albtraum verwandelt.
Eine Ausnahme gab es, einen einzigen, schönen Tag: Thanksgiving. Da keiner von uns beiden Verwandtschaft in den USA hatte, hatte ich keine Idee, wie wir diesen Familienfesttag begehen sollten. Doch Carl hatte alles vorbereitet. Er nahm Dani, Steve, Erik und mich in eine christliche Gemeinde nach San Francisco mit, in der man Essen an die Obdachlosen verteilte. Den ganzen Tag lang gaben wir dann das legendäre Truthahn-Gericht an minderbemittelte Menschen aus, die in einer nicht enden wollenden Schlange vor uns standen und warteten.
Da fiel Carl eine junge Frau mit zwei Kleinkindern ins Auge, die zwischen den anderen stand. Sie machte einen traurigen, erschöpften und kraftlosen Eindruck. Carl holte ihr einen Stuhl und setzte sich neben sie. Sie unterhielten sich lange. Am Ende stellte er einen Scheck aus und überreichte ihn ihr.
Abends waren wir zu einem Thanksgivingessen bei Bretts Großfamilie in einem Vorort von San Francisco eingeladen. Carl war schon seit vielen Jahren mit ihnen befreundet.
Den ganzen Tag lang begleitete mich der Gedanke, dass es so viele Menschen gab, denen es schlechter ging als mir. Da konnte ich meinen Ärger hinunterschlucken und auch die Eifersucht überwinden. Ich verspürte eine enorme Dankbarkeit, überhaupt am Leben zu sein.
Als ich etwa eine Woche später eines Morgens zur Arbeit fuhr, bemerkte ich Eva Sands Wagen auf dem Parkplatz, doch sie war gar nicht da, als ich die Büroräume betrat.
»Gut, dass du da bist, ich habe was mit dir zu besprechen«, sagte Carl, als er mich erblickte. Er hatte eine Art, als müsse er ein aufmüpfiges Kind zurechtweisen.
»Setz dich«, sagte er.
Ich verweigerte mich. In letzter Zeit folgte ich seinen Anweisungen schon aus Prinzip nicht.
»Ich stehe lieber. Was gibts?«
»Nächste Woche werde ich nach Schweden fliegen und mit den Dreharbeiten beginnen. Ich werde bis Anfang Januar bleiben, um bei der Jahresversammlung und dem Silvesterfest vor Ort zu sein. Eigentlich hättest du mich ja begleiten sollen, aber vielleicht könnten wir in diesem Jahr eine Ausnahme machen? Ich brauche dich nämlich wirklich hier. Das ist okay, oder?«
Das war es keineswegs. Selbstverständlich hatte ich mich auf das Weihnachtsfest und Silvester in Schweden gefreut. Ash & Coals Silvesterpartys waren spektakulär, und da wollte ich an Carls Seite sein. War ihm nicht klar, wie viel mir das bedeutete? Ich brannte auch darauf, endlich die alten Freunde in Schweden wiederzusehen. Auch auf Brett freute ich mich sehr, zumal er immer für gute Stimmung sorgte, egal, wie kritisch die Lage gerade sein mochte.
Ich beantwortete Carls Frage gar nicht. Es war sinnlos. Er war noch lange nicht fertig.
»Eins noch. Die Geschäftsführung von Sanctum besteht darauf, dass wir Steve als Personenschützer mitnehmen, wenn wir diese Reise unternehmen. Nach den Drohungen und dem Überfall machen sie sich um Evas Sicherheit Sorgen. Steve hat hier in der Gegend den Ruf, der beste seiner Branche zu sein, daher wäre ich sehr dankbar, wenn ihr eure Zustimmung gäbt, dass ihr ihn uns für diese Reise abtretet.«
»Und was passiert mit Dani und Erik?«, fragte ich verwundert.
»Wir werden einen anderen Securitymitarbeiter als Vertretung organisieren, es sieht ja so aus, als sei die Gefahr für Dani und Erik allmählich vorüber. Die Kidnappingbande ist gefasst, und von den Wächtern des Wanderfalken haben wir seit Monaten nichts mehr gehört. Wie lange sollen wir Steve da noch im Einsatz haben?«
»Solange Dani dort wohnt und tagsüber allein ist. Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Wenn es um die Kohle geht, dann bezahle ich ihn ab jetzt selbst.«
»Du weißt, dass mir Geld egal ist. Ich würde eure Sicherheit für nichts aufs Spiel setzen. Was denkst du von mir? Sanctum wird für Ersatz für Steve sorgen. Versuch einfach, dich an den Gedanken zu gewöhnen. Daran führt kein Weg vorbei.«
Mit einem Mal war unser Gespräch nicht mehr auf Augenhöhe. Es dauerte einen Moment, bis ich registrierte, was er da gerade gesagt hatte. Es waren nicht allein die Worte, sondern seine Art, mich mit dem Blick festzunageln, so abschätzig und überlegen. Zum allerersten Mal bekam ich Angst, er könnte vielleicht doch in die Fußstapfen seines Vaters treten. Oder trieb ich ihn in den Wahnsinn?
»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte er.
Ich stand nur da und starrte ihn an. In diesem Augenblick fand ich ihn nicht einmal mehr anziehend, in diesem Augenblick waren meine Gefühle für ihn gleich null.
»Ich habe jedes einzelne Wort gehört, aber das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Du hast nicht über mich zu bestimmen. Und dein Geld brauche ich nicht, ich kann den Personenschutz für Dani und Erik selbst bezahlen«, sagte ich. Im selben Zuge begriff ich, dass das ja tatsächlich stimmte, denn ich hatte im vergangenen Jahr viel verdient und auch das Geld vom Verkauf unseres Bildes bekommen.
»Steve wird uns nach Schweden begleiten, akzeptiere das einfach«, legte er nach.
Mit ihm war nicht zu reden. Da überkam mich mit einem Mal eine tiefe Traurigkeit, die mich schlichtweg überwältigte. Tränenüberströmt stand ich da wie ein Esel. Ich weinte lautlos, so beherrscht wie möglich, aber es tat schrecklich weh.
Carl kam auf mich zu und nahm mich in die Arme.
»Ach Schatz, was ist eigentlich mit uns los? Wir hatten es doch immer so schön miteinander. Bitte, sei nicht traurig. Ich kann es dir schriftlich geben, dass zwischen Eva und mir nichts läuft.«
Mir brach schier das Herz, denn trotz seiner hehren Beteuerungen wechselte er beim letzten Satz wieder die Tonlage.
»Ich habe das Gefühl, das mit uns geht gerade zu Ende«, sagte ich, noch immer einen Kloß im Hals.
»Schsch, das fühlt sich immer so an, wenn man Streit hatte«, sagte er. »Wut facht die Angst an. Aber du und ich, wir gehören zusammen. Wir haben gerade eine kleine Krise, aber wir haben schon ganz andere Dinge überstanden.«
»Bitte halt mich fest, so fest du kannst«, bat ich ihn.
Und das tat er. Zuerst drückte er mich so sehr, dass die ganze Luft aus meiner Lunge entwich, dann lockerte er seine Umarmung. Wir sahen uns in die Augen. Sein Haar fiel ihm sanft in die Stirn. Um die Nasenwurzel hatten sich von der Herbstsonne noch mehr Sommersprossen gebildet. Ich schmiegte mich enger an ihn, um seinen Duft nach Seife und Kaffee einzuatmen, sah auf und spürte seinen Atem auf meinem Gesicht. Vorsichtig streichelte ich ihm über die Wange und fuhr über seine Bartstoppeln. Mein Mund näherte sich seinen Lippen, und es wurde ein heißer, hungriger Kuss. Einen Moment lang dachte ich sogar, er wolle mich verschlingen. Doch dann nahm er plötzlich seine Hand aus meinem Nacken und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Mist, ich muss sofort los … zu dem Termin mit dem Steuerberater. Sorry. Wir reden weiter, wenn ich wieder zurück bin. Dann setzen wir uns in Ruhe hin und besprechen alles.«
So ließ er mich einfach stehen, noch mit Tränen in den Augen. Im Empfangsraum hing eine kleinere Reproduktion unseres Bildes an der Wand. Beim Blick darauf wurde ich noch melancholischer.
Mein Leben hatte in letzter Zeit dermaßen kopfgestanden, dass ich das Babyfon von Dani fast vergessen hatte. Ich tastete in meiner Handtasche danach und fand es in einem der Fächer. Es im Büro zu verstecken, war bei Carls Ordnungsmanie nicht machbar, aber das Konferenzzimmer lag in meinem Zuständigkeitsbereich. Ich ging hinein. Die Luft war stickig. Ich riss ein Fenster auf und blickte mich um. Auf einem Fensterbrett stand ein Blumentopf mit Orchideen. Ich schaltete das Babyfon ein, kontrollierte, ob mein Handy sich mit ihm verband, und hängte es an den Topfrand.
Für das, was ich dann tat, habe ich keine Erklärung. Vielleicht hatte ich einfach das Bedürfnis nach einer Veränderung. Zuerst wählte ich mich in mein Bankkonto ein und überwies die Miete für drei Monate an Ash & Coal, denn die Agentur war unser Vermieter. Danach rief ich in Steves Securityservice an und bat darum, dass man mir die Rechnung für ebenfalls drei Monate ausstellte. Zum Schluss fuhr ich zu dem Autohaus, wo wir unsere Dienstwagen gekauft hatten. Ich suchte mir einen gebrauchten Mini aus, bezahlte ihn von meinem Konto und teilte dem Verkäufer mit, dass mein Chef den Firmenwagen bei Gelegenheit abholen werde.
Als ich ins Büro zurückkam, war Carl immer noch nicht zurück. Ich loggte mich in seinen Laptop ein und las den gesamten Schriftverkehr mit Eva. Darin gab es auch einige Links zu Videoclips, die ihre Filmproduktionsfirma gemacht hatte, sowie ein Drehbuch für die Dokumentation. Ich druckte es aus, um es später zu lesen. Alles andere betraf ihre Besprechungen. Eva beendete ihre Mails in der Regel mit Sätzen wie: Danke, dass du mir heute so lange zugehört hast und Es tut so gut, dich zum Freund zu haben . Mir wurde speiübel. Ich fragte mich, was sie eventuell noch per SMS kommuniziert haben könnten, und nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit Carls Handy zu checken.
Nachdem ich noch ein paar Telefonate mit Klientinnen, die im neuen Jahr ihre Reisen nach San Francisco antreten wollten, geführt hatte, machte ich Feierabend. Im Büro war nicht mehr viel zu tun.
Am Nachmittag spürte ich eine gewisse Erleichterung, die bis zum Abend hielt. Nicht mehr vom Geld der Agentur abhängig zu sein, war ein grandioses Gefühl. Dani war mit Steve und Erik nach Monterey aufgebrochen, einem Küstenort südlich von San Francisco. Sie wollten dort übernachten, daher war ich im Haus allein.
Am späten Abend las ich das Drehbuch.
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der immer für die Rechte der Frauen gekämpft hat. Ein Mann, für den bald ein Lebenstraum in Erfüllung gehen wird.
Das klang aufgeblasen und künstlich und war überhaupt nicht Carls Stil. Aber offenbar hatte sich etwas verändert. Ich las das Drehbuch noch einmal, um mich zu vergewissern, ob mich meine Eifersucht vielleicht blind gemacht hatte. Doch der Text blieb fürchterlich schmalzig.
Carl und ich befanden uns nicht mehr auf derselben Wellenlänge. Ich spürte schon jetzt, wie es sich anfühlen würde, bald ganz allein zu sein. Ich sehnte mich nach Dani. Ich sehnte mich auch nach Carl, nach dem Carl, den es vor ein paar Wochen noch gegeben hatte. Ich vermisste mein altes Leben.
Durchs Fenster strömte ein leichter Brandgeruch in den Raum. Unten am Strand hatte jemand ein Feuer gemacht. Ich öffnete das Fenster sperrangelweit. Nun drang auch die Nachtluft herein und mit ihr der Duft nach Meer und Seetang. Da klingelte mein Handy. Ich freute mich, als ich sah, dass es Amanda war.
»Hallo! Ich hoffe, ich darf noch anrufen? Wie spät ist es bei euch?«, fragte sie mich.
»Erst zehn Uhr, kein Problem.«
Wir plauderten ein Weilchen. Sie jammerte über das eklige Schmuddelwetter in Schweden, bis Weihnachten bestand kaum Hoffnung auf Schnee. Meine Stimmung stieg sofort.
»Du, ich habe mir Sanctum etwas näher angesehen«, sagte sie schließlich. »Ich habe jemanden ausfindig gemacht, der dir ein paar ›Insiderinformationen‹ geben kann. Er ist ziemlich busy, aber er wird sich bei dir melden, sobald er Zeit hat. Sein Name ist Michael Parks. Sein Sohn ist an einer Überdosis gestorben, während er eigentlich in einer Sanctum-Klinik stationär betreut wurde. Mein Unternehmen hat immer wieder für Parks gearbeitet, der Typ ist vollkommen okay. Es ist doch bestimmt in deinem Sinne, dass ich ihm deine Kontaktdaten gegeben habe?«
»Absolut.«
»Ich überlasse es lieber ihm, von seinen Erfahrungen mit Sanctum zu erzählen, aber es kursieren tatsächlich einige irritierende Gerüchte. Besonders in Europa. Patienten sind aus Kliniken dieser Gesellschaft spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Das ist alles, was ich bislang in Erfahrung bringen konnte.«
Ich spürte, wie Schadenfreude in mir aufkam. Sanctum war vielleicht doch nicht so perfekt, wie es auf den ersten Blick schien.
»Und nun zu Eva Sand«, sagte Amanda. »Das Merkwürdige an ihr ist nicht, was sie getan hat, sondern dass sie nichts getan hat.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Es gibt sie genau genommen gar nicht. Zumindest nicht in Schweden. Sie ist im Melderegister nicht verzeichnet. Es gibt keinerlei Information über sie. Wenn sie nicht kürzlich geheiratet oder einen neuen Namen angenommen hat, ist sie ein Rätsel. Hast du mal ihre Facebook-Seite gecheckt?«
»Nein, wir haben uns ja nicht gerade Freundschaftsanfragen gestellt.«
»Die Bilder da sehen alle gefakt aus. Mit Photoshop bearbeitet.«
»Aber man findet sie doch in Berichten über Sanctum, wenn man sie googelt.«
»Ja, aber auch nur dort. Das Einzige, was man über sie auftreiben kann, wurde im Zusammenhang mit Sanctum veröffentlicht, unter dieser Oberfläche findet man einfach gar nichts. Als hätte sie keinerlei Privatleben. Ich werde meine Mitarbeiter bitten, das im Auge zu behalten.«
Ich bedankte mich bei ihr und erzählte, wie scharf der Ton zwischen Carl und mir geworden war.
»Ehrlich gesagt, ich erkenne Carl gar nicht mehr wieder«, gab ich schließlich zu. »Er kommt mir ganz fremd vor.«
»Vergiss nicht, was ich dir über Psychopathen gesagt habe. Sie können Einfluss auf die eigene Persönlichkeit nehmen, ohne dass man es merkt. Mein Mann konnte noch lieb und nett zu mir sein und gleichzeitig dafür sorgen, dass es mir richtig dreckig ging, und ich habe mich ernsthaft gefragt, ob ich jetzt reif für die Klapsmühle bin. Eva Sand kann einen negativen Einfluss auf Carl haben, ohne dass er es registriert.«
Ich überlegte. Carl war immer schon stur gewesen, doch zurzeit kam er mir blind und gleichzeitig taub vor. Was geschah da eigentlich gerade mit ihm?
»Weißt du was?«, sagte ich. »Ich glaube ernsthaft, dass Eva ihn einer Gehirnwäsche unterzieht. Du hast vollkommen recht!«
»Ja«, erwiderte sie. »Es ist nicht ganz leicht, genial zu sein. Vermutlich ist dir schon aufgefallen, dass Carl auch ein bisschen kindlich und naiv sein kann, er ist von Natur aus gutgläubig und geht immer vom Besten im Menschen aus. Aber mit deinem Bauchgefühl wirst du ihn nicht überzeugen können, du wirst ihm Beweise vorlegen müssen, die eine ganz klare Sprache sprechen.«
»Kannst du mir dabei helfen?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen.«
Nach dem Gespräch ging ich in den Garten hinaus. Jetzt war ich wieder zu Leben erwacht. Die Gewissheit, nicht vollkommen verrückt zu sein, tat so gut. Der Nachthimmel war klar, über mir ein Sternenmeer. Dazu der Vollmond. Bei diesem Anblick spürte ich, wie unendlich groß das Universum war. Dennoch war mir, als sei da nicht genug Raum, um all meine Liebe, die ich in diesem Augenblick für Carl empfand, aufzunehmen. Gutgläubig und naiv. Genau das war er im Grunde seines Herzens.
Vielleicht hätte ich ihn anrufen und ihm erzählen sollen, was Amanda herausgefunden hatte, aber ich beschloss, lieber auf eigene Faust weiter zu recherchieren. Zum Glück konnte ich auf die Unterstützung von Dani und Amanda zählen. Obwohl sie beide schon üble Erfahrungen mit Männern gemacht hatten, waren sie jetzt für mich da.
Und ich lenkte meine Gedanken nun in eine ganz neue Richtung.