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Carl

Carl steht an dem Fenster mit Blick auf die Sacramento Street. Es ist spät am Nachmittag, auf der Straße pulsiert das Leben. Die Menschen haben Feierabend und gehen nach Hause, doch er ist wie so oft im Büro, auch wenn er dort kaum noch etwas zu tun hat. Alex ist auch schon gegangen. Ohne sie wirken die Büroräume verlassen und still. Er vermisst die Geräusche, die sie verursacht, das Papiergeraschel, ihr Getippe auf der Tastatur, das Knarzen des Stuhles, wenn sie sich setzt, das Schmatzen, wenn sie einen Kaugummi kaut.

Seine Gedanken wandern zu seinem letzten Treffen mit Eva zurück. Ihre großen, feuchten Augen. Wie sie den Hals so graziös bewegt. Dieser sinnliche Mund. Sie hat so eine Neugierde, ein Interesse, dass sich alles zwischen ihnen lebendig anfühlt. Als sie sich setzte, überschlug sie die Beine. Doch etwas später spreizte sie sie leicht und ließ ihn einen Blick auf ihren Unterkörper erhaschen, und er glaubte zu erkennen, dass sie keinen Slip trug. Ihre Schenkel waren straff und blütenweiß. Früher hätte ihn das um den Verstand gebracht, aber heute war ihm nicht wohl dabei. Es fühlte sich an, als hätte er eine Grenze überschritten und befände sich jetzt im freien Fall, denn irgendwie hat er sein Ziel aus den Augen verloren.

Zwischen Eva und ihm ist so ein Gleichklang entstanden, wie es vorkommt, wenn man eine Leidenschaft für dieselben Dinge teilt. Sie weiß viel über Gewalt gegen Frauen. Bei ihren Gesprächen erhält er Informationen von ihr, die von unschätzbarem Wert sind. Ganz nebenbei lässt sie statistische Zahlen fallen, was nur heißen kann, dass sie sich mit großer Begeisterung in dieses Thema eingearbeitet und sich ein umfangreiches Wissen angeeignet hat. Er kann einiges von ihr lernen. Gemeinsam würden sie wirklich etwas auf die Beine stellen, etwas für die Opfer tun können. Besonders berührt ihn ihre schlimme Kindheit. Und die Frage, was er tun könnte, um ihre psychischen Qualen zu lindern.

Ihre Oberschenkel. Er wird dieses Bild nicht los. Wenn er es vor sich sieht, überkommt ihn die Erregung. Doch dann stellt er sich Alex vor. Mit ihren strahlenden Augen, ihrem hungrigen Blick. Ihrem reinen Lachen. Ihren Haaren, die nach dem Wald im Frühling duften. Ihm fällt ein, wie tief und fest er schläft, wenn er sie im Arm hat. Und wie er sich selbst verliert, sobald er sich ihre Beine auf die Schulter legt und ganz tief zu ihr kommt.

Alex ist ein Sturm in ihm, der niemals abflaut.

Bei dem Gedanken daran, wie kühl und herzlos er heute mit ihr umgesprungen ist, schämt er sich dermaßen, dass seine Wangen heiß werden. Ihm wird so schlecht, dass er am Fensterbrett Halt suchen muss. Er verachtet sich selbst. Die Vorstellung, nicht mehr er selbst zu sein, versetzt ihn in Angst und Schrecken.

Das Böse ist in deine DNS eingebrannt, Carl. Du wirst genau wie dein Vater werden. Daran kannst du nichts ändern. Akzeptiere es einfach. Hör auf, dagegen anzukämpfen.

Wenn er mit Eva zusammen ist, mag er sich. Sie gibt ihm das Gefühl, ein väterlicher Beschützer zu sein, bei dem man sich geborgen fühlen kann – exakt das Gegenteil seines Vaters. Zurzeit lockt Alex den gefühlskalten Tyrannen mit all dem Misstrauen und den Wutausbrüchen in ihm hervor. Wie konnte es nur dazu kommen?

Eigentlich hatte es ihm immer gefallen, dass Alex alles hinterfragt hat und in Windeseile Lösungen zu finden vermochte. Ihre Intuition, auf die sie sich verlassen konnte, und sogar ihre Stimmungsschwankungen hat er gemocht. Doch das war, bevor er mit der Geheimniskrämerei angefangen hat.

Er schließt die Augen, blendet alle visuellen Reize aus. Jetzt hört er nur noch die Menschen da draußen und sein eigenes Atmen. In diesem Augenblick würde er sich wünschen, Alex wäre bei ihm. Wie hatte es zwischen ihnen eigentlich so weit kommen können ? Wie gern würde er die Uhr bis zu ihrem Kuss vom Vormittag zurückdrehen, den er wegen eines Termins beim Steuerberater abgebrochen hat. Geradezu grotesk, wie pragmatisch er gewesen ist.

Er möchte Alex ausziehen, sie lieben und ihr sagen, dass alles wieder gut wird. Aber seit Eva aufgetaucht ist, ist sein Leben kompliziert geworden. Der Versuchung, etwas Großes zu vollbringen, ein besserer Mensch zu werden, jagt er Nacht für Nacht hinterher. Eva versteht ihn. Alex nicht. Er hat sich in etwas hineinziehen lassen, das er nicht mehr überblickt. Sein Leben war so schön übersichtlich und geordnet, jetzt ist es weder das eine noch das andere. Plötzlich steht alles zur Diskussion, er weiß nicht mehr, wem er vertrauen kann. Er erkennt sich selbst nicht mehr, sogar seine eigene Stimme hört sich fremd an. Diese Drohmail bereitet ihm keine Sorgen, aber er hat eine Scheißangst vor diesem Menschen, in den er sich gerade Stück für Stück verwandelt.

Nichts stimmt mehr.

Doch eins weiß er sicher.

Was er angefangen hat, wird er zu Ende bringen.

Das hat er immer getan.