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Eva

Eva kann die Ausdauer eines Mannes beim Sex daran ablesen, wie lange er es in ihrer Nähe aushält, ohne eine Erektion zu bekommen. Eigentlich interessiert sie das gar nicht besonders. Aber in den Jahren, in denen sie als Model gearbeitet hat, war sie ständig von sexhungrigen Männern umringt. Damals hat sie es einfach gelernt.

Carl hat den Test bislang mit Bravour bestanden. Aber gestern, als sie im Café saßen und sein Blick an ihren Oberschenkeln hängen blieb, hätte sie schwören können, dass er eine Erektion hatte. Seine fast unnatürlich ruhige Art konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass da ein Mahlstrom von unterdrückten Gefühlen sprudelte.

Eva fällt es nicht schwer, Männer zu dechiffrieren. Wenn sie den Blick zwanghaft von ihrem Körper abwenden, beim Reden den Faden verlieren oder vor lauter Druck breitbeinig dasitzen – genau dann ist es so weit, ihnen den Rest zu geben. Aber Carl entschlüsselt sie nur an seinen Augen. Er ist wie ein offenes Buch. Die letzte Hürde ist es, Alex loszuwerden, aber das wird ein Kinderspiel. In den letzten Wochen ist seine Freundin wutentbrannt wie ein Jo-Jo ins Büro rein- und dann wieder rausgerannt, geradezu pubertär.

Eva hat alles bis ins kleinste Detail geplant. Am Morgen hat sie ein Waxingstudio besucht. Sie hat es in dem Gefühl getan, dass Carl zu den Männern gehört, die einen glatten Venusberg lieben – das ist ästhetischer, und schließlich ist er ja Künstler.

Sie trägt einen engen Pullover mit einem Reißverschluss am Rücken, ohne störende Knöpfe. Dazu einen schwarzen Minirock. Weder BH noch Slip. Auf die Idee ist sie gekommen, als sie eine SMS gelesen hat, die Carl an Alex geschickt hat. Als er im Café zur Toilette ging, hatte er nämlich sein Handy auf dem Tisch liegenlassen. Im Handumdrehen hatte sie den Inhalt kopiert. Er geht mit seinem Smartphone äußerst schlampig um, lässt es überall liegen, muss es ständig suchen. Das passt zwar überhaupt nicht zu seinem Ordnungswahn, doch für Eva ist es ein Riesenvorteil. Heute Morgen hat sie eine SMS an Alex gelesen, die er vor Wochen an sie geschrieben hat. Auf keinen Fall einen BH . Und lass den Slip bitte weg. Wie albern und berechenbar. Aber gut, wenn Carl das anfixt, bitte sehr.

Eva betrachtet ihr Spiegelbild. Wäre sie jemand anders, würde sie sagen, die Frau im Spiegel sieht umwerfend aus. Jedes kleinste Haar sitzt. Die Abschürfungen an den Knien verheilen schon und werden blasser, ihre sündhaft langen Beine glänzen. In diesem Augenblick fühlt sie sich fast im Gleichgewicht.

Nur eines will ihr nicht aus dem Kopf – diese erniedrigende letzte Begegnung mit Axel. Ihr Leben lang hatte sie Männer um sich gehabt, die meinten, Macht über sie zu besitzen. Aber wenn sie an Axel denkt, schießen ihr Gedanken in den Kopf, wie sie sich für Ungerechtigkeiten und Erniedrigung rächen könnte.

Dann plötzlich lässt sie den Blick vom Spiegel ab. Etwas Sonderbares geschieht. Ihre Hände fangen an zu zittern. In ihrem Hinterkopf surrt es. Das Zittern setzt sich über die Arme fort. Im Spiegel sieht sie, wie sie die Hände vors Gesicht schlägt und mit einem Mal am ganzen Körper vibriert. Plötzlich sind da zwei Frauen, die Eva heißen. Eine, die weint, und eine, die dabei zusieht. Es kostet sie eine Riesenanstrengung, die weinende Eva zu beruhigen. Sie beißt sich auf die Lippe und krallt die Nägel in die Handflächen. Am Ende verschwindet die heulende, dumme Gans, und ihr richtiges Ich kehrt zurück. Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, korrigiert ihr Make-up und ist wieder nur sie selbst. Umwerfend. Aber so etwas darf ihr nicht noch einmal passieren. Sie muss Nils Wallin unbedingt dazu bringen, ihr stärkere Medikamente aufzuschreiben.

Als Eva Ash & Coals Büro betritt, ist Carl allein. Er wirft ihr einen flüchtigen Blick zu, als sei er gerade mit den Gedanken woanders. Er wirkt etwas mitgenommen.

Sie hat vor, ohne Umschweife zur Sache zu kommen.

»Carl, es gibt eines, worum ich dich bitten möchte, bevor wir über die Reise nach Schweden sprechen. Hast du ein paar Minuten Zeit?«

Er sieht kurz auf.

»Ja, sicher. Heute kommt niemand mehr.«

»Deine Assistentin auch nicht?«

»Sie ist nicht meine Assistentin, sondern Partnerin in der Agentur. Aber nein, sie hat frei.«

Er sieht angespannt aus. Vermutlich fliegen zwischen Alex und ihm die Fetzen.

»Habt ihr Stress?«, fragt sie.

»Ja, so könnte man sagen, aber darüber möchte ich nicht sprechen.«

»Tut mir leid. Sie macht so einen sympathischen Eindruck. Schade, dass sie nicht akzeptieren kann, dass du dich für ein so wichtiges Projekt engagierst. Möchtest du, dass ich mal mit ihr spreche und ihr unsere Art der Zusammenarbeit erkläre? Denn dieser Konflikt hat doch vermutlich mit mir zu tun, oder?«

»Nein, nicht nötig, Eva.«

»Ich möchte ihr nur klarmachen, dass ich keine Bedrohung für eure Beziehung darstelle. Sie kommt mir ein bisschen instabil vor. Emotional aus dem Gleichgewicht.«

»Vor einem Jahr hätte sie um ein Haar ihre Schwester verloren und vor Kurzem fast ihren Neffen«, erwidert er scharf.

»Ja sicher, das ist schrecklich. Vielleicht sollte sie eine Therapie machen. Irgendwann muss man die traumatischen Erlebnisse verarbeiten und das Kapitel abschließen.«

Eva merkt, dass ihr die Stimme versagt – und befürchtet, sie könnte zu weit gegangen sein. Aber ihm scheint die Kraft zu fehlen, ihr zu widersprechen.

»Worüber wolltest du sprechen?«

Sie zögert.

»Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll, ohne dass es zwischen uns jetzt komisch wird. Versprich mir, es gleich auszusprechen, wenn du findest, dass ich eine Grenze überschreite.«

»Gut, jetzt lass hören.«

»Du weißt doch, dass ich Schlafschwierigkeiten habe. Und seit ich das Kapitel in deinem Buch über Berührung als Entspannungstherapie gelesen habe, reizt es mich, das auszuprobieren. Ich meine, mit dir.«

Wie eine Gewitterwolke zieht der Unmut über sein Gesicht.

»Seit meiner Kindheit fällt es mir schwer, Berührungen von Männern zu ertragen«, fährt sie fort. »Du kannst das sicher nachvollziehen. Aber dir vertraue ich. Es würde mir wahnsinnig viel bedeuten, es wenigstens einmal auszuprobieren.«

Er weicht zurück. Dieser Vorschlag ist ihm nicht geheuer.

»Entschuldige, wenn ich so direkt bin. Wenn das Alex gegenüber nicht okay ist, dann möchte ich auf keinen Fall …«

»Ja, Alex bedeutet mir wahnsinnig viel. Ich würde unsere Beziehung niemals für ein Abenteuer aufs Spiel setzen.«

»Ich will mich da auch gar nicht zwischen euch stellen. Meine Idee war etwas ganz Unpersönliches. Wenn wir uns an die Anleitung in deinem Buch halten, wäre es doch okay, oder?«

Besonders der Teil, in dem beschrieben wird, dass die Zärtlichkeiten bei gegenseitigem Einvernehmen auch in ein Liebesspiel übergehen können.

Er hat den Blick abgewandt, sie kann seine Augen nicht sehen.

»Hast du eigentlich schon einmal etwas von einer orgasmischen Meditation gehört?«, fragt sie. »Eine Art Therapie, bei der ein fremder Mann die Klitoris einer Frau fünfzehn Minuten lang streichelt?«

»Ja.«

Kein Wunder. Ein Artikel darüber ist auf seinem Handy gespeichert.

»Völlig witzlos, finde ich«, fährt er fort.

»Da hast du vermutlich recht, aber das Prinzip an sich, nämlich durch Berührung zur Entspannung zu kommen, klingt für mich schlüssig. Was ich damit sagen will: Wir könnten es doch ausschließlich als Therapie betrachten.«

Seine Augen flackern unruhig hin und her. Sie spürt, wie er kämpft.

»Vielleicht könntest du das, als Psychologe, mal versuchen. Nur heute … einmal. Mir zuliebe. Alex muss es ja nicht erfahren. Nur ein einziges Mal. Dann werde ich Ruhe geben.«

Carl ist durcheinander. Jetzt kommt es darauf an, jetzt muss sie seine Zweifel aus dem Weg räumen und auf eine Entscheidung drängen.

Sie legt ihm die Hand auf den Arm. Die Berührung ist diskret und sinnlich, dabei nicht zu intim.

»Habe ich unsere gute Zusammenarbeit jetzt ruiniert? Das will ich nicht hoffen.«

Doch er hört sie gar nicht. Sein Blick hängt an ihren Schenkeln und hat etwas Wirres, als er aufsieht und ihr in die Augen schaut.

»Man sollte eine gute geschäftliche Zusammenarbeit nicht mit etwas so Persönlichem vermischen«, gibt er zu bedenken.

»Soweit ich weiß, haben dich solche Überlegungen früher auch nicht abgehalten, du hast deine Theorien doch sicherlich an einer ganzen Reihe Frauen getestet, bevor du das Buch veröffentlicht hast.«

Er bleibt die Antwort schuldig, kann den Blick nicht abwenden.

»Ich habe gelesen, dass die Mehrheit der Frauen, die du behandelt hast, ihre Angststörungen losgeworden sind, oder zumindest haben sie nachgelassen.«

»Achtzig Prozent.«

Wie stolz kann man eigentlich sein, denkt sie genervt. Wie lange muss sie sein Ego noch mit Schmeicheleien füttern? Sie mag Sex nicht einmal besonders. Aber ihn ins Bett zu kriegen, ist entscheidend, wenn ihr Plan funktionieren und es mit Alex zum Bruch kommen soll. Wenn Carl und sie eine gemeinsame Zukunft planen wollen. Doch ihre schönen Worte werden es nicht allein bewerkstelligen. Sie hat noch eine andere Idee.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagt sie. »Wir können das gestalten wie bei einer Massage. Ich trage heute keine Unterwäsche, denn ich mag dieses Gefühl von Freiheit, aber wenn ich mich jetzt einfach auf den Bauch lege und mir eine Decke über den Po ziehe, dann ist das doch eigentlich wie in einem Spa«, sagt sie hoffnungsvoll.

Er tut wirklich alles, um zu widerstehen, doch da geht ein Lächeln über sein Gesicht.

»Deine Verhandlungstaktik ist bewundernswert. Du bist eine hervorragende Geschäftsfrau, Eva, aber als Mensch vielleicht etwas verloren.«

Er streckt eine Hand aus und streichelt ihre Wange. Das ist das erste Mal, dass er zärtlich zu ihr ist, und sie muss selbst staunen, dass es sie rührt. Von der Wärme seiner Berührung bekommt sie weiche Knie. Sie schmiegt ihre Wange an seine Hand.

»Darf ich dir etwas zeigen?«, fragt sie.

Sie dreht sich um, sodass sie mit dem Rücken zu ihm steht. Langsam zieht sie ihr Shirt aus. Das Brandmal sitzt über dem Kreuz. Es ist groß, kein operativer Eingriff könnte die zerstörte Haut wiederherstellen. Das Symbol der Hölle, tief eingebrannt.

»Mein Gott!«, ruft Carl aus. »Hat er dir das angetan?«

Sie dreht sich wieder zu ihm um und sieht ihm ins Gesicht. Sein Blick ist voller Verachtung.

»Jetzt verstehst du es vielleicht.«

»Das ist ja schrecklich. Ich habe noch nie …«

»Gehen wir ins Konferenzzimmer?«

Er sagt kein Wort, aber sein Kopf deutet ein kleines Nicken an. Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie zielstrebig auf die Tür zu. Als sie im Flur seine Schritte hinter sich hört, geht ein Strahlen über ihr Gesicht.