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Ich beschloss, die App noch ein bisschen länger im Auge zu behalten. Nur, um auf der sicheren Seite zu sein. Gerade als ich sie wegklicken wollte, registrierte ich eine Bewegung im Bild. Die Tür sprang auf.

Eva betrat den Raum. Sie bewegte sich graziös und benahm sich keineswegs wie eine Fremde. Carl erschien. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und schob sie langsam zum Sofa. Die Tonqualität war mäßig, doch ich konnte hören, wie Carl sagte: »Versteh das jetzt bitte als Therapie.«

Ich sah das Display meines Smartphones nur noch wie durch einen Nebeltunnel. Mir wurde kotzübel, aber ich beherrschte mich und zwang mich hinzusehen.

Eva schlüpfte aus ihrem Pullover und ließ den Rock auf den Boden gleiten. Darunter war sie vollkommen nackt. Gazellenhaft stieg sie aus ihren Kleidern und platzierte sich bäuchlings auf dem Sofa. Carl legte ihr eine Decke über den Po. Er zog sich selbst einen Hocker neben das Sofa und schob ihr ein Kissen unter das Brustbein. Im Gegensatz zu ihr blieb er vollständig bekleidet.

Beim Anblick von Evas Körper, der elfenbeinweiß und leicht kurvig war, stockte mir der Atem, und ich fürchtete, dass dies der Auftakt zu einem Asthmaanfall war. Carl begann, sie mit den Fingerspitzen vom Nacken ausgehend zu berühren und bewegte sich den Rücken hinab. Am Kreuz hatte sie ein Zeichen, das wie ein großes, rundes Tattoo aussah. Er umkreiste es mit den Fingerkuppen mehrere Male. Sie tanzten über ihren Körper, langsam und vorsichtig.

Jetzt konnte ich den Blick nicht mehr von dem Display lassen. Ich hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu kriegen, meine Lunge tat weh. Carl sagte etwas, was ich nicht verstand. Eva antwortete darauf, indem sie die Arme ausstreckte und er sie an den Seiten streichelte. Seine Finger liefen ihre Taille entlang und bewegten sich auch zu ihren wohlgeformten Pobacken. Nicht nur einmal.

Ich hörte mich selbst wimmern wie ein Tier. Aber was am allerschlimmsten war und bewirkte, dass ich doch zur Toilette rennen und mich übergeben musste, waren seine Worte am Anfang. Versteh das jetzt bitte als Therapie .

Liebkosungen, die nach und nach zum Sex führten, waren nach Carls Auffassung die beste Entspannungsmethode, das galt als seine Grundlage beim Therapieren von Angststörungen, und bei mir hatte es ja bereits funktioniert. Genau auf diese Art hatte er mich auch verführt. Seine fantastischen, magischen Hände hatten mich wieder geerdet, meinen Körper, meinen Herzschlag, mein Recht auf Leben, trotz der Hölle, die ich durchmachte. So hatte alles begonnen.

Noch im Frühjahr hatte er mir hoch und heilig versichert, dass er diese Art Therapie mit niemand anderem als mit mir durchführen würde. Aber nun flätzte sich Eva auf dem Sofa, und seine Finger tanzten über ihre zarte Haut. Es war unerträglich. Fast wäre es besser gewesen, wenn sie direkt losgevögelt hätten.

Da ich an diesem Tag noch nicht viel zu mir genommen hatte, spuckte ich vor allem Galle. Die Wände der Toilette schienen mich zu erdrücken. Jetzt musste ich schnell eine Entscheidung treffen, welche auch immer, sonst würde ich durchdrehen. Eine Stimme in meinem Hinterkopf übernahm das Kommando. Es ist noch nicht zu spät, ihnen die Tour gründlich zu vermasseln.

Ich sprang auf. Das Blut rauschte in meinem Kopf, und mir wurde schwindelig. Ich spülte mir den Mund mit Wasser aus, zog meine Kleider wieder gerade und rannte aus dem Café, quer über die Straße zum Hauseingang. Als ich die Treppe hinauf spurtete, hatte ich das Gefühl, nie anzukommen, doch mit einem Mal stand ich vor unserem Büro. Die Tür war abgeschlossen. Das war nicht üblich, wenn wir da waren. Als ich aufschließen wollte, fiel mir der Schlüsselbund runter. Dann stürmte ich wie von Sinnen hinein, stolperte über den Teppich und schlug mit den Knien auf den Boden. Evas aufdringliches Parfüm lag in der Luft. Als ich wieder aufstand, fiel mein Blick direkt auf das Bild Alex , das am Empfang an der Wand hing. Instinktiv nahm ich es ab.

Als ich die Tür des Empfangsraumes aufriss, lagen Carls Hände gerade auf Evas Oberschenkeln. Erst jetzt konnte er mich hören.

Und mein Auftritt war von dermaßen starkem Lärm begleitet, dass Carl sofort erschreckt von seinem Hocker hochsprang. Er starrte mich an und wurde schlagartig leichenblass. Die Scham und der Schock standen ihm ins Gesicht geschrieben. Dann schoss ihm das Blut in die Wangen und färbte sie knallrot.

Eva machte keine Anstalten, ihren nackten Körper zu bedecken. Sie setzte sich auf. Ihre hellgrauen Augen verfolgten Carl und mich ganz genau, und mich sah sie siegesgewiss an, um zu demonstrieren, dass sich die Machtverhältnisse soeben geändert hätten.

»Mit diesem Besuch reiche ich ganz offiziell meine Kündigung ein«, sagte ich zu Carl, holte aus und donnerte ihm das Bild gegen den Brustkorb.

Dann stürmte ich wieder hinaus und stolperte fast ein zweites Mal. Kurz darauf saß ich wieder im Auto. Mein Herz raste wie verrückt, mein Gesicht fühlte sich wie eine glühende Maske an. Das Schweigen war erdrückend. Nicht auszuhalten. Als hätte eine höhere Macht bestimmt, dass das Leid des letzten Jahres noch nicht genug gewesen sei. Offenbar sollten die Katastrophen in meinem Leben kein Ende nehmen.

Ich beschloss, erst einmal die Zähne zusammenzubeißen und aus der Stadt rauszufahren, bis ich an einem Ort ankam, wo ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte. Ich ließ den Motor an, und ein nerviges pling, pling, pling erinnerte mich daran, den Gurt anzulegen.

Auf der Fahrt verfolgten mich wirre, finstere Gedanken. Ich malte mir aus, wie ich mich an Eva rächen, sie sogar aus dem Weg räumen könnte. Da erschrak ich über mich selbst. Wozu war ich eigentlich fähig?

Von der Straße aus hatte ich nun endlich einen Blick aufs Meer. Es fing schon an zu dämmern. Die letzten Sonnenstrahlen tanzten auf der Wasseroberfläche. In der Regel kam ich zur Ruhe, wenn die Sonne unterging, an diesem Tag jedoch nicht. Die Wolken, die sich vom Festland zurückgezogen hatten, rotteten sich rund um die Sonne zusammen – dick, schwer, bedrohlich und stechend kupferrot. Nie zuvor hatte ich einen Sonnenuntergang als beängstigend empfunden.

Etwa einen Kilometer vor unserem Haus bog ich ab und fuhr zum Strand. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit steuerte ich den Wagen auf ein zugewuchertes Feld, sodass er einen Satz machte und krachend wieder landete. Der Motor stotterte und ging aus. Alles verstummte, bis auf das Säuseln des Windes und das gleichmäßige Ticken des Blinkers. Ich schaltete die Zündung aus und sackte über dem Lenkrad zusammen. Inzwischen war es dunkel geworden. Dunkelheit machte mir nichts aus. Das grelle Licht im Büro hingegen schon. Verzweifelt hämmerte ich mit den Fäusten aufs Armaturenbrett, bis ich vor Schmerz die Arme sinken ließ.

Der Wind war stärker geworden, sodass die Gräser fast horizontal auf dem Feld lagen. Ich fragte mich, ob ich Carl jetzt zum letzten Mal gesehen hatte. Seine Worte Versteh das jetzt bitte als Therapie klangen noch in mir nach und nahmen mir die Luft zum Atmen. Der Anblick von Evas nacktem Körper hatte sich in meinem Hirn eingebrannt, ich wurde das Bild nicht mehr los.

Betrogen zu werden, tut immer weh, aber so wie Carl es getan hatte, war es unerträglich. Er hatte mich aufgelesen, als ich völlig am Boden zerstört gewesen war, und mich ein halbes Jahr lang vor der Sekte beschützt. In einer eiskalten Winternacht hatte er sein Gewehr genommen und war in den Wald marschiert, um Dani und mir das Leben zu retten. Die Verbindung zwischen uns war wie eine Nervenbahn, die jetzt so plötzlich gekappt wurde, dass ich es einfach nicht aushielt.

Über dem Feld hörte ich schrilles Vogelgeschrei, vermutlich von einer Krähe oder einer Elster. Da erst begriff ich, dass ich hier draußen ganz einsam und allein war, doch das machte mir im Augenblick nichts aus. Ich hätte genauso gut auf einem anderen Planeten sein können. Angst hatte ich nur vor dieser unermesslich großen Trauer. So viel Schmerz war gar nicht auszuhalten.

Ich öffnete die Fahrertür und ließ etwas kühle Luft hinein. Im nächsten Moment schrie ich einfach los. Mein Schrei klang unheimlich und war widerwärtig schrill. Wie konnte eine menschliche Kehle solche Geräusche fabrizieren? Ich klang wie ein Beutetier, das gerade von einem Jäger in Stücke gerissen wird. Doch als mein Schrei verklungen war, klaffte die Leere wie ein tiefes Loch. Als ich erneut ansetzte zu brüllen, verlor sich meine Stimme im Wind. Ich wusste, dass es mir helfen würde, noch einmal zu schreien, nur noch ein einziges Mal, aber im Grunde meines Herzens war mir klar, dass ich schreien konnte, so viel ich wollte, es würde nie genug sein.

Ich nahm das Smartphone aus meiner Tasche und öffnete die App, um nachzusehen, ob Eva und Carl noch immer im Konferenzzimmer zugange waren, doch der Raum war jetzt leer. Auf dem Display leuchtete Carls Name auf. Da erst bemerkte ich, dass er meine Nummer schon elf Mal gewählt hatte, doch ich hatte mein Handy auf lautlos gestellt. Ich drückte ihn weg. Immer wieder. Doch schließlich ging ich ran, aktivierte den Lautsprecher und platzierte das Handy auf dem Beifahrersitz.

»Sag nicht, dass das nur Therapie war!«, schrie ich. Meine Stimme überschlug sich.

Carl schien es die Sprache verschlagen zu haben. Zuerst hörte ich ein lang anhaltendes Räuspern, dann einen erstickten, stotternden Laut, und in diesem Augenblick merkte ich, dass er weinte. Ich sagte nichts. Worte konnten jetzt nichts mehr ändern. Ich hielt es nicht aus, ihn so zu hören, und drückte das Gespräch weg. Die Stimme in meinem Hinterkopf sprach eine deutliche Sprache: Jetzt ist es vorbei .

Da tauchten die Lichtkegel von Autoscheinwerfern hinter mir auf.

Ich stieg aus und hielt mir die Hand über die Augen, um in dem blendenden Licht etwas erkennen zu können. Es war Steves Wagen. Dani riss die Tür auf und kam wie ein Reh über das wild zugewachsene Feld gesprungen. Sie schloss mich sofort in die Arme und ließ mich einfach nur heulen, verkniff sich jede Art von Frage. Mir versagten die Beine, ich ließ mich aufs Gras fallen. Dani setzte sich zu mir und legte den Arm um mich. Ich hob den Kopf und spürte jetzt den Wind, der mir ins Gesicht peitschte. Doch mit ihm drangen Hunderte verschiedene Düfte vom Wald, vom Feld und vom Meer in meine Nase. Der Himmel war jetzt klarer und zu einer schwarzen Kuppel geworden, an der die Wolkenfetzen immer wieder den Mond verdeckten. Die Sterne waren außerordentlich klar und warfen ein Licht – es sah aus, als würde der Himmel ins Meer hinabgleiten.

Ich lehnte meinen Kopf an Danis Schulter und schluchzte, bis es so kalt wurde, dass wir uns in mein Auto setzen mussten. Steve saß noch in seinem Wagen und wiegte Erik im Arm.

»Wirds ein bisschen besser?«, fragte Dani.

»Bisschen.«

Was für eine Lüge. Nichts war gut, daran war gar nicht zu denken.

»Woher wusstest du, dass du mich hier findest?«, fragte ich mit zittriger Stimme. »Hast du es gespürt?«

»Nein, wir waren gerade auf dem Heimweg, und da habe ich deinen Wagen auf dem Feld stehen sehen. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht, ich dachte, du hast einen Autounfall gehabt. Jetzt erzähl mal, was ist passiert? Es ist was mit Carl, stimmt’s?«

Unter Schluchzen berichtete ich ihr, was sich bei uns im Büro abgespielt hatte.

»Da fehlen mir echt die Worte«, sagte Dani. »Das ist wirklich ganz mies.«

»Er hat mich bestimmt schon hundertmal angelogen. Als ich in den Raum kam, lagen seine Hände auf ihren Schenkeln. Er brachte keinen Ton heraus, hat mich nur angestarrt wie ein Blödmann.«

»Okay, damit hat er jetzt eine Grenze überschritten. Erst habt ihr pausenlos Streit und nun noch so was. Du musst dir eine Auszeit nehmen und ein bisschen Abstand gewinnen. Du bist ja völlig am Ende, Alex.«

»Obwohl er geweint hat, als er gerade am Telefon war. Er hat kein Wort herausgebracht.«

»Das ändert nichts an der Sache.«

»Stimmt.«

»Aber wenn du mit ihm Schluss machst, dann hat Eva freie Bahn.«

»Das Risiko muss ich in Kauf nehmen. Wenn er sich für sie entscheidet, dann ist das eben so. Er hat die Wahl.«

Danis Gesicht wurde ernst, als suchte sie angestrengt nach einer Lösung. Sie schob einen Finger in meine Haare und begann, eine Strähne um ihn zu wickeln.

»Vor einem Jahr bin ich mir sicher gewesen, dass ich dich nie wiedersehen würde«, sagte sie. »Dass wir jetzt hier zusammen sind, Alex! Beide am Leben! Ich habe dich wahnsinnig lieb. Und ich verspreche dir, ich werde immer für dich da sein.«

»Ich hasse ihn. Am liebsten würde ich ihm den Schwanz wegschießen.«

»Das könnte ich schon bald für dich erledigen. Mittlerweile kann ich nämlich ziemlich gut mit Pistolen umgehen. Komm, lass uns nach Hause fahren. Wir machen es uns heute Abend schön zusammen.«

Ich kämpfte gegen das Chaos in meinem Kopf, bis ich wusste, was zu tun war.

»Okay, aber eins muss ich erst noch erledigen.«

Ich holte mein Handy aus der Tasche und schrieb eine SMS an Carl.

Es ist aus zwischen uns. Ich werde nicht mehr ins Büro zurückkommen. Nimm dich vor Eva in Acht. Mit ihr stimmt was nicht.

Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich die Nachricht abschickte.

Auf der Stelle hatte ich ein Gefühl, als würde etwas in mir sterben.

Dann zwang ich mich noch, Carls Nummer zu blockieren und ihn aus meinen Kontakten zu löschen. Bei alledem wusste ich nicht, was als Nächstes geschehen würde, was ich jetzt anfangen sollte. Aber eines wusste ich ganz sicher. Ohne Carl würde mein Leben zu einem einzigen Kampf ums Überleben werden.