In den folgenden Tagen fühlte ich mich so down, dass ich sie hauptsächlich im Bett verbrachte. Dani tat, was sie konnte, und verhätschelte mich wie ein krankes Kind. Sie bekochte mich, las mir vor, lackierte mir die Nägel und erzählte nette Geschichten von früher – kurzum, sie tat alles, um meine Gedanken von Carl abzulenken.
»Du schaffst das«, sagte sie bestimmt hundert Mal.
Aber manchmal verklang ihre Stimme, und in meinen Ohren nahm ich nur noch einen bohrenden, hohen Rauschton wahr. Wenn sie mich dann nicht mit irgendetwas ablenkte, stürzte ich regelrecht in die finsteren Tiefen der Depression.
Ich konnte einfach nicht aufhören, an Carl zu denken. Manchmal war die Sehnsucht so übermächtig, dass ich mich vor Schmerz krümmte. Mein Hirn rief ständig Bilder von ihm auf, ungefragt und schonungslos. Ich ging zum Kleiderschrank und versuchte, seinen Duft an meinen Kleidern zu finden. Jedes Mal, wenn mein Handy klingelte, blieb mir fast das Herz stehen. Das ist er . Aber er war es nicht. Er stand auch nicht plötzlich vor der Tür. Er unternahm keinen einzigen Versuch, Kontakt zu mir aufzunehmen. Deshalb ging ich davon aus, dass der Augenblick, als ich sein Weinen durch die Telefonleitung gehört hatte, sein Abschied von mir gewesen war.
Immer wiederkehrende Fragen beschäftigten mich. Was hätte ich besser machen können? Was trieben Carl und Eva in diesem Augenblick? Es war pure Quälerei. Immer, wenn mich etwas an ihn erinnerte, überspülte mich eine Welle von Trauer. Ich war noch nicht bereit, ihn loszulassen. Es war unerträglich, sich ein Leben ohne Carl vorzustellen.
Ich versuchte mir einzureden, dass er mir gar nicht so viel bedeutet hatte, doch diese Phase des Leugnens hielt nicht lange an. Ich war einfach verrückt nach ihm, und dieser Zustand würde sich nicht bessern, wenn ich meine Gefühle verdrängte. Also beschloss ich, den Schmerz zuzulassen und ihn so lange auszuhalten, bis er endlich nachließ. Und doch vermied ich ganz bewusst den Kontakt mit dem, was mich völlig aus der Bahn warf – Bilder von Carl, Dinge, die er mir geschenkt hatte oder Musik, die uns beide verband.
Unentwegt hatte ich die leise Ahnung, dass er irgendwie da war und an mich dachte, aber was spielte das noch für eine Rolle? Schließlich hatte er seine Entscheidung getroffen.
Am Ende fand ich auch eine Einstellung zu der giftigen Wut, die ich Eva Sand gegenüber empfand, und die mich zermürbte. Ich erlaubte mir einfach, sie zu hassen. Und der Gedanke, sie nie mehr wiedersehen zu müssen, war geradezu tröstlich. Manchmal fragte ich mich, ob sie ernsthaft eine Bedrohung bedeutete. Denn eigentlich war sie überhaupt nicht Carls Typ, dazu war sie viel zu aufgetakelt und künstlich. Und zu offensichtlich auf ihn scharf.
Diese kleinen, aufmunternden Gedanken tauchten sporadisch auf, wurden jedoch immer wieder von den Druckwellen der Eifersucht niedergemangelt. Immerhin waren sie eine kleine Hilfe, diese Zeit zu überstehen.
Vier Tage nach diesen Ereignissen wurde Steve von Carl zu einem Gespräch gebeten. Während er fort war, konnte ich die Hände nicht stillhalten. Als Steve zurückkam, sah er verbissen aus.
»Es sieht ganz so aus, als müsste ich Carl übermorgen nach Schweden begleiten«, sagte er zerknirscht. »Sie haben mir schon ein Ticket für ihren Flieger besorgt.«
Also würden sie tatsächlich fliegen. Mir war, als stopfte mir jemand den Mund. Die Vorstellung, wie Carl und Eva gemeinsam im Flugzeug saßen, war nicht auszuhalten.
Steve hielt die Hände hoch.
»Bevor du mich in Einzelteile zerlegst, lass es mich bitte erklären.«
Aber ich ging sofort zum Angriff über. Ich war völlig außer mir.
»Wie kannst du Dani jetzt allein lassen? Hat sie es nicht schon schwer genug? Was bist du eigentlich für ein Mensch?«
Steve machte ein Gesicht, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst.
»Bitte, versuch mal, dich in meine Lage zu versetzen«, sagte er. »Sanctum akzeptiert nur mich als Securityofficer. Und im Moment ist Carl stärker gefährdet als Dani, Erik und du. Wenn Carl etwas zustoßen würde, würde ich es mir nie verzeihen. Aber Sanctum hat einen guten Ersatz für mich gefunden. Es wird sich ja nur um ein paar Wochen handeln, und Mark ist schließlich auch noch da und wird mit dem Ersatzofficer bei euch bleiben.«
Er legte eine Pause ein und sah Dani hilfesuchend an.
»Du weißt, dass ich das überhaupt nicht will«, sagte er und zog die Worte in die Länge. Steve hatte so eine schleppende Art zu sprechen, ein bisschen wie ein Sheriff in einem Westernfilm. Dani hatte erzählt, dass sein Dialekt daher rührte, dass er in Texas aufgewachsen war. »Wir hatten ja gerade meinen Eltern zugesagt, sie zu Weihnachten zu besuchen.«
Dani hatte schon davon erzählt, dass Steves Eltern sie am ersten Feiertag zum Essen eingeladen hatten. Für mich war das völlig in Ordnung. Dani und ich feierten den Heiligen Abend miteinander so wie früher in Schweden.
»Sie haben schon von gar nichts anderem mehr gesprochen«, fuhr Steve fort. »Meine Mutter hat längst Weihnachtsgeschenke für Erik besorgt, sie wollte Truthahn grillen und … es tut mir wirklich schrecklich leid, aber ich fürchte, ich bin es meinem Pflichtbewusstsein schuldig, Carl jetzt zu begleiten.«
Eva und Carl würden also wirklich gemeinsam nach Schweden fliegen, das tat verflucht weh. Ich Idiot , dachte ich, du weißt doch, worauf das hinauslaufen wird? Tagsüber werden sie arbeiten, und nachts werden sie vögeln, was sonst? Gewöhn dich einfach an den Gedanken. Schluck es endlich!
Dani wollte etwas erwidern, doch ich war schneller.
»Carl ist völlig gestört, wenn er darauf bestehen will. Schließlich habe ich dich für unsere Bewachung bezahlt, Steve.«
»Mein Ersatzmann wird einen guten Job machen. Es ist nur eine Formalität. Sanctum möchte den besten Officer haben, so steht es geschrieben. Weißt du eigentlich, Alex, wie verzweifelt Carl ist? Ich erkenne ihn kaum wieder. Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie sehr du ihm fehlst.«
Das war das erste Mal, dass ich von irgendjemandem hörte, wie es Carl seit unserer Trennung ging. Er war traurig. Aber das war gut so.
»Was hat er denn gesagt?«, hakte ich neugierig nach.
»Dass er alles kaputtgemacht hat. Ich habe ihm angeboten, darüber zu sprechen, doch er meinte, er sei noch viel zu aufgewühlt. Er war so blass, dass sein Teint bläulich schimmerte.«
»Und trotzdem will er nach Schweden reisen? Mit dieser Frau ?«
»Ja, von der Reise lässt er sich nicht abbringen. Könntest du dir nicht vorstellen, eurer Beziehung noch eine Chance zu geben, wenn er das Projekt beendet hat?«
»Ach hör doch auf, Steve!«, rief Dani. »Alex hat ihn mit dieser ekligen Bitch erwischt. Und sie war nackt. Angelogen hat er sie auch noch. Findest du das vielleicht normal?«
»Nein, natürlich nicht. Ich will ihn ja gar nicht verteidigen. Es tut nur weh, ihn so am Boden zerstört zu sehen.«
»Daran hätte er denken können, bevor er sie begrapscht hat«, sagte Dani und pikste Steve in den Bauch.
Sie lehnte sich bequem zurück und dachte nach. Draußen zogen die Wolken über den blassblauen Himmel. Inzwischen war starker Wind aufgekommen und wehte über die Bucht – genauso wie dieser Gefühlssturm, der in mir tobte. Und keiner von beiden wollte abflauen. Denn schließlich hatte die Nachricht von Carls Reise nach Schweden nicht gerade für Ruhe gesorgt.
»Okay, dann fahr, Steve«, sagte Dani. »Aber vorher musst du mich noch mal zum Schießstand mitnehmen. Und du musst mir eine Pistole besorgen, damit ich uns hier zu Hause verteidigen kann.«
Steve blinzelte überrascht.
»Das war so nicht besprochen.«
»Wolltest du uns hier im Stich lassen ohne etwas, mit dem wir uns verteidigen können? Ich will diese Polizeipistole haben, von der du gesprochen hast«, sagte sie und sah ihn scharf an.
»Auf gar keinen Fall. Wenn man so eine Waffe besitzen möchte, hat das nur einen einzigen Grund.«
»Und welchen?«
»Dass man jemanden töten will.«
»Stimmt genau.«
Steve sah Dani liebevoll an. Es war offensichtlich, dass die beiden verliebt waren. Für den Moment vergaß ich meine ausweglose Situation. Wieso konnte ich so am Boden zerstört sein, wenn meine Schwester derart glücklich war?
»Ich finde das mit der Pistole etwas dramatisch«, sagte ich dann. »Muss das wirklich sein?«
»Unsere Situation ist dramatisch, Alex«, erwiderte Dani. »Ich habe jetzt den Waffenschein, und ich werde mir eine Pistole zulegen, egal, was du davon hältst.«
»Tu, was du nicht lassen kannst.«
»Okay«, sagte Steve. »Ich werde etwas Passendes für dich auftreiben. Vielleicht eine etwas leichtere Glock. Die besorgen wir morgen. Aber die Pistole ist nur für Fälle von Notwehr gedacht, also keine Schießübungen, bevor ich wieder zurück bin. Versprich mir das, Dani!«
»Versprochen«, sagte Dani. »Und, weißt du was, Alex: Vielleicht ist es gar nicht so blöd, dass Steve nach Schweden mitfährt – dann kann er Eva ein bisschen im Auge behalten und uns hinterher Bericht erstatten.«
»Warum sollte das nötig sein?«, fragte Steve erstaunt.
»Erzähl’s ihm, Alex.«
Ich berichtete ihm, was ich von Amanda erfahren hatte. Dass über die Privatperson Eva Sand so gut wie keine Informationen in Netz existierten.
Steve runzelte die Stirn.
»Warum hast du das Carl nicht erzählt?«
»Er hätte mir ja doch nicht geglaubt. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann ihn nichts davon abbringen.«
»Aber jetzt kannst du ja ein Auge auf ihn haben, Steve«, sagte Dani.
Und so verblieben wir. Steve würde als Personenschützer mit nach Schweden reisen, aber mit Dani jeden Tag telefonieren und Bericht erstatten, sobald es von Carl und Eva etwas Neues gab, das war vorerst unser Plan. Immerhin war es ein Anfang.
Zum ersten Mal seit Tagen schlief ich in dieser Nacht tief und fest, ohne böse Träume. Auch der erste Moment der Irritation war verschwunden, für gewöhnlich brauchte ich ein paar Sekunden, bis ich mich nach dem Aufwachen daran erinnerte, was Carl mir angetan hatte, und dann schossen mir vor Sehnsucht die Tränen in die Augen. Heute wusste ich gleich, was geschehen war, und der Schmerz war nicht mehr ganz so groß. Es war sechs Uhr morgens. Ich ging zum Strand hinaus, wo der Sonnenaufgang den Himmel rot färbte, und setzte mich in den Sand. Während die Sonnenstrahlen die Berge in meinem Rücken allmählich weckten, saß ich ganz still da und träumte ein Happy End.
Etwas später am Tag erhielt ich einen Anruf, bei dem die Nummer unterdrückt war. Dani war gerade mit Steve am Schießstand. Sie hatten Erik mitgenommen, was ich nicht getan hätte; aber Steve versicherte mir, dass auch der Kleine einen passenden Gehörschutz bekommen würde.
In meinem Bauch kribbelte es, als ich das Smartphone in die Hand nahm. Das konnten nur gute Nachrichten sein, denn mein Elend hatte bestimmt schon seinen Tiefpunkt erreicht.
»Hi, hier spricht Michael Parks«, begrüßte mich eine tiefe Männerstimme. »Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat. Amanda hat mir gesagt, Sie möchten mehr über Sanctum erfahren.«
Michael Parks. Der Mann, dessen Sohn gestorben war, nachdem er aus einem Therapiezentrum von Sanctum ausgebrochen war. Ich geriet in Hochstimmung.
»Richtig, ja«, rief ich begeistert. »Wann hätten Sie denn Zeit für ein Gespräch?«
»Heute zum Beispiel. Aber es wäre gut, wenn Sie zu mir kommen könnten, denn ich habe vor dem Jahreswechsel alle Hände voll zu tun. Wäre das möglich?«
»Kein Problem. Ich fahr gleich los.«
Er nannte mir eine Adresse, und wenige Minuten später verließ ich das Haus.
Es war ein windiger Tag, am Himmel schwebten hohe, aufgewirbelte Wolken, die ihre Schatten aufs Meer warfen. Michael Parks wohnte in Sea Cliff, einem der ganz exklusiven Viertel von San Francisco. Sein großzügiges Haus gehörte zu den besonders luxuriösen Villen in der Straße mit einem beneidenswerten Meeresblick. Der Garten war ausgezeichnet gepflegt. In der Einfahrt standen ein Tesla und ein glitzernder, weißer Bentley. Für mich war das keine Überraschung. Ich hatte Michael Parks schon im Netz recherchiert und wusste, dass er auf der Forbes-Liste stand und zu den reichsten Menschen der Welt gehörte.
Als ich aus dem Wagen stieg, sah ich ihn schon auf der Treppe. Parks war Mitte fünfzig, machte allerdings einen recht jugendlichen Eindruck und trug zu seiner Bluejeans einen zweireihigen, blauen Blazer und Slipper. Er wirkte sportlich und hatte ein starkes After Shave aufgelegt. In diesem Augenblick war mir mein schlampiges Outfit wirklich peinlich, aber Michael Parks begrüßte mich herzlich und hielt mir die Tür auf. Im nächsten Moment stand ich in einer riesigen Eingangshalle. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss, automatisch, mit einem leisen Klicken.
»Möchten Sie etwas zu trinken? Vielleicht einen Kaffee? Oder ein Glas Wein?«, fragte er mich.
»Gern eine Tasse Kaffee.«
Er geleitete mich ins Wohnzimmer und ließ mich kurz stehen, um das Getränk zu holen. Das Zimmer sah aus, als hätte hier ein Raumausstatter seine Vorstellung von Maskulinität verwirklicht. Auf dem lackierten Eichenparkett ruhte ein ausladender, anthrazitfarbener Teppich. Die Wände waren hellbraun, die Möbel stahlgrau. Die Bleiglasfenster waren bodentief und reichten bis unter die Decke. An den Wänden hing echte Kunst. Vorsichtig nahm ich auf einem der Sofas Platz, das mindestens fünf Meter breit und mit seiner betont geraden Rückenlehne ziemlich unbequem war. Von irgendwoher erklang das Surren einer Espressomaschine. Durch die Fenster hatte man einen wunderbaren Blick aufs Meer, das schäumte und heute grau war.
Parks kam zurück und hielt mir die Tasse hin, dann setzte er sich zu mir.
»Nach dem Telefonat mit Amanda habe ich mich ein bisschen über Sie informiert«, begann er. »Im letzten Jahr müssen Sie ja wirklich durch die Hölle gegangen sein. Wie mutig von Ihnen, Ihre Schwester zu befreien. Als ich das gelesen habe, habe ich mir gesagt: Wenn es jemanden gibt, der es mit Sanctum aufnehmen kann, dann ist es diese Frau.«
»Da bin ich mir nicht sicher«, erwiderte ich verlegen. »Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass da einiges nicht stimmt.«
»Ich auch. Sie haben vom Tod meines Sohnes Nathan vermutlich schon vieles im Netz gelesen, deshalb mag ich jetzt nicht noch mal alles von vorn erzählen. Aber was mir wirklich am Herzen liegt, ist zu erfahren, warum Nathan so verzweifelt gewesen ist, dass er aus der Klinik abhauen wollte. Zu dem Zeitpunkt war er doch schon monatelang clean. Die Polizei konnte darüber nichts in Erfahrung bringen.«
Parks blickte aus dem Fenster und fuhr fort:
»Haben Sie eine Ahnung, wie viel es kostet, jemanden in einer Sanctum-Klinik unterzubringen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Fast 20.000 Dollar im Monat. Und die Kosten für die Medikamente, mit denen sie die Patienten behandeln, kommen noch hinzu. Sanctum behauptet, sie würden den Menschen in den Mittelpunkt stellen, doch das ist nur dummes Geschwätz. Ich habe Nathan nicht geglaubt, als er sich beklagt hat. Ich habe das alles für Ausreden gehalten, für Hirngespinste, weil ich dachte, er sucht doch bloß eine Möglichkeit, da rauszukommen und mit den Drogen weiterzumachen. Eine Zeit lang hat sein Psychiater sogar die Gespräche zwischen ihm und mir unterbunden, und als ich darauf bestand, erzählte mir Nathan, dass ihn die Medikamente, die sie ihm geben, völlig wirr im Kopf machen und dass ihn das Personal immer festbinde. Stellen Sie sich mal vor, wie übergriffig das ist! Aber ich bin mir sicher, dass unsere Gespräche belauscht wurden, denn ganz plötzlich wollte er mir nichts mehr erzählen.«
Michaels Augen wurden feucht. Seine Stimme klang nun fahrig und melancholisch, während er weiter von seinem Sohn sprach.
»Als ich mich darangemacht habe zu untersuchen, wie Sanctum wirklich agiert, haben sie mir eine ganze Horde Anwälte auf den Hals gejagt. Ich hatte keine Chance. Aber ich habe noch nicht aufgegeben. Und ich weiß, dass hinter Sanctums Mauern Dinge geschehen, die illegal sind.«
»Aber wie lässt sich so ein Unternehmen zur Rechenschaft ziehen?«
»Das habe ich mich auch lange gefragt, aber dann habe ich kürzlich die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, der sich ebenfalls als ein Opfer von Sanctum betrachtet, allerdings mehr auf der finanziellen Ebene. Wissen Sie, wie sie die neuen Therapiezentren finanzieren?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Mit Spenden von Angehörigen der Drogensüchtigen. Haben Sie sich mal die Broschüren angesehen? Diese Häuser sind nicht gerade ärmliche Hütten.«
Vor meinem inneren Auge erschien das Titelbild einer Broschüre, die ich in dem Haus in Big Sur ins Feuer geworfen hatte. Und ich kannte Therapiezentren von Sanctum auch von der Werbung im Internet. Sie machten einen gelinde gesagt ziemlich schicken Eindruck.
»Sie verfügen allein in Kalifornien über Immobilien im Wert von Milliarden. Und jede neue Einrichtung entsteht mit Geldern der Angehörigen von Patienten. Die lassen sich den letzten Dollar aus der Tasche ziehen, weil sie glauben, dass Sanctum den Abhängigen hilft, von ihrer Sucht loszukommen. Ich habe einen Mann kennengelernt, der mehrere Kredite aufgenommen hat, nur um sie zu unterstützen. Und er war bis über beide Ohren hoch verschuldet. Doch wenn das Leben des eigenen Kindes in deren Händen liegt, kann man ja kaum Nein sagen.«
»Das klingt wirklich schlimm, aber Spenden sind vermutlich auch legal? Hier in den USA scheint auf diese Weise sehr viel finanziert zu werden.«
»Stimmt, das ist nicht gesetzeswidrig, aber was der Mann geschildert hat, hat mich noch auf eine andere Idee gebracht.«
Michael stockte und sah zum Fenster. Von dem heute wild schäumenden Meer hatten sich an der Scheibe viele kleine Wassertropfen gesammelt. Jetzt bildeten sie eine Art glitzernden Vorhang.
»Und der wäre?«
»Follow the money. Es gibt einen oder mehrere Leute, die mit Sanctum eine Wahnsinnskohle gemacht haben, und das geht gerade so weiter. Je länger die Abhängigen in der Klinik sind, desto mehr Geld steckt sich das Unternehmen in die Tasche. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
»Ich glaube schon, aber was können wir tun?«
»Ich bin gut vernetzt. Einer meiner Mitarbeiter verfolgt die Machenschaften von Sanctum diskret weiter. Das kann jetzt ein Weilchen dauern, aber ich bin mir sicher, dass früher oder später etwas ans Tageslicht kommen wird. Doch das ist nicht die einzige Idee, die mir durch den Kopf schwirrt.«
Wieder legte er eine rhetorische Pause ein.
»Man könnte doch jemanden in eine Sanctum-Klinik einschleusen, um herauszufinden, mit welchen Methoden sie da wirklich arbeiten.«
»Meinen Sie einen Spitzel?«
»Ja, so in der Art. Beim Personal recherchieren sie vermutlich ganz genau, bevor sie jemanden anstellen, also wäre der bessere Weg, jemanden als Patienten hineinzuschmuggeln, der kein so gravierendes Missbrauchsproblem hat. Eher Tablettenabhängigkeit oder etwas in der Art.«
Mit einem Mal fiel der Groschen, warum Michael Parks mich in seiner Luxusvilla so herzlich empfangen hatte.
»Niemals! Dann haben Sie sich falsche Vorstellungen von mir gemacht. Ich bin keine solche Heldin. Außerdem vermute ich, dass meine Schwester und ich bei Sanctum bereits bestens bekannt sind.«
»Dafür müssten Sie sich eine andere Identität zulegen. Ich habe Kontakte, die uns dabei helfen könnten. Sehen Sie sich doch um. Ich habe Geld wie Heu und besitze alles, was man sich wünschen kann, aber Nathan macht keiner mehr lebendig. Und ich werde nicht zur Ruhe kommen, bevor ich die Wahrheit über Sanctum herausgefunden habe.«
»Das kann ich verstehen, aber Ihr Plan funktioniert trotzdem nicht. Ich kann meine Schwester nicht allein lassen. Erst vor Kurzem hat jemand versucht, ihr Baby zu kidnappen. Sie haben sich auf die falsche Person eingeschossen.«
»Das glaube ich keineswegs«, konterte er. »Ich kann Ihre Schwester übergangsweise mit einem hervorragenden Personenschutz ausstatten. Ehrlich gesagt würde ich alles tun, um diese Idee in die Tat umzusetzen. Und innerhalb der Polizeibehörde kenne ich auch jemanden, der großes Interesse daran hätte.«
Ich ließ seine Worte sacken und spürte, dass mich die Vorstellung, Sanctum zu unterwandern, in Schwingungen versetzte. Und dann kam mir in den Sinn, dass auch Carl möglicherweise in Gefahr war. Bei Sanctum wusste niemand, dass ich ihrem Unternehmen mit großem Misstrauen gegenüberstand, Eva Sand war ja bei ihnen angestellt – und würde bescheinigen können, dass Carl und ich Schluss gemacht hatten. Und schließlich kam es doch manchmal vor, dass man sich bei Liebeskummer mit Medikamenten betäubte, oder? Wahrscheinlich würde ich mich bei Sanctum sogar unter meinem richtigen Namen aufnehmen lassen können, und niemand würde Zweifel hegen. Aber im Grunde war diese Idee vollkommen verrückt. Ich war auch wirklich nicht in der Verfassung, mich jetzt noch freiwillig irgendeiner Gefahr auszusetzen.
»Ich glaube nicht, dass ich das durchstehen würde, aber ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen«, sagte ich zu Michael. »In den nächsten Tagen ist der Personenschützer meiner Schwester verreist. Da kann ich sie nicht allein lassen. Darf ich mich bei Ihnen wieder melden, nachdem ich die Sache ausführlich mit ihr besprochen habe?«
»Selbstverständlich«, sagte Michael Parks. »Und egal, wie Sie sich entscheiden werden, ich halte Sie gern über das, was meine Kontaktpersonen bei ihren Recherchen in Sanctums Geschäften herausfinden, auf dem Laufenden.«
Dann plauderten wir noch eine Weile. Ich erzählte ihm von Eva Sand und schilderte ihm in allen Einzelheiten, wie es dazu gekommen war, dass Carl und ich Schluss gemacht hatten. Michael Parks sah betroffen aus.
»Was für ein Albtraum! Es tut mir schrecklich leid, was Sie alles durchmachen mussten«, sagte er am Ende. »Aber Ihre Geschichte befeuert meinen Verdacht nur noch. Auch wenn ich Sie keinesfalls ausnutzen möchte. Verzeihen Sie, dass ich so insistiert habe, aber Sie könnten ja immerhin mal darüber nachdenken?«
Sich bei Sanctum einzuschmuggeln, war zwar viel zu riskant, aber ich hatte doch Feuer gefangen. Eigentlich konnte meine Situation nicht mehr schlimmer werden, als sie bereits war. Ich musste endlich aktiv werden und diese Opferrolle ablegen. Das war mir schon seit einer Weile klar gewesen. Und Michael Parks machte einen netten Eindruck auf mich. Er wirkte aufrichtig und stand mit Leidenschaft für Gerechtigkeit ein.
Als ich mich in den Wagen setzte, um wieder nach Hause zu fahren, hatte ich ganz heiße Wangen. Meine Hände zitterten am Lenkrad.