Als ich am nächsten Morgen erwachte, konnte ich spüren, dass Carl genau jetzt im Flugzeug saß. Ich fühlte mich wie betäubt und leer. Mir war alles egal. Ich stand auf, warf mir meinen Morgenmantel über und legte mich auf die Decke, wo ich mich ganz klein zusammenkauerte. Ich versuchte wieder einzuschlafen, doch vergeblich. Dann hörte ich Danis Schritte. Das Bett gab nach, als sie sich an meine Seite setzte.
»Bist du traurig, dass Carl geflogen ist?«, fragte sie mich.
»Du kennst mich.«
»Ja. Und vor einer Stunde habe ich eine SMS von Steve bekommen. Da wurden sie gerade zum Boarding aufgerufen.«
»Weißt du noch, wie es war, als wir unsere Gedanken lesen konnten? So was passiert gar nicht mehr.«
»Wahrscheinlich, weil es nicht mehr nötig ist. Damals waren wir immerhin in Lebensgefahr.«
»Dann will ich hoffen, dass wir nie wieder dazu in der Lage sein werden. Kannst du es fassen, dass Carl tatsächlich in den Flieger gestiegen ist? Dass er mich wegen ihr verlassen hat?«
»Ganz so schlimm ist es genau genommen ja gar nicht. Er ist in den Flieger gestiegen, um den Film zu drehen.«
»Ja, aber ich habe so gehofft, er würde sie durchschauen und seine Meinung ändern. Ich war zu naiv.«
»Warum rufst du ihn nicht einfach an, wenn er gelandet ist?«
»Und was soll ich deiner Meinung nach sagen?«
»Na ja, du könntest ihn fragen, wie es ihm geht.«
»Ich glaube nicht, dass ich das fertigbringe. Er hat kein einziges Mal versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen.«
»Aber du bist ja auch diejenige gewesen, die Schluss gemacht hat.«
»Ja, nachdem du mich dazu animiert hast.«
Sie legte mir die Hände auf die Schultern und küsste mich auf den Kopf.
»Alex«, sagte sie liebevoll. »Jetzt musst du dir einen Ruck geben. Willst du den ganzen Tag damit vergeuden, deine Wunden zu lecken, oder wollen wir langsam mal aufstehen und was Schönes unternehmen?«
»Ich kann doch nichts dafür, dass ich so traurig bin«, sagte ich maulend.
»Nein, aber es passt überhaupt nicht zu dir, in diese Opferrolle zu schlüpfen. Das hilft niemandem, am wenigsten dir selbst.«
Ich bewunderte sie für die Art, wie sie mit mir umging, sie war nie verurteilend, sagte das einfach nur sachlich und klar.
»Ich habe das Gefühl, dass mich das Pech richtig verfolgt. Vielleicht habe ich es nicht besser verdient.«
»Jetzt fang bitte nicht mit diesem Karma-Geschwätz an«, erwiderte sie und seufzte. »Wenn es jemand verdient hat, glücklich zu sein, dann bist du es. Aber nun hörst du auf, dich zu bemitleiden.«
»Versuchst du, unsere Mama zu ersetzen?«, keifte ich, aber ich wusste natürlich, dass sie recht hatte. Selbstmitleid stand mir gar nicht.
»Es würde dir guttun, wenn du dich in dieser Krise für irgendetwas engagieren könntest.«
Meine Gedanken wanderten zu dem Gespräch mit Michael Parks.
»Ich wüsste da schon etwas, womit ich mich beschäftigen könnte.« Und dann erzählte ich ihr all das, was ich von Parks über Sanctum erfahren hatte.
»Das klingt ja sehr interessant«, sagte sie. »Aber du darfst dich auf keinen Fall in eine solche Klinik aufnehmen lassen, das ist viel zu riskant.«
»Aber die Polizei wäre ja eingeschaltet. Sanctum hat auch eine Poliklinik, da kann mir eigentlich nichts passieren«, sagte ich, obwohl ich mir selbst nicht sicher war, ob das wirklich stimmte.
»Das Letzte, was du jetzt gebrauchen kannst, ist noch mehr Stress. Warte wenigstens damit, bis Steve zurück ist, damit wir ihn um Rat fragen können.«
»Okay, das klingt doch schon mal nach einem Plan.«
»Apropos Steve, heute ist so ein neuer Securityofficer gekommen, der ihn hier vertreten soll«, sagte Dani. »Er ist richtig unsympathisch. Ein total humorloser Typ.«
»Wird der an dir auch so kletten wie Steve?«
»Nein, er arbeitet von der Wohnung aus, wo sich auch die anderen Wachleute aufhalten.«
»Dann bleibe ich heute bei dir zu Hause.«
»Was für ein Ausflug würde dir denn gefallen?«
»Ich würde gern Stan Goodban besuchen, erinnerst du dich noch an ihn? Er hat mir doch im letzten Jahr geholfen, dich zu finden. Er wohnt hier in San Francisco und hat mir unheimlich wichtige Informationen über die Sekte gegeben. Er lebt vollkommen einsam und zurückgezogen, deshalb habe ich schon länger die Idee, ihn zu besuchen. Vielleicht wäre jetzt ein guter Zeitpunkt.«
Stan wohnte in einem Campingwagen auf einem Platz nicht weit von unserem Haus entfernt. Er war in den Sechzigerjahren Mitglied der Sekte gewesen und hatte sich in den Achtzigern von ihr distanziert. Dadurch, dass er im letzten Jahr Kontakt zu mir aufgenommen hatte, war er ein großes Risiko eingegangen, denn von ihm erhielt ich letztlich alle wichtigen Hinweise, die mich zu Dani führten. Er war auch derjenige, der mir bestätigt hat, dass ich mir diese Sekte nicht einfach nur einbildete.
»Dann fahren wir doch gemeinsam mit Erik auf den Campingplatz«, sagte Dani. »Aber ohne Wachpersonal. Vielleicht kann ich mich jetzt endlich etwas freier bewegen, da Steve nicht mehr vor Ort ist.«
»Aber sollten wir nicht wenigstens einen Officer mitnehmen?«
»Darauf habe ich keine Lust. Ich glaube auch nicht wirklich, dass das immer noch nötig ist. Soll ich die Pistole einpacken, wenn du Schiss hast?«
»Bloß nicht.«
Ich wollte kein Wort von dieser Waffe hören, und noch viel weniger wollte ich Dani mit der Pistole in der Hand sehen. Die Begründung, sie wolle die Pistole anschaffen, um töten zu können, sorgte bei mir immer noch für eine Gänsehaut. Gerade Dani, die immer alles darangesetzt hatte, Leben zu retten. Als wir klein waren und einmal bei Regen in der Nähe unseres Elternhauses in Lund mit dem Fahrrad unterwegs gewesen waren, hatte sie mich gezwungen, Zickzack um die Schnecken zu fahren, die wegen der Nässe auf die Straße gekrochen waren. Alle mussten überleben. Einmal hatte sie versucht, eine überfahrene Katze mit künstlicher Beatmung zu retten. Und tatsächlich hat das Tier überlebt. So ein Mensch war meine Schwester. Immer im Einsatz, andere zu retten.
Wir fuhren einfach los, ohne Stan vorher anzurufen, denn ich war überzeugt, dass er zu Hause war. Er verbrachte die meiste Zeit in seinem Wohnwagen und durchforstete Facebook nach Menschen, die Opfer von Sekten geworden waren. Ihnen zu helfen hatte er sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, es war eine Art Wiedergutmachung, nachdem er selbst Gründungsmitglied der Wächter des Wanderfalken gewesen war.
Er wohnte in Hill Top, wo sich ein großer Campingplatz für Dauercamper befand. Vor dem eingezäunten Gelände gab es ein Tor, und ich konnte mich tatsächlich noch an den Code erinnern, den ich bei meinem Besuch vor über einem Jahr bekommen hatte. Die Wohnwagen standen dicht an dicht. Stans Zuhause sah besonders mitgenommen aus, an den Seiten des Wohnwagens blätterte bereits die Farbe ab. Kaum, dass ich angeklopft hatte, öffnete er auch schon die Tür, und ich konnte feststellen, dass er sich überhaupt nicht verändert hatte: klein und eher mager, das Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Er trug sogar noch immer dieselbe Cap. Die Haare, die darunter zum Vorschein kamen, waren schlohweiß. Seine wachen, hellblauen Augen strahlten, als er uns erblickte. Ich hegte sofort eine innige Sympathie für ihn, wie damals bei unserer ersten Begegnung.
»Du liebe Zeit, Alex!«, rief er und schloss mich in die Arme, sodass mir der Schweißgeruch aus seinem Hemd in die Nase stieg.
»Jetzt sind wir ja fast Nachbarn«, sagte ich. »Deswegen wollten wir dir mal einen Besuch abstatten.«
Er blickte Dani an.
»Ich muss wohl kaum fragen, wen du da mitgebracht hast. Es ist ja gar nicht so schwer, euch auseinanderzuhalten.«
Dani und ich sehen uns nicht zum Verwechseln ähnlich. Man muss allerdings genau hinschauen. Sie hat ein Muttermal auf der Wange, ihre Haut ist blasser, und ich habe wesentlich mehr Sommersprossen als sie. Und seit Eriks Geburt hat sie auch etwas zugelegt.
»In der Schwangerschaft habe ich zugenommen«, sagte Dani lachend.
»Nein, nein, das meine ich gar nicht. Du scheinst die Ruhigere von euch beiden zu sein. Kommt rein, ich wollte gerade Kaffee kochen.«
Stan klappte einen Tisch von der Wand und holte ein paar Campingstühle. Erik hatte angefangen zu schreien, deshalb stillte Dani ihn, während Stan sich um den Kaffee kümmerte. Das war immer noch so eine Plörre wie beim letzten Mal, doch wir waren höflich und tranken ihn aus.
Zuerst fragte Stan nach, wie Danis Befreiungsaktion vonstattengegangen war. Natürlich hatte er schon davon gehört, aber jetzt wollte er es noch einmal genau wissen. Dann berichteten wir ihm, was wir in den vergangenen Monaten in Kalifornien erlebt hatten. Stan war ein guter Zuhörer, er fiel keinem ins Wort oder stellte etwa Dinge infrage. Als wir zu Ende erzählt hatten, stützte er den Kopf auf die Hände und überlegte.
»Wenn ihr mich fragt, das klingt ganz danach, als sei Eva Sand von irgendwem absichtlich ins Spiel gebracht worden. Ich halte die Geschichte für gefährlich«, meinte er schließlich. »Deiner Beschreibung zufolge würde ich sagen, dass sie nicht der Drahtzieher ist, sie spielt nur den Lockvogel.«
»An diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte ich.
»Du hast doch gesagt, dass du sie schon mal irgendwo gesehen hast. Es wäre wirklich wichtig, wenn du herausfinden könntest, wo das gewesen ist. Ich bin mir sicher, dass du dir das nicht einbildest.«
Etwas schoss mir durch den Kopf, doch ich bekam es nicht zu greifen.
»Ich weiß, aber es gelingt mir nicht. Ich hoffe, irgendwann klappt das.«
Stan saß wieder ganz in sich gekehrt da. Ich konnte förmlich zusehen, wie sein Kopf arbeitete, bis der Groschen fiel.
»Habt ihr irgendeinen Zusammenhang zwischen Sanctum und den Wächtern des Wanderfalken herstellen können?«, fragte er.
»Ist das nicht eher unwahrscheinlich?«, erwiderte Dani. »Warum sollte sich eine Gruppierung elitärer Sadisten für Drogensüchtige engagieren?«
»Weil es meist nur um das eine geht – um Geld. Wem gehört denn Sanctum?«, fragte er.
»Ich habe keine Ahnung, aber die Frage ist nicht schlecht«, antwortete ich.
»Nur … vermutlich werden wir darauf kaum eine Antwort bekommen. Ich bin sicher, dass die oberste Etage bei denen ein Dschungel aus falschen Vorstandsmitgliedern, Stiftungen, Strohmännern und Tarnorganisationen ist. Aber wenn du die Struktur dieser Organisation einmal durchschaut hast, wirst du vermutlich auf jemanden stoßen, der durch die Drogenabhängigkeit der Patienten steinreich geworden ist.«
»Exakt dasselbe habe ich vor Kurzem schon mal gehört«, sagte ich.
»Eigentlich ist es ganz einfach«, sagte Stan. »Ein Kidnappingversuch und eine Morddrohung an Carl passieren genau in dem Moment, in dem Miss Universum in euer Büro hineingetänzelt kommt. Das ist doch das reinste Schmierentheater.«
»Und ich habe geglaubt, dass ich vielleicht wirklich nur eifersüchtig bin«, murmelte ich.
»Alex … du bist doch ein kluges Mädchen. Such nach einer Verbindung zwischen Sanctum und der Sekte. Ich bin mir fast sicher, dass es die geben wird.«
»Dann glaubst du gar nicht, dass Sanctum Carl bei seinem Projekt, dem Solvikhof, unterstützen will?«
Stan lachte trocken und zynisch.
»Mit einer Reportage? Vergiss es. Wisst ihr, was so was kostet? So was macht keiner umsonst. Man müsste Ashers Hirn mal röntgen und feststellen, ob zu viele seiner Gehirnzellen in seinen Schwanz abgewandert sind.«
»So was in der Art hatte ich auch schon angemerkt«, sagte Dani.
»Dann klingt es für mich, als müsste ein Außenstehender Carl mal einen Schubs geben«, sagte Stan.
Er stand auf, schlurfte zum Fenster und sah nach, ob uns jemand observierte. Dann setzte er sich wieder zu uns und machte ein todernstes Gesicht. Er beugte sich über den Tisch und legte seine Hand auf meine.
»Ihr müsst auf der Hut sein. Behaltet eure Securityleute. Begebt euch nicht unnötig in Gefahr.«
»Keine Sorge«, sagte ich. »Heute haben wir mal eine Ausnahme gemacht. Ansonsten sind die Männer immer in unserer Nähe.«
»Das ist gut so, denn nach allem, was ihr mir erzählt habt, werde ich auch dafür sorgen, dass meine Türen heute Abend ordentlich verriegelt sind.«
Das konnte ich wirklich verstehen. Mein letzter Besuch hatte für Stan schlimme Folgen gehabt. Die Sekte hatte ihm einen Schläger auf den Hals gehetzt, der ihn beinahe umgebracht hatte.
»Dann glaubst du im Ernst, dass die Sekte hinter alledem steckt?«, fragte ich noch einmal.
Er wandte den Blick ab, sah erst Dani an, dann Erik. Zuletzt blickte er mir wieder in die Augen.
»Ja, Alex. So ist es. Leider.«
Mir war schon klar, dass er das glauben wollte , denn Stan war ein Mensch, der leicht auf Konspirationstheorien ansprach und hin und wieder ein bisschen über dem Erdboden schwebte. Dennoch jagte mir seine Antwort Angst ein. Im Wohnwagen war es kühl, außerdem zog es. Kein Sonnenstrahl gelangte ins Wageninnere. Die finsteren Winkel und feuchten Wände schienen ein Eigenleben zu führen.
»Danke für den Kaffee und deine Zeit«, sagte ich. »Jetzt fahren wir zurück nach Hause. Aber wir sehen uns bald wieder.«
»Du musst uns mal besuchen kommen, Stan«, schlug Dani vor.
»Mal sehen, vielleicht, wenn mein Geld für ein neues Hemd reicht. Bis dahin werde ich mir die Dinge erst mal genauer ansehen und versuchen, euch irgendwie mit meinen Recherchen zu helfen.«
Seine Augen funkelten begeistert.
»Was für ein Glück, dass wir dich haben, Stan«, sagte ich. »Jetzt weiß ich, dass da etwas nicht stimmt.«
Und genau so war es. Stans Hinweis, ich sei doch nicht auf den Kopf gefallen, hatten auch die letzten Zweifel beseitigt. Jetzt wusste ich, dass keines dieser Ereignisse ein Zufall war – Eva, Sanctum und der Kidnappingversuch. Alles trug die Handschrift der Sekte.
Als wir wieder zu Hause waren, rief ich Michael Parks an.
»Wissen Sie, wem Sanctum gehört?«, fragte ich ihn.
»Gute Frage. So wie ihre Geschäftsführung bestückt ist, hat man den Eindruck, als gäbe es keine einzelne Person an der Spitze. Sanctum präsentiert sich eher wie eine Art Stiftung. Der Gewinn komme wohltätigen Zwecken zugute, heißt es, und der Großteil werde in medizinische Forschung gesteckt.«
»Ich würde wetten, dass es in Wirklichkeit ganz anders aussieht.«
»Bestimmt. Meine Kontaktleute suchen weiter. Haben Sie schon über meinen Vorschlag nachgedacht?«
»In der Zeit bis Weihnachten muss ich bei meiner Schwester bleiben. Sie will auch gar nichts davon wissen, dass ich mich irgendeinem Risiko aussetze. Es wird einige Zeit kosten, sie zu überreden. Ich melde mich wieder bei Ihnen.«
Später am Tag schickte ich Stan eine Nachricht und lud ihn für Weihnachten ein. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er die Feiertage mutterseelenallein in seinem zugigen Wohnwagen verbringen würde. Und ich versprach ihm, dass er als Weihnachtsgeschenk ein neues Hemd von uns bekäme. Er antwortete umgehend und sagte zu.
Den restlichen Abend verbrachte ich damit, mir am Laptop alte Fotos anzusehen. Natürlich tauchte auch eins von Carl darunter auf. Es war eine Aufnahme aus dem Büro, darauf blickte er mich an, und seine Augen lächelten. Auf dem Bild sah er etwas zerzaust aus, er wirkte jünger. Ich konnte noch erkennen, dass er eine Shorts trug. Der Anblick seiner Oberschenkel ließ mich schaudern. Ich erinnerte mich, wie ich damals das Handy zur Seite gelegt und sie berührt hatte. Seine kräftige Muskulatur und die gekräuselten Haare. Natürlich waren meine Hände nicht nur dortgeblieben. Mit heiserer Stimme hatte er mich gebeten, die Tür abzuschließen.
Mir kam der Gedanke, dass ich unsere gemeinsame Welt nun verlassen hatte und mich auf den Weg in eine andere Welt gemacht hatte. Ich konnte ihn nicht mehr erreichen. Ich wollte ja, dass er frei war. Gleichzeitig machte mich diese Vorstellung wahnsinnig.
Ich kannte Carl jetzt anderthalb Jahre, und erst war ich mir gar nicht so sicher gewesen, ob ich ihn wirklich liebte. Einmal im Leben hatte ich die Liebe erfahren, die Liebe meiner Eltern. Doch die war mir auf grausame Weise entrissen worden. Liebe an sich hatte etwas Diffuses, für mich war sie mit Erlebnissen von Einsamkeit und Sehnsucht verknüpft. Aber in dem Moment, in dem ich das Bild von ihm betrachtete, wusste ich genau, dass das, was ich fühlte, Liebe war. Ich habe nie an Gott oder an eine andere höhere Macht geglaubt. Doch eins beschloss ich in diesem Augenblick: Ich würde ein großes Opfer bringen, wenn ich nur den Carl, der mich auf diesem Foto so liebevoll anstrahlte, zurückbekam.
»Nun sieh dir bloß dieses Gesicht an!«
Es war zu spät, den Laptop zuzuklappen. Ich fuhr herum und sah Dani vor mir stehen.
»Es ist mir zufällig in die Hände gefallen, als ich etwas anderes gesucht habe. Die Zeit des Selbstmitleids ist vorüber.«
»Du musst dich doch nicht entschuldigen, Alex. Die Sehnsucht kommt und geht, aber irgendwann verflüchtigt sie sich ganz.«
»Hast du schon was von Steve gehört?«
»Ja, er hat mir eine SMS geschrieben, in der stand, dass Carl den ganzen Flug über nichts als still dagehockt und aus dem Fenster gestarrt hat, er hat wohl auch einiges getrunken und ansonsten viel geschlafen. Eva übernachtet im Gästehaus bei Ash & Coal auf dem Gelände. Möchtest du noch mehr wissen?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Denkst du nicht, es würde dir guttun zu versuchen, nicht permanent an ihn zu denken?«
»Wahrscheinlich schon. Aber in dem Gespräch mit Stan ist mir klar geworden, dass Carl tatsächlich in ernster Gefahr sein könnte.«
»Stimmt. Aber dir täte es gut, mal ein bisschen rauszukommen. Morgen schnappen wir uns einen Securitymann und machen einen Ausflug in die Stadt. Ich würde mir gern das Academy-of-Science-Museum ansehen, das muss doch grandios sein. Darin gibt es sogar einen tropischen Regenwald, in dem dir die Schmetterlinge auf den Arm fliegen.«
Die Idee gefiel mir gut, der Plan stand.
Mitten in der Nacht erwachte ich von einem Klopfen. Ich setzte mich auf, etwas desorientiert und schlaftrunken. Jemand war tatsächlich an der Haustür, dabei zeigte die Uhr halb zwei. Mein Puls schlug höher. Schon schossen mir die wildesten Gedanken durch den Kopf: Die Polizei steht vor der Tür und überbringt uns die Nachricht, dass Stan nach unserem Besuch wieder überfallen worden ist oder dass Carl einen Unfall gehabt hat – oder es ist einer unserer Personenschützer, der uns warnen will, weil wir in Gefahr sind.
Doch das Klopfen war auf keinen Fall energisch, sondern eher sanft.
Ich krabbelte aus dem Bett und merkte sofort, dass meine Beine vor lauter Angst beinahe versagten. Ich humpelte durch den dunklen Flur. Es ist sicher nichts Gefährliches , redete ich mir gut zu. Auf dem Weg zum Eingang zog ich noch Danis Zimmertür zu, um sie nicht zu wecken. Ich knipste auch kein Licht an, doch der helle Schein der Straßenlaternen drang durch das gefrostete Glas in unserer Haustür. Dahinter konnte ich die Umrisse eines Mannes erkennen. Er musste mich auch bemerkt haben, denn jetzt hörte er auf zu klopfen. Irgendwie kamen mir diese Konturen bekannt vor. Nun hörte ich ihn im Kies vor der Tür scharren. In diesem Fall hätte ich einen Spion in der Haustür gut gebrauchen können. Trotzdem löste ich vorsichtig die Sicherheitskette. Als ich die Tür öffnete, stockte mir der Atem. Ich traute meinen Augen nicht, stand wie angewurzelt da. Und musste im nächsten Augenblick vor Erleichterung und Freude richtig loslachen.
Vor mir stand nämlich Brett Cole.