Eva
Es ist trostlos, wieder in Schweden zu sein. Das flache Land ist lehmig und karg. Auf einer Koppel stehen vereinzelt ein paar Pferde. Nackte Weiden recken ihre Äste in den Himmel. Am Straßenrand liegen dreckige Schneereste. Über dem Land hängt dicker Nebel, der fast bis ins Wageninnere dringt.
Eva hasst Schonen, wie langweilig, so flach.
Bei diesem Gedanken beginnt es in ihrem Kopf heftig zu rauschen. Ein Endzeitgefühl überkommt sie. Sie schließt die Augen und spürt die Welt beben. Natürlich ist ihr bewusst, dass sie in einem Taxi sitzt und auf der Autobahn fährt – doch ein Teil von ihr fühlt sich im selben Augenblick in eine Katastrophennacht vor zwei Jahren zurückversetzt, nicht weit von hier.
Dieses Erlebnis wird sie noch bis ins Grab verfolgen. Ein einziger Kommentar von ihm, und dann brach die Hölle los. Sie erinnert sich an die Ohrfeige. Wie sie rotgesehen hat, buchstäblich. Völlig hysterisch wurde, jenseits jeder Vernunft. Alles war Chaos und Blut. Seine Schreie taten ihr gut, waren so befreiend, doch dann wurde sie von starken Körpern überwältigt, zu Fall gebracht und festgehalten, obwohl sie um sich schlug, wie eine Wildkatze kratzte und fauchte. Noch einmal spürt sie den Pieks im Arm, alles wird schwer und dunkel, und dann wacht sie an einem ganz anderen Ort wieder auf, wo sie ihre Strafe erhält. Die idiotischen psychologischen Analysen ihres Motivs. Wahnvorstellungen von übergriffigen Handlungen in ihrer Kindheit. Überreaktionen in bestimmten Situationen. Ein Verlangen danach, abgrundtief böse zu sein. Und das war nur der Anfang, darauf folgte ein halbes Jahr voller Schrecken in einer forensisch-psychiatrischen Klinik. Und als sie dachte, sie hätte alles überstanden, wurde sie von Sanctum einkassiert.
Mit dem Blick auf das winterliche Schweden sitzt sie schweigend da und spürt aufs Neue die Wut hochkochen. Ihr Verlangen nach Vergeltung erlischt nie. Was noch nicht zu Ende gebracht ist, nagt nach wie vor. Schade, dass sie ihn mit dem Messer nicht tödlich verletzt hat. Aber im Affekt war sie einfach hysterisch geworden. Sollte sich die Gelegenheit noch einmal bieten, dann würde sie ihren Verstand einsetzen.
Sie hat keine Erklärung dafür, was jetzt mit ihr in diesem Wagen geschieht, aber plötzlich befindet sie sich außerhalb ihrer Körperhülle. Die andere Eva sitzt aufrecht und reglos auf ihrem Platz neben dem schlafenden Steve. Ihre Wangen sind von den Tränen ganz striemig. Was geht hier eigentlich vor?
Sie wird in die andere Eva hineingesogen und spürt jede Bürde, die ihr zweites Ich zu tragen hat: verdrängte Verletzungen und riesengroße Angst.
»Entschuldigung«, flüstert sie leise, kaum hörbar.
Das ist ihre Stimme, aber die andere Eva formuliert diese Worte.
Sie bemerkt, wie Steves Kopf zur Seite kippt und ihre Schulter berührt, dann nimmt sie einen salzigen Geschmack im Mund wahr. Sie beißt sich auf die Lippen, versucht mit aller Kraft, die zweite Eva loszuwerden, sie wegzujagen. Schließlich gelingt es ihr, die Kontrolle zurückzugewinnen, doch mit jedem Mal fühlt es sich sonderbarer an, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Jetzt hat sie den Eindruck, dass jeder im Taxi sie anstarrt. Was nicht der Fall ist. Steve schläft. Carl sieht aus dem Fenster. Der Fahrer hat die Straße im Blick. Dennoch fühlt sie sich ertappt.
Ihr wird schlecht. Vermutlich nur vom Autofahren. Oder sind es Entzugserscheinungen? Das wäre schlimmer. Jetzt muss sie zusehen, dass sie Nils Wallin erwischt. Sie braucht nämlich dringend stärkere Medikamente – besonders jetzt, solange sie sich hier in Südschweden aufhalten muss, was ihr derart verhasst ist. Sie war gar nicht darauf vorbereitet, dass dieser Landstrich so viele Erinnerungen wecken würde. Heute Abend wird sie sich was zu trinken besorgen und sich einmal einen Rausch gönnen, ihre Erinnerungen wegtrinken und diese fürchterlichen Beklemmungen loswerden.
Sie hofft inständig, dass sie hier von keinem erkannt wird. Aber mit ihrer neuen Frisur, den farbigen Kontaktlinsen und den paar Kilos, die sie bei Sanctum zugelegt hat, ist das eher unwahrscheinlich.
Dein Name ist Eva Sand. So steht es in deinem Pass. Du startest in ein neues Leben. Konzentriere dich! Sei wach!
Etwas in ihr ist immer noch in Bewegung, sie muss reden und irgendetwas gegen dieses Unwohlsein tun.
Carl sitzt noch immer schweigend auf dem Beifahrersitz und stiert aus dem Fenster. Eva beugt sich vor, er kann den Hauch ihres Atems an der Wange spüren.
»Und, was ist es für ein Gefühl, wieder in Schweden zu sein?«
»Ach, ganz okay«, antwortet er.
Es ist so offensichtlich, dass er mit den Gedanken woanders ist. Oder vielmehr bei jemand anderem.
Eva beugt sich noch weiter vor und berührt seine Wange flüchtig. Sie ist überzeugt, dass er ihr Parfüm mag. Alle Männer mögen es. Sie betrachtet es inzwischen als ihr Pheromon.
»Weißt du, im Leben laufen einem immer Menschen über den Weg, die einen besitzen wollen. Dass du dich aus so einer Beziehung befreien wolltest, ist völlig nachvollziehbar, du musst dich wirklich nicht schuldig fühlen. Es wird alles wieder gut werden, wenn du dir diese Freiheit selbst zugestehst.«
Ihr erster Satz war völlig daneben. Als sie die Hand auf seine Schulter legt, weicht er aus und entzieht sich ihrer Berührung. Shit, noch sollte sie sich zurückhalten. Er dreht sich ruckartig um und sieht sie scharf an. Sie fühlt sich entlarvt. Ob er sie durchschaut? Nein, ganz bestimmt nicht.
»Ich weiß nicht, was du damit bezweckst«, sagt er.
Er zerfließt förmlich in Selbstmitleid, und sie muss dringend einen Zugang zu ihm finden, um ihn da rauszuholen. Jetzt muss sie einen kühlen Kopf bewahren. In diesem Fall kommt es drauf an. Sie befeuchtet ihre Lippen, und von nun an ist jedes Wort wohlüberlegt.
»Ich kann verstehen, dass du jetzt deprimiert bist, aber du solltest dich mit Menschen umgeben, die deinen Intellekt, deine Energie und deine Zielstrebigkeit zu schätzen wissen. Das hast du wirklich verdient.«
Während sie spricht und ihre samtweiche Stimme wahrnimmt, lässt das merkwürdige Unwohlsein nach.
»Ach, freue ich mich darauf, endlich mit den Dreharbeiten zu beginnen!«, sagt sie. »Wer weiß, vielleicht war der Bruch mit Alex ja notwendig, um dir neue Türen zu öffnen. Bald werden Hunderttausende von Menschen deine revolutionären Theorien kennen, es bricht eine ganz neue Epoche in deinem Leben an.«
Und dabei betont sie revolutionär, sie weiß, dass ihm das Wort gefällt.
Er reckt sich.
»Nett gesagt, Eva. Ich freue mich auch auf die Dreharbeiten.«
»Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst.«
»Danke, aber ich habe hier einen guten Freund, auf den ich mich schon riesig freue. Geht es gleich morgen los?«
»Nein, morgen haben wir noch frei, um uns von der Reise zu erholen.«
»Gut, das passt.«
Eva fragt sich, wer dieser Freund wohl sein könnte – und hofft, dass es sich dabei nicht um eine Frau handelt. Ihr ist bekannt, dass Carl in Schweden einen größeren Freundeskreis hat. Sie lässt die Fensterscheibe ein Stückchen runter, sodass eiskalte Luft ins Wageninnere strömt.
Steve schnarcht neben ihr wie ein Schwein. Und das soll der beste Personenschützer von ganz Kalifornien sein. Lachhaft. Er würde auch weiterschlafen, wenn sie Carl mit einer Machete niedermetzeln wollte.
Das Taxi wird langsamer und hält ruckartig an. Jetzt stehen sie vor einem hohen Tor.
»Wir sind da!«, sagt Carl. Nun scheint er besser gelaunt zu sein.
Er steigt aus und gibt einen Code ein, woraufhin das Tor sich öffnet. Als er sich wieder in den Wagen setzt, greift er zu seinem Handy und wählt eine Nummer.
»Hallo Edna! Wir sind da«, sagt er. »Brett geht nicht ans Telefon, ist er vielleicht bei dir?«
Welch ein Segen – der Freund ist natürlich dieser Kanake, mit dem Carl schon per Skype gesprochen hat.
Edna scheint schlechte Neuigkeiten zu haben, denn Carl verstummt und verzieht das Gesicht.
»Sag, dass das nicht wahr ist!«, brüllt er so laut, dass Steve zusammenzuckt und vor Schreck die Augen aufreißt.
Völlig frustriert lässt Carl das Handy auf seinen Schoß fallen, sodass die heisere Frauenstimme für alle zu hören ist.
»Er hat dir einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt«, sagt sie.
»Und was steht drauf?«
»Bin im Urlaub . Sonst nichts.«
Und damit sinkt die Stimmung im Wagen auf den absoluten Nullpunkt.