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Eva

Carls schlechte Laune hält sich hartnäckig, nicht einmal nach einer Nacht Schlaf ist er besser drauf. Eva hat sich vorgenommen, ein bisschen Druck zu machen. Zuerst will sie ihn stärker an sich binden, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, in einem zweiten Schritt möchte sie ihn zur Einsicht bringen. Aber zuallererst soll etwas anderes passieren. Einfach, weil sie es kann.

Sie loggt sich in ein gefaktes Facebook-Profil ein, in dem sie sich Ellie Lindberg nennt. Auf dem Profilbild erscheint ein fürchterlich stark geschminktes, junges Mädchen mit Schmollmund. Eva greift zu ihrem Handy und startet ein Video, das sie heimlich von Carl und sich in einem Café am Flughafen aufgenommen hat. Es war nicht leicht gewesen, aber es hat funktioniert. Mithilfe einer Vase hatte sie das Smartphone auf dem Nachbartisch in Position gebracht und auf Aufnahme gedrückt. Eva stoppt den Film, vergrößert das Bild und macht einen Screenshot, als sie sich zu Carl über den Tisch beugt und ihre Hand auf seinen Arm legt. Ihr Gesicht ist nur Zentimeter von seinem entfernt.

Dieses Foto wird sie auf Facebook, Snapchat und Instagram posten, um ein bisschen für Gerede zu sorgen. Während sie den Beitrag formuliert, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.

OMG , hab grad in Kastrup Carl Asher mit seiner neuen Flamme gesehen! Megaschön, genau wie er – bestimmt ein Model. Voll Glück, dass er nicht mehr mit dieser Schlampe abhängen muss, dieser Alex Brisell. Kann gern geteilt werden! #gossip

Eva fügt noch ein paar Smileys, klatschende Hände und einen Daumen nach oben hinzu. Sie könnte wetten, dass ihr Post schnell geteilt wird. Das Interesse an Carl scheint noch genauso groß zu sein wie vor seinem Umzug in die USA . Er hat als ein Mann, der sich getraut hat, für das Recht der Frauen auf ihre Sexualität zu plädieren, einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Soviel Eva weiß, hat er hier immer noch glühende Anhängerinnen.

Als sie jünger war, haben ihr solche fiesen Ideen einen Kick gegeben. Heute stellen sie sie nur zufrieden. Echte Freude kommt erst auf, wenn sie eine Rivalin aus dem Weg schaffen kann.

Bevor sie das Gästehaus verlässt, um zur Villa hinüberzugehen, betrachtet sich Eva in dem großen Spiegel. Sie zupft ihre Haare zurecht, dass der Bob wieder perfekt sitzt. Jedes Detail ihrer Erscheinung soll stimmen.

Auf dem Weg zu Ash & Coals Villa, wo sich Carls Büro befindet, denkt Eva über die Bezeichnung »unter die Haut gehen« nach. Um das bei Carl zu erreichen, muss sie die richtigen Saiten bei ihm anschlagen und einen Gleichklang erzeugen. Es wird schön sein, wenn sie schließlich seine Seele berührt.

Die Dame mit der langen Nase und dem rabenschwarzen Haar, die am Empfang sitzt, erinnert sie an einen Geier. Offenbar heißt sie Edna. Eva sagt etwas, doch Edna tut so, als sei sie Luft, also geht sie gleich zu Carls Büro rüber.

Carl steht am Fenster und fährt herum, als sie den Fuß in die Tür setzt. Ihr bleibt nicht verborgen, wie unzufrieden er mit sich ist. Auf seinen Schultern ruht eine tonnenschwere Last. Aber in seinen Augen ist wie immer sein eiserner Wille erkennbar, sein großes Potenzial.

Eva nimmt Platz, lässt die Schultern hängen, schlägt die Augen nieder und wartet einen Augenblick, bevor sie etwas sagt.

»Carl, du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Deine Freunde brauchen ein bisschen Zeit, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Die meisten Menschen tun sich schwer, wenn sich Dinge verändern.«

Es entsteht eine lange, riskante Pause. Jetzt muss sie ihn bei seinem Verantwortungsbewusstsein packen.

»Du machst mich richtig traurig. Ich habe so viel Energie in unser Projekt gesteckt. Und ganz billig ist es ja auch nicht gerade, ein solches Filmteam zu engagieren. Meinst du, du kannst dich in dieser Woche voll und ganz auf die Dreharbeiten konzentrieren und alles Private hintenanstellen?«

Seine Gesichtszüge entspannen sich.

»Ja, natürlich. Mir geht nur gerade so viel durch den Kopf.«

Eva erhebt sich und geht auf ihn zu.

»Die Welt, in der wir leben, ist schlimmer, als deine Freunde es wahrhaben wollen. Aber du und ich, wir wissen es besser, wir lassen die misshandelten Frauen nicht im Stich, denn sie brauchen uns.«

Und dann legt sie ihm dar, wie sie gelernt hat, zu ihren eigenen Freunden auf Abstand zu gehen, weil sie ihr zu viel Zeit stehlen. Dieser Prozess sei nicht leicht, aber notwendig gewesen, erklärt sie. Denn manchmal merke man erst dann, dass viele von ihnen jede Menge Energie abgezogen hätten.

Sein Gesichtsausdruck ist nach ihrem Monolog unverändert. Er hört einfach nur zu, sie weiß nicht, ob er sich die Dinge zu Herzen nimmt. Er ist nicht leicht zu beeinflussen, aber das macht das Spiel nur interessanter.

Hier ist niemand sonst, Carl. Keine heulende Alex, kein Kanake. Sieh mich an. Ich habe deine Zeit viel mehr verdient als alle anderen.

»Meine Freunde rauben mir keine Energie«, sagt er schließlich. »Und es stimmt ja auch, dass ich in letzter Zeit abwesend war, ich habe schließlich nicht auf sie gehört.«

»Meiner Meinung nach bist du gerade dabei, einen ganz neuen Weg einzuschlagen und dich für eine bessere Welt zu engagieren. Und dabei willst du dich einfach nicht aufhalten lassen. Das bewundere ich an dir. Deine Freunde haben das nicht begriffen.«

»Das kann schon sein, aber sie fehlen mir trotzdem.«

»Ich bin doch da. Vergiss das nicht«, sagt sie, beugt sich zu ihm und küsst ihn sanft auf die Wange.

Diesmal entzieht er sich nicht. Dieser Moment ist Gold wert.

Eva weicht zurück. Carl macht ein überraschtes Gesicht. Jetzt spürt sie ein Gefühl von Macht. Psychische Macht über jemanden zu haben, ist ein Spiel ganz ohne Regeln. Es ruft beim Opfer Schwindel und Desorientierung hervor und kann es dazu bringen, vollkommen durchzudrehen.

Sie hat es nicht eilig, sie bleibt gelassen. Jetzt ist eine Verbindung zwischen ihnen entstanden. Sie weiß, dass ihre Stunde kommen wird.

»Bis später dann«, sagt sie und geht zur Tür.

Bevor sie das Büro verlässt, dreht sie sich noch einmal um.

Er lächelt.

Und sie hat gewonnen.