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Eigentlich hatte ich gehofft, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, doch dann kam es zu einer Begegnung, die mich sehr mitnahm. Michael Parks stand am Tag nach der Schießerei vor der Tür, um nach uns zu sehen. Er hatte einige seiner Wachleute zu uns abgestellt. Zum Dank luden wir ihn zum Mittagessen ein.

»Alex, fast hätte ich es vergessen«, sagte er nach dem Essen. »Mein Freund Oliver Sanchez, der so viel Geld an Sanctum verloren hat, würde sich gern mit Ihnen unterhalten. Sind Sie noch an seiner Geschichte interessiert? Dann könnten wir uns mit ihm verabreden.«

»Ja, natürlich!«, rief ich, und das war mein voller Ernst. Ich kam sowieso nicht mehr zur Ruhe. Die permanente Anwesenheit von Wachpersonal und Polizei machte mich fast verrückt. Ich fragte Dani, ob sie mitkommen wolle, aber am selben Tag würde Steve nach San Francisco zurückkommen, und da wollte sie gern zu Hause sein.

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages fuhr Michael Parks mit mir zu Oliver Sanchez. Er wohnte in einem Mietshaus in Mountain View, wo im Treppenhaus die Kakerlaken die Wände hinaufkrabbelten. In seiner Wohnung war es dunkel und eng. Sanchez war Mitte vierzig und mexikanischer Abstammung. Sein Gesicht wirkte ehrlich, und er machte einen sympathischen Eindruck auf mich, seine Zahnreihen waren perfekt, er war adrett gekleidet und hatte einen festen Händedruck. Er passte überhaupt nicht hierher. Es war offensichtlich, dass er mal ein ganz anderes Leben geführt hatte. In dieser Wohnung war alles sauber und still.

Viel zu still.

Wir setzten uns auf eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder, die für das beengte Zimmer zu ausladend wirkte. Oliver Sanchez bot uns Mineralwasser und Saft an. In einer Ecke stand ein Plastik-Tannenbaum. Bei dem Anblick fiel mir mein letztes Weihnachten ein. Carl und ich waren am Heiligen Abend in der Villa in Lund allein gewesen und hatten gearbeitet. Zwischen uns hatte eine Kerze gestanden, die wir für Dani angezündet hatten. Diese kleine Flamme habe ich gebraucht, um nicht ganz und gar vor die Hunde zu gehen. Bei dem Gedanken an diese Hölle, durch die ich im letzten Jahr gegangen bin, verblasste all das, was wir jetzt erleben mussten. Im letzten Herbst habe ich mehr Schmerz durchlitten, als die meisten Menschen ein ganzes Leben lang aushalten müssen. Und Dani war noch am Leben gewesen. Im Vergleich dazu konnte dieses Weihnachten nur wunderbar werden.

»Jetzt erzähl Alex doch mal von deinen Erlebnissen mit Sanctum«, sagte Michael. »Und keine Eile. Wir haben Zeit.«

Oliver seufzte und sah mir in die Augen.

»Ich bin mit Sanctum in Kontakt gekommen, als meine Tochter Elena drogenabhängig wurde. Das ist schon einige Jahre her. Sie war gerade erst achtzehn geworden. Sanctum hatte den Ruf, mit den wirksamsten Methoden im Entzug zu arbeiten. Zu der Zeit damals hatte ich noch sehr viel Geld. Ich wollte unbedingt, dass sie die bestmögliche Behandlung erhält, und vor allem wollte ich, dass sie von den Drogen loskommt. Am Anfang lief es auch gut. Sie wurde clean und fühlte sich da offenbar recht wohl.«

Er legte eine Pause ein und blickte durch das hohe Fenster. Ein großer Olivenbaum wuchs vor dem Haus, und immer, wenn Wind aufkam, schlugen seine Zweige gegen die Scheibe.

»Die Behandlung bei Sanctum erstreckte sich über mehrere Monate. Aber schon nach ein paar Wochen kamen Mitarbeiter der Klinik auf mich zu und legten mir nahe, Geld zu spenden. Elena befand sich stationär in einem Behandlungszentrum in Sausalito. Sanctum plante aber einen Neubau in San Luis Obispo, in der Nähe von Hearst Castle, kennen Sie die Gegend? Es sollte die allermodernste Klinik werden, die beste auf der Welt, hieß es, ein Vorbild für alle andern Drogenentzugskliniken. Damals hatte ich noch eine eigene Firma in Silicon Valley, und eins meiner Computerspiele lief hervorragend.«

»Olivers Unternehmen gehörte zu den erfolgreichsten in der ganzen Gaming-Branche«, schob Michael ein.

»Es hat damit angefangen, dass ich von Sanctum eine Einladung zu einer exklusiven Veranstaltung erhielt«, fuhr Oliver fort. »Nur für Millionäre. Sie servierten uns ein Gängemenü, und dann erschien auf der Bühne ein fanatischer Speaker, der um Spenden bat. Wie bei einer Auktion lief das ab. Die Leute riefen in die Runde, wie viel sie bereit waren zu spenden. Die Atmosphäre war aufgeheizt, die Leute schienen fast fanatisch zu sein. Alle geladenen Gäste waren steinreich und versuchten, sich immer weiter zu überbieten. An diesem Abend habe ich auch eine ganze Stange Geld gespendet und war davon ausgegangen, dass es damit gut sei. Aber da hatte ich mich geschnitten.«

»Sollte denn das gesamte Geld in die neue Klinik fließen?«, fragte ich ihn.

»Ja, so hieß es. Sie finanzieren ihre Behandlungszentren mit Spenden. Aber die Steuerzahler dürfen auch einiges blechen. Die Zuschüsse, die der Staat solchen Organisationen gewährt, sind umfangreich; großzügige Fristen und Aufschübe bei der Begleichung gewisser Steuern, Ausbau des Straßennetzes, Gelder für neue Technologien. Sanctum hatte den Bürgermeister und den Gouverneur in San Luis Obispo um den kleinen Finger gewickelt.«

Michael nickte.

»Es gab da eine Art Belohnungssystem«, erklärte Oliver. »Man konnte Silver-, Gold-, Platin- oder Diamant-Sponsor werden, je nachdem, wie viel Geld man locker machte. Die Namen der Diamant-Sponsoren sollten dann in dem neuen Behandlungszentrum in einer Wand eingraviert werden. Und all das war anfangs auch in Ordnung. Da war es noch freiwillig. Aber dann haben sie angefangen, mich zu bedrängen. Mit Besuchen.«

Nervös fuhr sich Oliver mit der Hand durchs Haar. Die Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn. Es fiel ihm nicht leicht, davon zu erzählen.

»Beim ersten Mal standen sie plötzlich unangemeldet bei mir im Büro. Sie hatten Elena dabei, hatten sie in ein Kleid gesteckt und ihr eingebläut, was sie sagen sollte. Sie schimpfte und warf mir vor, ich sei egoistisch, weil ich nicht mehr Geld spenden wollte. Sie sagte, ich solle mich schämen, ich lebe hier auf großem Fuß, während es so vielen anderen Menschen dreckig geht. Ich habe sie gar nicht wiedererkannt. Aber daraufhin habe ich natürlich noch mehr gespendet. Nur um die Leute loszuwerden und Elena zu besänftigen.«

Oliver sprang auf, verließ den Raum und kam mit einem eingerahmten Foto zurück. Das Mädchen auf dem Bild war im Teeniealter, hatte nussbraune Augen und langes, schwarzes Haar. Ihr Gesicht wirkte genauso aufrichtig und sympathisch wie das ihres Vaters. Vor Glück strahlend. Unbeschwert.

»Das ist Elena«, sagte Oliver. »So sah sie aus, bevor sie mit den Drogen anfing.«

Ich konnte den Blick nicht abwenden.

»Und wo ist sie jetzt? Was ist passiert?«, fragte ich ihn.

»Dazu komme ich noch«, sagte Oliver. »Wie auch immer, der Stress ging weiter, sie haben mich unter Druck gesetzt, immer mehr zu spenden. Als ich eines Tages in mein Büro gekommen bin, saß eine Frau von Sanctum ganz unverschämt an meinem Schreibtisch und blätterte in meinen Unterlagen. Als ich sie fragte, was sie da mache, hat sie geantwortet, sie wolle sich nur vergewissern, dass ich keine Einkünfte habe, die ich Sanctum vorenthalte. Ich bin fuchsteufelswild geworden und habe sie rausgeschmissen. Dann haben sie eine Zeit lang Ruhe gegeben. Aber plötzlich ging es mit den Schikanen weiter.«

»Das ist ja vollkommen wahnsinnig«, sagte ich. »Und verboten ist es doch auch?«

»Ja, aber darum schert sich keiner. Eines Tages ist vor meinem Haus eine ganze Bande aufgetaucht, um mir eine Geschichte aufzutischen, sie würden das Grundstück verlieren, auf dem das neue Behandlungszentrum errichtet werden sollte, und haben auf die Tränendrüse gedrückt. Eine Million bräuchten sie, um es sich zu sichern. Sie waren so unverschämt, sich durch den Eingang zu drängen, und dann haben sie stundenlang bei mir im Haus gesessen. Schließlich habe ich zugesagt, eine noch größere Spende zu machen, wenn sie mir versprechen würden, dass dies das letzte Mal war.«

»Darf ich fragen, um wie viel Geld es da ging?«, fragte ich nach.

»Hunderttausend Dollar. Aber genau zu dem Zeitpunkt begannen die Probleme in der Firma. Ein Konkurrent hatte unsere größten Kunden abgeworben, und innerhalb weniger Wochen mussten wir Konkurs anmelden. Ich war auf einen Schlag ruiniert. Deshalb konnte ich die Vereinbarung mit Sanctum auch nicht einhalten. Das Geld war ganz einfach nicht mehr da. Und in diesem Augenblick begann der wirkliche Albtraum.«

Oliver griff zu seinem Wasserglas und starrte auf den Boden. Überlegte einen Moment.

»Sie haben mich angerufen und mir mitgeteilt, dass Elena mich nicht mehr sehen wolle. Ich bin auf der Stelle ins Auto gesprungen und zur Klinik gefahren, doch sie haben mich nicht reingelassen. Gleichzeitig eskalierten die Schikanen. Es gab sogar Bombendrohungen. Die haben Gerüchte im Internet gestreut und mich in den Schmutz gezogen. Ich habe anonyme Drohmails bekommen. Manchmal haben sie mich mitten in der Nacht angerufen – wie Kinder, die sich einen Spaß machen.«

Von all seinen Erzählungen war ich wirklich angeekelt. Und ich stellte keinen Moment infrage, dass er die Wahrheit sagte.

»Ich habe alles verloren – meine Firma, mein Haus, mein ganzes Leben – aber meine größte Sorge galt Elena. Schließlich bin ich zur Polizei gegangen und habe Anzeige erstattet. Dann sind Beamte zu Sanctum gefahren und haben mit ihr gesprochen, aber sie hat behauptet, dass sie mich nicht sehen wolle. Sie war volljährig. Was sollte ich tun? Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Das ist jetzt ein halbes Jahr her.«

»Aber wo ist sie denn jetzt?«, fragte ich ihn.

»Das ist das Schlimmste. Sie schicken nach wie vor Rechnungen für ihre Behandlung, obwohl ich seit einem halben Jahr nichts mehr bezahlt habe. Aber sie haben sie nicht rausgeschmissen. Zumindest wüsste ich es nicht.«

Er beugte sich vor und drehte den Kopf zur Seite, doch ich konnte sehen, dass er weinte. Michael legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Du musst nicht weitererzählen, wenn du nicht kannst …«

»Es gibt auch nicht mehr viel zu erzählen. Von dem, was mein Leben mal war, ist nichts mehr übrig geblieben. Aber ich muss ständig an Elena denken.«

Dann erzählte er, dass er in den letzten Monaten zwar unter schrecklichen Depressionen gelitten habe, seit kurzer Zeit aber entschlossen sei, noch einmal Kontakt zu Elena zu suchen.

Während unseres Gesprächs war wieder dieses altbekannte, ungute Gefühl in mir hochgekommen, und es wollte mich nicht mehr loslassen. Der Albtraum, den wir im vergangenen Jahr erlebt hatten, brachte sich erneut in Erinnerung. Ich verspürte dieselbe Abscheu wie damals, die gleiche Ohnmacht.

Wir setzten unser Gespräch noch eine Weile fort, bis Oliver etwas erleichtert schien.

»Es tut gut, mit jemandem über all das reden zu können. Ich weiß ja selbst, wie verrückt die ganze Sache klingt. Was würdet ihr zwei denn sagen, wie soll ich vorgehen?«

»Wir müssen irgendwie mit Elena in Kontakt kommen«, antwortete Michael. »Eine Gelegenheit abpassen, wenn Sanctum sie nicht überwacht.«

Und wie er das so formulierte, klang es, als hätten wir drei jetzt eine gemeinsame Mission, das war nicht zu überhören. Mich machte diese Vorstellung etwas nervös.

»Aber warum behalten sie Elena?«, fragte Oliver. »Was haben sie davon?«

»Genau das ist der Punkt. Das müssen wir rauskriegen«, sagte Michael und sah mich eindringlich an.

Als wir die Wohnung verließen, war Michael ungewohnt still, aber ich wusste genau, was in ihm vorging. Olivers Geschichte beschäftigte mich selbst und versetzte mir immer noch kalte Schauer. Es dauerte eine Weile, bis das Blut unter meiner kühlen Haut wieder ganz normal zirkulierte.

Ich dachte an Oliver, der alles verloren hatte, was sein Leben ausgemacht hatte. Ich dachte auch an Sanctum und an diese hungrigen Mäuler, die nie genug bekamen, und ich wurde schrecklich wütend. Ich dachte an Elena und malte mir aus, was ihr zugestoßen sein konnte. Ich fragte mich, ob sie fror, ob sie einsam oder verängstigt war. In diesem Augenblick fühlte ich mich ihr ganz nah, obwohl wir uns gar nicht kannten. Die ganze Geschichte erinnerte mich so stark an das vergangene Jahr, als Dani eingesperrt gewesen war. Genau wie damals bei Dani ahnte ich jetzt, dass mich die Gedanken an Elena nicht loslassen würden. Ihr Bild würde immer wieder vor meinem inneren Auge erscheinen. Das konnte ich nicht verhindern.

»Vielleicht bin ich doch dabei«, sagte ich zu Michael. »Wenn ich meine Schwester überreden kann. Aber erst müssen wir zusammen Weihnachten feiern.«

»Ja, das machen wir«, sagte Michael. »Aber für Oliver und mich wird es ein Weihnachtsfest ohne die Menschen, die wir am meisten lieben.«

»Auf gewisse Weise gilt das für mich auch«, war meine Antwort.