Unser Häuschen hieß mich willkommen. In allen Fenstern brannte Licht. Von draußen konnte ich auch schon erkennen, dass das Feuer im Kamin loderte. Die Luft war kühl und klar. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass es dämmrig geworden war. Der Winter hielt die Bay jetzt fest in der Hand, weiter im Landesinneren lagen die Temperaturen nachts bereits unter null Grad.
Als ich ins Haus kam, blieb ich zuerst nervös im Flur stehen und horchte, doch dann hörte ich klirrende Gläser und fröhliche Stimmen aus dem Wohnzimmer und ging erleichtert hinein.
Brett saß im Sessel, die langen Beine ausgestreckt. Dani hatte sich an Steve gekuschelt und den Kopf an seinen Brustkorb gelegt. Als sie mich erblickte, strahlte sie übers ganze Gesicht.
»Mark wird durchkommen!«, rief sie. »Sie haben ihn notoperiert, und jetzt ist er schon bei Bewusstsein!«
Ich war so erleichtert, dass meine Knie weich wurden.
»Oh Gott, bin ich froh!«, sagte ich.
Dani hatte noch mehr zu erzählen, das merkte ich gleich, doch ich kam ihr zuvor. Zuerst musste ich diese furchtbare Geschichte von Oliver Sanchez loswerden.
Als ich fertig war, wurde es ganz still im Raum. Doch dann fingen wir an zu diskutieren, ob wir Carl davon erzählen sollten oder nicht. Steve war der Ansicht, wir sollten es unbedingt. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht mehr für Carls Schutz sorgen konnte. Als ob er vor jemand anderem als vor Eva Sand geschützt werden müsste , dachte ich verbittert. Doch Brett vertrat eine ganz andere Meinung.
»Ich kann euch jetzt schon sagen, was er ankreiden wird: dass wir nur eine Seite der Medaille kennen. Lasst ihn die Dreharbeiten beenden. Es geht doch nur noch um wenige Tage. So was bespricht man besser, wenn man sich gegenübersitzt, als am Telefon.«
»Ehrlich gesagt, ich mache mir um ihn die wenigsten Sorgen«, sagte ich. »Aber ich habe riesige Angst um Elena Sanchez. Ich möchte unbedingt wissen, was mit ihr passiert ist.«
»Aber du kennst sie doch gar nicht«, sagte Dani. »Meinst du nicht, wir haben schon selbst genug Probleme? Ist es da wirklich schlau, noch tiefer einzusteigen?«
Ihre Frage ignorierte ich komplett.
»Kannst du dir vorstellen, dass eine Einrichtung wie Sanctum so tief sinken kann, dass sie Drogenabhängige, die Probleme machen, monatelang einsperrt?«, fragte ich im Gegenzug.
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Es sind schon viele dubiose Dinge geschehen.«
»Michael glaubt, dass sie das mit seinem Sohn auch gemacht haben und er deshalb abgehauen ist«, sagte ich.
Brett und Dani sahen sich kurz an, daraufhin wechselte sie das Thema.
»Wir haben einen Ort gefunden, an dem wir uns sicher fühlen können, Alex«, sagte sie.
Sie erzählte, dass sie eine Villa mit Alarmanlage und Elektrozaun in der Nähe von Santa Cruz an der Küste mieten könnten. Steve würde uns am ersten Weihnachtsfeiertag dorthin bringen, da würde das Risiko, dass uns jemand heimlich beschattete, gegen null gehen. In den USA feiern die Leute ja an dem Tag Weihnachten, und kaum jemand würde am Nachmittag auf der Autobahn unterwegs sein.
Die Idee klang gut, trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, Tag und Nacht mit Dani und Steve zusammen zu sein und mit anzusehen, wie glücklich die zwei waren. Das führte mir so klar vor Augen, wie einsam ich selbst war.
»War das Carls Idee, mit der Villa in Santa Cruz?«
»Ja, Carl und Steve sind darauf gekommen. Aber das spielt doch keine Rolle. Das Wichtigste ist, dass wir in Sicherheit sind«, sagte Dani.
Ich wandte mich an Steve.
»Wie lange müssen wir in Santa Cruz bleiben?«
»Bis die Polizei die Typen festgenommen hat, die Erik kidnappen wollen«, sagte er.
Dani saß noch immer an ihn gekuschelt da. Er hatte den Arm um sie gelegt, und sie streichelte seine Hand, dabei schloss sie die Augen. Ihr Gesichtsausdruck hatte etwas Gequältes, sie war konzentriert wie beim Lernen, wenn sie einen schwierigen medizinischen Sachverhalt zu verstehen versuchte. Dann sah sie mich an und lächelte.
»Ich weiß, was du denkst, Alex. Wenn du willst, kannst du auch hierbleiben. Hinter dir sind sie ja gar nicht her. Aber wenn du hierbleiben möchtest, dann muss dich jemand bewachen. Und Brett, du musst versprechen, dich auch um Alex zu kümmern.«
»Immer zu Diensten, Ladies«, sagte Brett.
»Ja, ich glaube, ich sollte hierbleiben, um Sanctum auf den Grund zu gehen«, sagte ich. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich das einfach tun muss, vorher wird nichts mehr so wie früher werden.«
Brett stand vom Sofa auf.
»Vermutlich stimmt das, aber jetzt werde ich anfangen zu kochen. Und bevor du mit deiner Spitzelei loslegst, Alex, feiern wir Weihnachten!«, rief er.
Die Vorstellung, ohne Carl Weihnachten durchstehen zu müssen, war kaum auszuhalten. Mir fiel wieder ein, was er damals gesagt hatte. Ich feiere Weihnachten immer mit irgendeiner Frau . Ich drehte mein Gesicht weg und wischte mir ein paar bescheuerte Tränen von den Wangen.
»Werdet ihr denn am Heiligen Abend zu Hause sein?«, fragte ich Dani.
»Ja, den ganzen Tag. Abends sind wir bei Steves Eltern eingeladen. Wir sind zwar nur für ein paar Stunden weg, aber Brett und du, ihr könnt gern mitkommen, wenn ihr Lust habt.«
»Mal sehen. Ich überleg’s mir«, versprach ich ihr.
Eigentlich grübelte ich darüber nach, wie ich die Feier am Heiligen Abend ganz umgehen könnte, doch meine Gedanken drifteten immer wieder zu dem Foto ab, das von Eva und Carl im Internet kursierte. Irgendetwas daran stimmte nicht. Ich griff zu meinem Handy und nahm es unter die Lupe. Das Bild wirkte leicht verschwommen, aber jetzt konnte ich erkennen, dass Carl etwas deprimiert aussah. Evas Lächeln war aufgesetzt, so was erkannte ich auf der Stelle. Das Bild schien gefakt zu sein. Eva war hinterlistig. Bei Ash & Coal würde niemand sie durchschauen, Carl am allerwenigsten. Würde ich ihn nicht besser kennen und wüsste ich nicht, dass er Psychologe war, würde ich davon ausgehen, dass er die Gehirnwäsche bereits hinter sich hatte. Mir fielen seine Worte am Telefon wieder ein.
Eva hat gesagt, sie würde dich gern näher kennenlernen.
Dann kam mir wieder in den Sinn, wie sie mich damals, als sie zum ersten Mal in unser Büro gekommen war, angesehen hatte. Ihr Blick – offen, sehr interessiert, aber unterschwellig verächtlich. Dieser Blick kam mir bekannt vor, und zwar kannte ich ihn von jemandem, der mich an meinem Verstand hatte zweifeln lassen. Wer hatte mich so angesehen?
Für einen Augenblick war mir, als würden Eva und ich in Kontakt kommen. Aus den Tiefen meines Bewusstseins stieg sie auf, nahm mich ins Visier und lächelte hämisch. Ich hielt die Augen geschlossen. Als ich sie wieder öffnete, war sie fort. Das Gespenst. Der Albtraum. Mein Quälgeist. Wieder einmal beschlich mich das Gefühl, dass ich ganz dicht an einer heißen Spur war, ich hatte ihr nur zu folgen, dann klärte sich alles auf. Doch ich hatte keine Ahnung, wie ich sie ausfindig machen konnte.
Spekulationen brachten mich hier überhaupt nicht weiter. Jetzt mussten Tatsachen her.
So reifte mein Entschluss. Wenn meine Erinnerung versagte, konnte ich nur noch spionieren. Und im Spionieren war ich ganz gut. Ich ahnte schon, dass das, was ich ans Tageslicht bringen würde, mich zu Tode erschrecken könnte. Aber ich sah keine Alternative: Ich musste es wagen.