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Eva

Am Heiligen Abend ist sie mit Carl allein in der Villa. Die Filmcrew hat sich freigenommen und ist in eine Ecke von Småland gefahren, wo Schnee liegt. Carl hat den ganzen Tag an seinem iPad herumgespielt. Als Eva sich erkundigt, was er da mache, antwortet er, er arbeite an einem Bild. Sie bestellt Essen bei einem teuren Cateringservice. Sie ruft sich die Liste in Erinnerung, alles, woran sie denken muss.

  1. Den Tisch romantisch decken (keine Weihnachtsdeko, er hält nicht viel von Weihnachten).
  2. Überall Kerzen anzünden.
  3. Die Vorhänge zuziehen.
  4. Parfüm auf Handgelenke und Hals sprühen.

Check, check, check, check.

Und dann das Allerwichtigste:

  1. Die Drinks austauschen.

Im Internet hat sie ein Rezept für einen Drink mit Grapefruitsaft aufgetrieben. Sie holt eine Kapsel aus ihrer Handtasche. Vorsichtig knipst sie sie auf und kippt den Inhalt in den einen Drink. Carl hatte zuletzt eine Beziehung mit der pubertären Alex, die wirklich Mittelmaß war. Sich jetzt mit einer reifen, schönen Frau wie Eva abzugeben, wird etwas Neues für ihn sein. Sie muss ihm also ein bisschen auf die Sprünge helfen. Und dank Nils Wallin hat Eva alles unter Kontrolle. Sie hat seine Worte noch im Ohr: Mixen Sie Viagra mit Grapefruitsaft. Ich kann Ihnen ein Rezept ausstellen. Der Saft erhöht die Konzentration und verhindert, dass das Viagra seine Wirkung verliert. Bewirkt garantiert eine Marathonerektion. Sie dürfen es aber nicht zu hoch dosieren, sonst kann es Angina Pectoris verursachen.

»Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«, hatte Nils sie noch am Vormittag gefragt, als sie die letzten Details miteinander abgestimmt hatten. Als hätte er mit einem Mal sein Gewissen entdeckt.

»Was denken Sie denn?«, fauchte sie. »Nach alledem, was Sie ihm angetan haben, ist sein sexuelles Verlangen auf dem Tiefpunkt angekommen. Mir bleibt gar keine andere Wahl. Soll ich ihn nun in Schweden aufhalten oder nicht?«

Eva platziert die Drinks auf dem Tisch. Carl kommt in die Küche und sieht etwas geknickt aus, doch als er sie erblickt, geht ein Lächeln über sein Gesicht. Sie sitzen eine Weile in der gemütlichen Küche und unterhalten sich. Aus ihren ruhigen Stimmen wird ein harmonisches Duett. Gleichklang. Sie ist sehr darauf bedacht, ihn für die Interviews zu loben. Mehrmals betont sie, dass er die Erwartungen des Filmteams weit übertroffen habe. Dieser Dokumentarfilm wird ein Riesenerfolg werden, da sind sich alle einig.

Über die Gläser hinweg kann sie sein maskulines Parfüm riechen.

»Wenn ich mit dir zusammen bin, habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen«, sagt sie. »Ich kann dir nicht erklären, warum. Vielleicht habe ich immer jemanden gesucht, der dieselben Wertmaßstäbe hat wie ich. Schon seit meiner Kindheit komme ich mir so verloren vor. So hast du mich ja mal genannt – etwas verloren. Das hat den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Kann ich gut verstehen«, antwortet er. »Es ist lange her, dass ich mich so gefühlt habe, aber jetzt ist dieses Gefühl wieder da. Wahrscheinlich liegt das an den Zerwürfnissen mit meinen Freunden. Sobald wir die Dreharbeiten abgeschlossen haben, werde ich das wieder geraderücken.«

Sie sieht ihn aufmunternd an.

»Die Zukunft ist gar nicht wichtig«, bemerkt sie. »Jetzt sind wir hier. Und es geht uns doch eigentlich gut, nicht wahr?«

Zuerst erzählt sie ihm kleine Episoden aus ihrer Kindheit. Sie beginnt ihre Sätze meist mit Phrasen wie: »Das habe ich noch nie zuvor jemandem erzählt, aber …« Mit ihrem vertraulichen Tonfall unterstreicht sie, dass Carl der einzige Mensch ist, mit dem sie so offen sprechen kann. Dabei sieht er ihr ins Gesicht. Sein Blick ist schwer zu deuten, aber es sind Gefühle im Spiel.

Manchmal werden die Pausen zwischendrin lang, doch sie sind keineswegs unangenehm. Es ist eher dieses intensive Schweigen, das entsteht, wenn sich die Seelen berühren. Als sie schließlich gut eine Stunde lang von sich erzählt hat, glaubt sie, ihm im Gespräch nähergekommen zu sein.

Sie behält sein Glas im Auge, vergewissert sich, dass er es austrinkt.

»Ich werde heute früh ins Bett gehen«, sagt er mit einem Mal. »Danke für den netten Abend.«

Er stützt sich auf die Ellenbogen und beugt sich vor, um eine Kerze auszupusten, die schon fast heruntergebrannt ist. Sie rückt näher und streicht ihm eine Haarlocke aus dem Gesicht.

»Ich glaube, das war mein allerschönstes Weihnachten«, sagt sie ganz ernst.

Gern darf er jetzt ins Bett gehen. Sie weiß, dass er in absehbarer Zeit wieder aufwachen wird.

Als Carl in sein Zimmer gegangen ist, bemerkt Eva, dass er sein iPad auf der Küchenarbeitsplatte vergessen hat. Sein Handy ist damit verbunden, also nutzt Eva die Gelegenheit, seine SMS zu lesen. Er hat sie tagelang nicht angeschaut. Ihr fällt sofort das Foto auf, das Alex geschickt hat. Das Bild von Carl und ihr am Flughafen. Lügner . Sie schmunzelt und antwortet mit dem Daumen hoch. Ganz einfach. Und sehr effektiv. Dann löscht sie das Bild, damit Carl es gar nicht erst zu sehen bekommt.

Eva schaltet das Licht aus und geht in ihr Gästehaus hinüber. Der Mond ist inzwischen an einem fast unwirklich samtblauen Himmel emporgestiegen. Die Kamine der umliegenden Häuser verteilen einen durchdringenden Duft nach Holz in der Luft. Im Gästehaus betrachtet sie das Schlafzimmer eingehend, das sich demnächst in ein Schlachtfeld der Wonne verwandeln wird. Sie knipst ein paar gedimmte Stehlampen an, allerdings lässt sie das Deckenlicht aus, geht ins Badezimmer und stellt sich unter die Dusche. Das heiße Wasser peitscht ihren Körper, bis die Luft voller Wasserdampf ist.

Eva rasiert sich überall und cremt sich mit parfümierter Bodylotion ein.

Dann legt sie sich auf dem Bauch aufs Bett.

Der Gedanke, dass der Unterschied zwischen Alex und ihr in diesem Moment darin besteht, dass sie hier ist und Alex nicht, treibt ihr ein Lächeln aufs Gesicht. Sie ist zu haben.

Jetzt muss sie nur noch auf das warten, was unweigerlich geschehen wird.