Carl
Carl schreckt aus einem Albtraum hoch und reißt die Augen auf, um die Fetzen dieser Schreckensbilder, die er noch vor sich sieht, loszuwerden.
Es ist immer derselbe Traum. Der Vater, der die Mutter vergewaltigt. Carls Füße sind einzementiert, er ist vollkommen hilflos. Dann, aus einer anderen Perspektive, die Mutter, wie sie in der Badewanne liegt. Die Augen leblos, wie von der Sonne ausgeblichene Steine. Die Wangen eingefallen. Als sie den Mund öffnet, fällt ihre Zunge heraus. Der Traum riecht nach Erde und Asche und gibt ihm das Gefühl, sich durch einen Tunnel zu bewegen, der ringförmig ist und kein Ende hat.
Er setzt sich im Bett auf. Sein Herz rast. Er ist klitschnass. Ein ungutes, kribbeliges Gefühl breitet sich in seinem Körper aus. Zwischen den Beinen spürt er einen Schmerz. Er kann sich überhaupt nicht erklären, warum er so eine Mordserektion hat, die pulsiert und drückt.
Er fragt sich, ob das Eva ist, ob sie sich in seinen Blutkreislauf hineingeschmuggelt hat. In letzter Zeit waren ihre Annäherungsversuche mehr als offensichtlich. Doch auf so etwas fällt er normalerweise nicht herein. Sollte er nicht. Gleichzeitig haftet ihr etwas an, was ihn magisch anzieht. Hinter ihrer kühlen Fassade ahnt er einen Menschen, der verzweifelt um Hilfe ruft. Eine Frau mit vielen Facetten. Vielleicht ein bisschen gestört, auf jeden Fall aber intelligent. Zwischen ihnen fließt eine bedrohliche Synergie, die ihn anfixt. Sie weckt den Beschützer in ihm. Er will sie vor der Bestie in ihr retten, die sie quält. Oder ist vielleicht er selbst das Monster? Als das er die Verdorbenheit seines Vaters geerbt hat?
Die Geilheit lässt nicht nach. Im Gegenteil, sie wird stärker. Die Erektion tut weh. Wenn er versucht, das Problem mit der Hand zu lösen, wird es nur noch schlimmer, verstärkt die Erregung.
Er flucht auf Alex und Brett, die sich gegen ihn zusammengetan haben. Wenn sie ihn jetzt sehen könnten, würden sie sich totlachen. Er hat Bretts Stimme noch im Ohr. Das kann die größte Fehlentscheidung sein, die du je getroffen hast. Bestimmt hat er recht, doch Carl reizt es nun umso mehr, Stellung gegen Brett zu beziehen, gegen Brett, der immer alles so richtig macht und dem wirklich alles zugeflogen ist. Und Alex war schließlich diejenige, die Schluss gemacht hat. Auf sie muss Carl keine Rücksicht nehmen. Sie hat sich geweigert, nach Schweden zu kommen. Er hat versucht, alles wieder in Ordnung zu bringen, doch sie hat ihn abgewiesen. Wenn er ihren ständigen Gefühlsausbrüchen nachgibt, wird er zum Weichling. Er war doch immer schon lieber ungebunden. Sein ganzes Leben lang hat er sich dagegen gewehrt, sich anderen Menschen anzupassen. Aber Alex ist nicht wie die anderen. Sie ist ein Licht, das nie erlischt. Wäre sie jetzt hier, die finstere Winternacht wäre viel heller.
Irgendwie wird er das schon schaffen. Es gibt einen Ausweg. Aber erst muss er dieses verfluchte Weihnachtsfest überstehen. Sein Kopf trifft in der Regel vernünftige Entscheidungen, doch im Augenblick scheint nichts mehr zu funktionieren. Was geschieht hier gerade mit mir?
Carl sieht auf seinen grotesk angeschwollenen Schwanz hinunter. Soll das eine Art sadistische Strafe für ihn sein? Er hält es kaum noch aus. Insgeheim weiß er, dass Eva auf ihn wartet. Irgendwie ist ihm klar gewesen, dass es so weit kommen würde. Früher oder später.
Es ist schließlich nur Sex.
Er steht auf und wirft sich den Morgenmantel über. Im Flur fährt er in ein paar Stiefel. Der bittere Nachgeschmack seines Traumes ist noch nicht verschwunden.
Die Nacht ist kalt. Die kühle Luft fährt unter seinen Mantel und beißt sich an seiner Haut fest. Doch nichts kann seinen puckernden Schwanz abkühlen. So was hat er noch nie erlebt. Es pocht. Es brennt. Er ist unglaublich geil, aber es fühlt sich überhaupt nicht gut an.
Die Hitze im Gästehaus schlägt ihm wie eine Wand entgegen. Er streift die Schuhe ab. Evas Parfüm liegt in der Luft. Aus dem Schlafzimmer dringt ein schwacher Lichtschein. Wie eine Motte bewegt er sich zum Licht hin. Etwas Fremdes, Tierisches steuert ihn jetzt. Sein Herz pumpt beängstigend schnell.
Sie liegt nackt auf dem Bauch, die Beine leicht gespreizt. Ihr Körper strahlt im Mondschein weiß. Ihre Brüste drücken aufs Kopfkissen. Ein leichtes Zittern geht durch ihren Körper, als sie ihn hereinkommen hört. Er bleibt stehen und zögert kurz. Sein Bauch fühlt sich seltsam an. Sie spürt seine Verunsicherung.
»Na endlich, ich warte schon so lange auf dich«, sagt sie.
Doch die Lust drängt nun alle Zweifel beiseite. Er kommt zu ihr aufs Bett und kniet sich hinter sie. Er packt sie fest an den Hüften und dringt in sie ein – ohne die Zärtlichkeit eines Vorspiels, er verzichtet auf all das, was er sonst predigt. Und sie nimmt ihn hungrig in sich auf. Ihr Körper fühlt sich innen kalt und hart an, oder liegt es an ihm, hat er Fieber?
In diesem Augenblick bleibt die Zeit stehen, und er verwandelt sich in ein Tier. Sekunden, Minuten – oder gar Stunden? – verstreichen wie in einem wackelnden Film. Eva schreit auf, als sie kommt, aber Carl kann nicht kommen. Es ist einfach nicht möglich. Er weiß, dass es nicht passieren wird, nie.
Furchtbare Bilder nisten sich in seinem Kopf ein. Nahaufnahmen von den Händen des Vaters um den Hals der Mutter, dazu ihre verzweifelten Schreie. Dieselben Laute, die jetzt durch die stumme Winternacht schallen.
Er zieht sich aus Eva zurück und murmelt eine Entschuldigung. Sie sind auf dem Boden gelandet. Als er aufsteht, überkommt ihn ein heftiger Schwindel. Die Holzdielen schwanken, er torkelt. Mit zittrigen Beinen wankt er zur Toilette und schließt die Tür ab. Er sackt auf dem Boden zusammen, versucht, wieder aufzustehen, doch dann kippt er nach vorn, und danach übergibt er sich in die Toilettenschüssel. Erschöpft lehnt er den Kopf gegen die kühle Klobrille. Atme tief durch. Reiß dich zusammen . Er kommt auf die Füße und spült sich den Mund aus. In seinem Kopf dreht sich alles, er muss sich am Waschbeckenrand festhalten. Im Spiegel darüber sieht er die verzerrten Gesichtszüge seines Vaters. Carls Kinn ist das seines Vaters, der Mund ebenso verkniffen. Seine Augen sind ganz leer. Das sind nur Halluzinationen . Vielleicht leidet er unter Schizophrenie oder etwas noch Schlimmerem. Wahrscheinlich braucht er Medikamente oder müsste sich behandeln lassen.
Er geht wieder zu Eva hinüber. Sie liegt jetzt auf dem Rücken und lächelt ihn an. Doch mit diesem Lächeln stimmt etwas nicht. Es jagt ihm Angst ein, und er kann nicht sagen, warum. Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass diese Frau etwas Gefährliches an sich hat, etwas, das ihm bislang entgangen ist.
Er nimmt seinen Morgenmantel, der auf dem Boden liegt, und zieht ihn über.
»Entschuldige, ich …« Seine Stimme verklingt. »Ich habe die Kontrolle verloren«, sagt er still.
»Nicht nur du«, sagt sie und lacht. »Das war wahnsinnig schön, Carl.«
»Ich muss jetzt gehen, ich …«
»Danke, dass du dich rechtzeitig zurückgezogen hast«, unterbricht sie ihn. »Aber das hättest du gar nicht tun müssen.«
Es ist komplett schiefgegangen. Sie sind wie zwei Schiffe, die in einer kalten Dezembernacht aneinander vorbeiziehen.
Wankend und stolpernd macht sich Carl auf den Rückweg in die Villa. Die eiskalte Luft beißt wie Nadelstiche in seine Haut. Der Himmel ist schwer und wird bald dichten Schnee auf sein dunkles Zuhause zu schütten. Auf dem Zaun sitzt eine verfrorene Krähe und lacht ihn aus.
In seiner Wohnung ist es dunkel, doch er schaltet kein Licht an. Stattdessen tastet er sich vor bis zum Bett und lässt sich darauf niedersinken. Da überkommt ihn ein Gefühl vollkommener Leere. Er ist aufgewühlt. Er kämpft mit sich, nicht laut loszuschreien. Menschen, die sich so verhalten wie er gerade, hasst er abgrundtief, und er hat nicht einmal die geringste Ahnung, wie es so weit kommen konnte. Die Erektion lässt nicht nach, aber er spürt sie nicht mehr. Das Einzige, was er spürt, ist Scham. Er lässt den Kopf hängen, vergräbt das Gesicht in den Händen und versucht, die Tränen zu unterdrücken.
In diesem Augenblick würde er alles dafür geben, bei Alex zu sein. Nach gerade mal einer Woche ist er ausgehungert nach ihr, er sehnt sich nach ihrem Anblick, nach ihrer Stimme, ihrem Körper. Vermisst ihre schönen Augen. Und sogar ihr Temperament.
Das Handy liegt auf dem Nachttisch. Er wählt ihre Nummer, läuft aber direkt in die Mailbox. In diesem Zustand mag er keine Nachricht hinterlassen. Er ruft Brett an, doch auch ihn erreicht er nicht persönlich.
Carl reißt sich zusammen, versucht, etwas zu sagen, doch seine Stimme bricht.
Dann setzt er noch einmal an. Schließlich bricht er doch in Tränen aus. In ein kindliches, schluchzendes, erniedrigendes Weinen.
Er bringt nur wenige, ganz leise Worte hervor.
Grüß mir Alex. Es tut mir leid. Ich hab alles kaputtgemacht. Es tut mir so unendlich leid.