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Mit dem Heiligen Abend endete die monatelange Trockenzeit in der San Francisco Bay. Der Regen, auf den alle gewartet hatten, peitschte auf die Bucht nieder. Tagelang regnete es pausenlos.

Am Morgen bemerkte ich, dass Carl mir eine Antwort auf die SMS mit dem Bild von Eva und ihm geschickt hatte. Daumen hoch. Das war alles. Ich überlegte, was er damit wohl sagen wollte. Hatte er keine Zeit gehabt? Oder sollte es vielleicht heißen, dass er mir das alles später erklären würde? Dieses Symbol konnte vieles bedeuten, doch noch ein ganz anderer Verdacht drängte sich mir auf. Diese Nachricht stammte gar nicht von Carl. Er konnte arrogant sein oder zynisch, aber er war nie auf so direkte Weise fies. Und eine Hundertstelsekunde später wusste ich, wer diese Nachricht von seinem Handy geschickt haben musste.

Am Nachmittag kam Brett zu uns rüber. Er hatte einen Truthahn dabei und brachte ihn in die Küche. Als er ins Wohnzimmer trat, fiel mir gleich auf, wie deprimiert er aussah.

»Fröhliche Weihnachten, Brett, aber was ist denn passiert?«, fragte ich ihn.

»Carl hat gerade auf meinem Handy angerufen. Ich war zu spät am Apparat, aber er hat eine Nachricht hinterlassen. Kapierst du, wovon er redet?«

Und dann spielte er mir die Sprachnachricht vor. Carl weinte. Mit zittriger Stimme brachte er ein paar herzzerreißende Worte heraus. Ich hörte mir die Nachricht ein zweites Mal an. Mit jedem Atemzug wurde mein Brustkorb enger, am Ende bekam ich kaum noch Luft.

»Hast du eine Ahnung, was passiert ist?«, fragte ich Brett verstört. »Kann es sein, dass er Eva Hals über Kopf geheiratet hat?«

»Unsinn, Alex«, sagte Brett. »Du kennst doch Carl. Er wird doch nicht gleich jemanden heiraten, und schon gar nicht so impulsiv. Wahrscheinlich war er mit ihr im Bett, und dabei musste er daran denken, wie schön es mit dir immer gewesen ist. Bei ihnen ist der Heilige Abend ja schon vorbei, wenn man die Zeitverschiebung bedenkt. Vielleicht war er auch betrunken, als er die Nachricht draufgesprochen hat.«

»Nein, da ist er eher überdreht. Hier klingt er ja völlig am Boden zerstört. Aber … bitte, Brett, sag nicht, dass er mit ihr im Bett war. Und das am Heiligen Abend.«

Zärtlich umfasste Brett meine Handgelenke.

»Es geht mir völlig gegen den Strich, dich traurig zu machen, aber an den Gedanken solltest du dich gewöhnen. Wenn er schon vor ein paar Wochen im Büro an ihr herumgegrapscht hat, dann ist es vermutlich unumgänglich, dass sie auch miteinander im Bett gelandet sind.«

Obwohl mir klar war, dass das passieren würde, und ich im Grunde schon darauf gewartet hatte, traf es mich hart. Es tat so weh, dass ich es kaum aushielt.

»Aber am Telefon hat er mir gesagt, dass zwischen ihnen nichts gelaufen ist.«

»Ich sage es wirklich sehr ungern, aber ich nehme an, dass das vor ganz kurzer Zeit passiert sein wird. Trotzdem … wenn es dich tröstet: Es scheint ja wirklich nicht gerade der Brüller gewesen zu sein.«

»Ich hasse sie. Beide. Was ist eigentlich mit ihm geschehen ? Wieso hat er sich so verändert?«

»Soll ich ihn anrufen, und wir fragen ihn direkt?«

»Nein! Bloß nicht. Das war schon genug Drama, das reicht. Wir wollen uns doch nicht noch den Heiligen Abend verderben lassen. So, wie er gerade drauf ist.«

Bretts Griff um meine Handgelenke wurde fester.

»Warum quälst du dich so, Alex? Was du letztes Jahr unternommen hast, um Dani zu retten, war einzigartig. Die Klienten von Ash & Coal vergöttern dich. Du bist eine großartige Frau. Carl hat einen Riesenfehler gemacht, aber er scheint ja alles wieder geraderücken zu wollen. Obwohl er es im Grunde genommen nicht verdient hat.«

»Er hat mich angelogen …«

Brett legte mir den Finger auf die Lippen.

»Sch, ich verbitte mir jetzt, noch eine Sekunde zu verschwenden und über sein idiotisches Verhalten zu diskutieren. Nun wird Weihnachten gefeiert!«

Carls Worte verfolgten mich wie ein dunkler Schatten. Dani und Steve wollten am nächsten Tag in ihr Versteck in Santa Cruz aufbrechen. Aber vorher stand das gemeinsame Weihnachtsfest an.

Und es wurde ein schöner Heiligabend, trotz allem. Wir hatten einen Weihnachtsbaum besorgt, und Dani und ich schmückten ihn so typisch amerikanisch crazy, mit einer wilden Mischung aus Girlanden, Kerzen und bunten Kugeln. Steve machte ein großes Feuer im Kamin. Im Fernseher liefen Gottesdienste und Sendungen, in denen schneebedeckte Landschaften gezeigt wurden und Menschen, die mit Pelzmützen dastanden und Weihnachtslieder sangen. Brett braute einen richtig starken Glögg. Ein paar Flaschen davon brachten wir mit einem Korb voller Weihnachtsköstlichkeiten unseren Wachleuten im Haus gegenüber. Pünktlich zum Weihnachtsessen tauchte Stan Goodban auf, und er trug das neue Oberhemd, das Dani und ich ihm vor ein paar Tagen gekauft und zugeschickt hatten. Offensichtlich hatte er sogar geduscht, denn er erschien in einer Wolke aus Seifenduft und definitiv zu viel Rasierwasser.

Am Nachmittag bot sich die Gelegenheit, mit Stan allein zu sprechen. Ich erzählte ihm von der Begegnung mit Oliver Sanchez und dass ich mit dem Gedanken spielte, mich bei Sanctum einzuschleusen, um herauszufinden, was mit Elena passiert war.

»Das ist viel zu gefährlich«, antwortete Stan auf Anhieb. Doch seine Augen leuchteten auf. Allein der Gedanke, eine solche Organisation zu unterwandern, fixte ihn total an, das konnte man sehen.

»Wirst du ein Handy mitnehmen?«, fragte er sie.

»Ja, klar. Und die Polizei wäre auch informiert. Michael Parks hat einschlägige Kontakte. Ich muss herausfinden, was mit Elena Sanchez passiert ist. Das lässt mir einfach keine Ruhe. Und außerdem glaube ich, dass all das, was uns in letzter Zeit passiert ist, irgendwie mit den Aktivitäten bei Sanctum zusammenhängt.«

»Wo befindet sich denn ihr Hauptsitz?«

»In der Nähe von Sausalito. Noch nicht oben in den Bergen, aber schon ein bisschen außerhalb.«

»Wenn du das wirklich machst, könnten wir in Kontakt bleiben, solange du dort bist. Ich könnte parallel im Internet recherchieren und dich auf dem Laufenden halten, was passiert.«

Es war offensichtlich, dass ihm meine Idee gefiel. Ein bisschen später machte er sich wieder auf den Heimweg. Er meinte, er hätte etwas im Internet entdeckt, eine heiße Spur, die er weiterverfolgen wolle.

Brett und ich unterhielten uns eine Weile über die Firma.

»Ich würde unsere Leistungen gern etwas günstiger anbieten«, erklärte er. »Damit wir auch andere Leute in Schweden ansprechen, und nicht nur die oberen Zehntausend. Die vielen berufstätigen Frauen zum Beispiel, die haben sich doch wirklich verdient, eine Woche verwöhnt zu werden und sich mal richtig zu entspannen. Dafür könnten wir unsere größte Villa in drei Bereiche unterteilen und dann drei Gäste parallel dort beherbergen. Das würde die Kosten erheblich senken.«

»Super Idee«, sagte ich. »Bin ich ganz einverstanden.«

Brett grinste verlegen.

»Willst du mir helfen, Carl zu überreden? Ich meine, wenn er wieder klar denken kann?«

»Ja, natürlich. Wenn ich je wieder mit ihm rede. Ich habe den Verdacht, dass Eva Sand sein Handy benutzt. Ich habe eine SMS bekommen, die ganz sicher nicht von ihm stammt.«

Brett seufzte.

»Wir müssen aufhören, ihn wie ein Kind zu behandeln. Aus diesem Rausch muss er von allein erwachen.«

Am ersten Feiertag machten sich Dani und Steve mit Erik auf den Weg zu dem Haus in Santa Cruz, wo sie in Sicherheit waren. Kurz bevor sie abreisten, nahm Dani mich auf die Seite und sah mich eindringlich an. Ich wusste gleich, was jetzt kommen würde.

»Bevor wir losfahren, muss ich noch mal mit dir über diese verrückte Idee reden, Alex«, sagte sie. »Eva Sand arbeitet für Sanctum. Wir glauben, dass sie mit der Sekte zu tun haben. Und du hast wirklich vor, dich in eine ihrer Kliniken einweisen zu lassen. Das ist doch hochgradig lebensgefährlich.«

»Nein, ist es nicht. Die Polizei wird informiert, dass ich da bin. Sanctum hat auch eine ambulante Abteilung, wenn man nicht zwangseingeliefert wird. Ich kann kommen und gehen, wie ich will. Wir zwei können jeden Tag miteinander reden. Wirklich gefährlich ist es dagegen, mit dir und Erik zusammen zu sein«, sagte ich, um einen Witz zu machen.

Dani legte den Kopf schräg und überlegte.

»Da hast du nicht ganz unrecht. Aber warum kannst du nicht einfach die Ruhe genießen? Ein bisschen Zeit mit Brett verbringen.«

»Ich glaube, bei Sanctum laufen krumme Dinge. Und ich fürchte auch, dass Carl in Gefahr ist. Und wenn die Sekte damit zusammenhängt, dann haben die auch mit den Anschlägen auf dich und Erik zu tun. Ich tu das für euch. Wir können hier nicht tatenlos rumsitzen und warten, bis die Polizei etwas unternimmt. Wie lange wollen wir denn hier weiter so in Angst leben?«

»Aber du weißt selbst, wie gefährlich es ist, Detektiv zu spielen.«

»Es geht ja nur um ein paar Tage. Und von Elena habe ich nichts mehr gehört. Wo ist sie? Warum meldet sie sich bei ihrem Vater nicht? Das ist doch nicht normal.«

»Aber du kennst sie doch gar nicht. Sucht ihre Familie nicht nach ihr?«

»Das ist ja der Punkt. Elena hat keine weiteren Angehörigen. Keine Geschwister, keinen Freund, ihre Mutter lebt in Mexiko, und ihrem Vater werden sie den Zugang zu Sanctum verweigern. Wenn sie das Mädchen dort gegen ihren Willen gefangen halten, ist sie mutterseelenallein. Und wenn sich überhaupt jemand vorstellen kann, was das heißt, dann bist du es.«

Dani seufzte resigniert.

»Wie lange willst du da hin?«

»Allerhöchstens eine Woche. Sobald ich etwas herausgefunden habe, sage ich einfach, jetzt gehts mir besser, und ich gehe wieder.«

»Versprich mir, dass du mich jeden Tag anrufst oder mir eine SMS schreibst.«

»Na klar, aber wir müssen uns Handys mit Prepaidkarten anschaffen, damit keiner die Gespräche nachverfolgen kann.«

»Die hat Steve schon besorgt. Kannst du nicht einfach die Polizei ihren Job machen lassen?«

»Dieser Fall hat für sie überhaupt keine Priorität. Aber wenn Michael, Stan und ich etwas herausfinden, dann könnte es uns vielleicht gelingen, sie zu überführen.«

Dani sah mich sehr lange an, bevor sie ein abschließendes Wort dazu sagte.

»Okay, dann mach es. Aber höchstens eine Woche. Versprochen?«

»Versprochen.«

Ich begleitete sie noch zu ihrem Wagen. Für den Moment hatte es aufgehört zu regnen. In Half Moon Bay war es vollkommen ruhig. Kein Mensch auf den Straßen. Es machte den Eindruck, als würde die Erde vor Weihnachten andächtig stillstehen, als hätte sie aufgehört, sich zu drehen.

Ich beobachtete Dani und musste an all das denken, was wir zwei durchgemacht hatten. Mir schossen die Tränen in die Augen, ich konnte nichts dagegen tun. Außerdem kamen mit Weihnachten auch die Erinnerungen an unsere Kindheit hoch, an ein anderes Leben, in dem wir in einer ganz normalen Familie gelebt hatten. Bevor unsere Eltern uns sitzen ließen. Manchmal dachte ich mit Wehmut an diese Zeit, in der wir noch normal gewesen waren, zurück.

»Alles okay, Alex?«, fragte Dani. »Ist es okay, wenn wir jetzt fahren?«

»Ja, absolut. Du wirst mir nur schrecklich fehlen.«

Das ließ sie nicht kalt, ihr Gesicht wirkte angespannt, aber sie war auch pragmatisch, Dani hatte etwas Unerschütterliches. Das war schon immer so gewesen. In diesem Augenblick erst fiel mir auf, dass wir nie mehr als ein paar Tage voneinander getrennt gewesen waren, seit ich sie aus der Sekte befreit hatte. In meinem unsteten Leben war sie immer da gewesen. Aber jetzt würde ich bald vollkommen auf mich gestellt sein. Ihre Gesichtszüge wurden schon weicher, und bald sah sie geradezu hoffnungsvoll aus.

»Alles wird gut werden«, sagte sie. »Hauptsache, ich kann dich jeden Tag sprechen.«

In meinen Augen fing es an zu brennen. Dani gab Erik an Steve weiter, damit er ihn im Kindersitz anschnallte. Wir nahmen uns in die Arme, hielten uns ganz lang ganz fest. Ich roch an ihrem Haar, an ihrem Hals und ihren Schultern wie ein Spürhund.

»Ich brauche nur ein bisschen von deinem Duft zur Erinnerung«, sagte ich.

»Vergiss nicht, mich anzurufen«, sagte sie.

Dann drückte mir Steve ein Handy mit Prepaidkarte in die Hand.

»Diese Nummer lässt sich nicht nachverfolgen. Aber selbst, wenn es jemandem gelingen würde, ist unser Haus vollkommen sicher. Da kommt keiner rein.«

»Versprichst du mir, dass Dani und Erik nichts passieren wird?«, fragte ich ihn.

»Ich werde sie mit meinem eigenen Leben verteidigen.«

Dani stieg in den Wagen, doch bevor sie die Tür zuzog, winkte sie und lächelte mir zu. Ich hatte immer schon gefunden, dass Dani viel schöner lächelte als ich, denn dieses Lächeln kam von innen. Genau in dem Moment war es so wunderschön, dass ich wusste: Dieses Bild würde mich noch den ganzen Tag lang begleiten.

Ich sah ihrem Wagen hinterher, bis er aus meinem Sichtfeld verschwand.

Dann war Weihnachten für mich vorbei.

Ich wechselte in einen anderen Modus, mein Puls schlug wieder schneller.