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Es klickte im Türschloss. Ich konnte das Handy gerade noch in meiner Handtasche verschwinden lassen und mich schnell im Bett aufsetzen, die Hände im Schoß. Ein Mann in schwarzer Jeans und schwarzem T-Shirt kam in mein Zimmer. Um seinen Hals hing ein Stethoskop, in der Hand trug er ein Tablet. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig, er hatte einen kahlrasierten Kopf, kleine, finstere Augen und wulstige Lippen. Seine Stirn glänzte, als würde er ununterbrochen Schweiß absondern. Als er näher kam, konnte ich sein Gesicht besser erkennen. Durch seine Augäpfel liefen deutlich sichtbare, rote Äderchen, wahrscheinlich hatte er schlecht geschlafen. Für einen Mann seines Alters wirkten seine Gesichtszüge auffällig kindlich, noch dazu diese roten Bäckchen.

»Hallo Alexandra«, sagte er. »Ich heiße Theodor Ericsson und werde hier als Arzt für dich zuständig sein. Ich bin gleichzeitig Geschäftsführer von Sanctum Sausalito. Du kannst Ted zu mir sagen.«

Als er mich begrüßte, spürte ich, wie warm und feucht seine Hand war.

»Als Erstes werde ich dich untersuchen«, sagte er. »Reine Routine.«

Er nahm sein Stethoskop und hörte Herz und Lunge ab. Dann setzte er sich auf den Stuhl neben mich und begann, mich nach meinem »Missbrauch« zu befragen. Ich erzählte ihm von einigen Ereignissen des letzten Jahres und gab vor, sehr viele Beruhigungsmittel geschluckt zu haben. Als ich vom Ende meiner Beziehung berichtete, brach ich in Tränen aus, was mir nicht besonders schwerfiel.

Ted legte mir die Hand auf die Schulter.

»Du hattest wirklich kein leichtes Jahr«, sagte er. »Viele dramatische Ereignisse dicht aufeinander. Die Gemeinschaft, die du hier im Haus erleben wirst, wird dir guttun. Im Grunde dreht sich alles um eine Sache: die positive Energie. Wir nennen das besieg die Hexe oder tötet eure Drachen . Mit anderen Worten: Überwinde deine Abhängigkeit. Wir sind wie eine große Familie.«

»Aber ich habe noch nicht einen einzigen Menschen gesehen, seit ich hier bin«, sagte ich.

»Das liegt daran, dass heute Clean-up-Day ist. Alle sind draußen unterwegs und sammeln Abfall. Es tut gut, sich gemeinsam zu betätigen und mal für eine Weile nicht um sich selbst zu kreisen. Das macht gesund.«

»Und wenn einer ausbüxt?«, fragte ich spontan.

Er musste lachen.

»Wir haben Hunde. Von hier kommt so schnell keiner weg. Fast so wie in Alcatraz.«

Ich hatte Alcatraz einmal als Touristin besucht. Es schien völlig unmöglich, von diesem gottverlassenen Ort zu fliehen.

»Ich mache nur Spaß«, sagte Ted, als er in mein erschrockenes Gesicht sah. »Du bist ja aus freien Stücken hier. Überlass mir deine Behandlung und nimm die positive Energie der Gruppe auf, und dann wird alles gut werden.«

Meine Beine fingen plötzlich an zu zittern. Er warf einen Blick auf seine Dokumente auf dem Tablet.

»Ich sehe, du hast Diazepam eingenommen«, sagte er. »Das werden wir ausschleichen. Gegen Abend bekommst du ein paar Tabletten.«

Die Einnahme von Diazepam hatte ich beim Ausfüllen der Formulare frei erfunden. Das Medikament hatte ich zuvor im Internet recherchiert, es gehört zu den am häufigsten verwendeten Beruhigungsmitteln.

»Nicht nötig«, sagte ich rasch. »Seit dem Vorfall vom Heiligen Abend habe ich gar nichts mehr gebraucht. Ich möchte ab jetzt überhaupt keine Drogen mehr nehmen.«

Sein Gesicht erstrahlte.

»Genau das will ich hören! Aber wenn du Entzugserscheinungen bekommst, melde dich. Auch wenn es mitten in der Nacht ist. Neben deinem Bett befindet sich ein Alarmknopf, den drückst du einfach.«

Dann sah er wieder auf sein Pad hinunter und runzelte die Stirn.

»Welcher Arzt hat dir die Medikamente denn verschrieben?«

Shit . Damit hatte ich nicht gerechnet.

»Mein Arzt lebt in Schweden«, fiel mir auf die Schnelle ein. »Aber er hat mir die Tabletten nicht verordnet, die habe ich von einem Freund … den möchte ich allerdings nicht verraten.«

»Wir können dich nicht dazu zwingen, aber du weißt vermutlich, dass das illegal ist?«

»Vielleicht erzähl ich es später.«

»Irgendwann willst du es von dir aus erzählen«, sagte er voller Überzeugung.

»Warum werde ich eingeschlossen?«, fragte ich. »Das mag ich nicht.«

»Eigentlich machen wir das nur nachts«, sagte er. »Morgen kannst du das Zimmer verlassen und dich in der Klinik umsehen. In den ersten vierundzwanzig Stunden musst du dich erst mal an die neue Situation gewöhnen. Das Personal verschließt die Türen um neun Uhr abends, wenn Schlafenszeit ist. Das ist auch gut so. Wir können hier keine Schlafwandler gebrauchen.«

»Und warum hat man hier kein Netz?«

»Wir hatten leider technische Probleme in der ganzen Klinik, aber du darfst sowieso nur telefonieren, wenn jemand vom Personal zuhört. Hat dir das niemand gesagt?«

»Doch, schon«, antwortete ich und spürte einen Schauer über meinen Rücken laufen.

»Heute bekommst du das Essen aufs Zimmer. Morgen darfst du nach dem Frühstück raus, und dann lernst du die anderen Patienten kennen.«

»Und was soll ich hier bis dahin tun? Einfach nur rumliegen?«

»Im Bücherregal findest du Literatur mit Entspannungsübungen. Demnächst kommt auch noch ein Mitarbeiter und zeigt dir ein Video über Sanctum. Das wird dich aufmuntern.«

Er überreichte mir eine Broschüre, in der Regeln aufgeführt waren, die ich zu befolgen hatte.

»Ein Teil der Behandlung wird darin bestehen, dass du dich selbst besser kennenlernst – deinen inneren Kern, die Wurzel des Bösen. Du wirst tiefer gehen als je zuvor, und alle Verwirrungen auflösen … wie einen seidenen Faden.«

»Mit Hilfe eines Psychologen?«

»Nein, mit Übungen, die wir in Gemeinschaft machen. Es geht darum, alles bloßzulegen – du wirst das bald verstehen.«

Das klang ziemlich albern, doch Ted machte ein todernstes Gesicht dazu. Ich fragte mich, ob ich mich eventuell etwas überstürzt bei Sanctum hatte einweisen lassen.

Ted stand auf und gähnte.

»Alles wird sich regeln, Alexandra«, sagte er. »Wir haben kein Gegengift und Allheilmittel gegen unglückliche Liebe, aber versuch doch einfach, das Positive zu sehen. Hier bist du in guter Gesellschaft. Alle sind auf die ein oder andere Weise vergiftet.«

Dann ging er auf die Tür zu und wollte schon verschwinden, da drehte er sich noch einmal um.

»Möchtest du meine Meinung über schwierige Beziehungen hören?«

Ich nickte still.

»Es gibt Menschen, die haben ein riesengroßes Loch in sich drin«, fuhr er fort. »Ihr ganzes Leben lang haben sie zu tun, es auszufüllen – mit Drogen oder starken Gefühlen für schlechte Menschen. Das Einzige, was wirklich dagegen hilft, ist, diesen Leerraum mit positiver Energie zu füllen. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung. Ich bin schon zwanzig Jahre hier in der Klinik.«

Das sagte alles. Ich war in einem Irrenhaus gelandet.

Als Ted ging, merkte ich, dass die Tür abgeschlossen war. Das Personal gab einen Code ein, wenn sie sie öffnen wollten. Ich verfolgte Teds Fingerspitzen hoch konzentriert, wie sie sich über die Platte mit den Knöpfen bewegten, doch ich saß zu weit entfernt.

Eine unheimliche Stille legte sich über mein Zimmer.

Da fielen mir die beiden Handys ein. Ich nahm das mit der Prepaidkarte für den Kontakt zu Dani in die Hand. In diesem Augenblick hatte ich ein bisschen Empfang, also schrieb ich ihr schnell eine SMS . Dann nahm ich mein eigenes Handy und tippte eine Nachricht an Brett. Es waren nur wenige Zeilen, doch ich teilte beiden klar und deutlich mit, dass mir der Arzt verdächtig vorkam.

Gerade wollte ich das Smartphone wieder ausschalten, da sah ich, dass ich eine SMS von Carl bekommen hatte. Sie bestand aus einem Bild und ein paar wenigen Worten. Das Bild hatte er nach einem Foto von mir auf seinem iPad gemacht, ich stand nackt an einem Fenster in der Villa in Lund. Carl stand hinter mir, hielt mich an der Taille und vergrub sein Gesicht in meinem Haar. Seine Vorlage war ein Foto, das wir aufgenommen hatten, kurz bevor wir nach San Francisco gezogen waren. Staunend starrte ich auf das Bild, unfähig, es richtig zu begreifen. Jede Menge Gefühle überrollten mich, ich konnte sie nicht beherrschen. Das lag nicht nur an dem Motiv, sondern auch an den Farben – er hatte ausgeblichene, melancholische Sepiatöne benutzt. Es war offensichtlich, dass Carl sehr traurig gewesen war, als er dieses Bild gemacht hatte. Darauf hatte er festgehalten, was uns ausgemacht hatte, die ungekünstelte Art, mit der wir miteinander umgingen – und mit der wir die gegenseitige Nähe suchten. Instinktiv fuhr ich mit den Fingerspitzen über das Display, so stark war meine Sehnsucht, so sehr vermisste ich ihn.

Seine Nachricht war kurz und knapp. Ich würde alles tun, um das zurückzubekommen.

Ich wunderte mich, dass ich nicht weinen musste. Ich las den Satz bestimmt zehnmal, vielleicht sogar hundertmal, jedes Wort analysierte ich. Ich würde alles tun hatte im Grunde zu bedeuten, dass ich ihn auffordern konnte, ins nächste Flugzeug zu steigen und zu mir zurückzukommen. Aber ich wollte mich jetzt nicht von ihm manipulieren lassen. Er schien verzweifelt zu sein, wahrscheinlich hatte er aus Verzweiflung etwas Falsches getan. Ich antwortete sofort, solange ich noch Netz hatte.

Schreib im Detail alles auf, was du mit ihr angestellt hast und schick es mir.

Die Antwort kam postwendend, viel zu schnell für mein fiebriges Hirn.

Wir müssen reden. Bitte. So was schreibt man nicht auf.

Ja klar – er musste so widerwärtige Dinge mit ihr gemacht haben, dass er sie nicht niederschreiben konnte. Durch meinen Kopf schossen Bilder von Carl und Eva, beide nackt. Die Sehnsucht verzog sich, stattdessen flammte meine Wut von Neuem auf. Meine Finger flogen über die Tastatur.

Dann kannst du dich verpissen.

Ich war auf eigenartige Weise stolz, dass ich es fertigbrachte, ihm zu widerstehen. In diesem Moment wollte ich nur, dass er ebenso leiden musste wie ich. Kurzerhand löschte ich das Bild. Das Display wurde schwarz. Erst bereute ich es, doch dann wusste ich, dass ich das Richtige getan hatte.

Der Rest des Tages war zäh. Eine Mitarbeiterin kam vorbei und zeigte mir einen Film über Sanctum – mit manisch grinsenden Menschen, die etwas von positiven Gedanken, Zielen und Gemeinschaft faselten.

Abends fand ich kaum in den Schlaf. Mitten in der Nacht wachte ich auf, war vollkommen aufgewühlt, mein Herz pochte heftig. Um mich herum war es kohlrabenschwarz. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich wieder wusste, wo ich war. Als ich mich an alles erinnern konnte, bekam ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Hörte ich da nicht Geräusche aus den anderen Räumen, quietschende Betten, Knirschen auf den Linoleumböden, fließendes Wasser aus den Wasserhähnen? Es gab keine Heizung in meinem Zimmer, und es war so kalt, dass ich mir die Füße rieb, um mich zu wärmen. An diesem eigenartigen Ort fühlte ich mich gottverlassen. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte.

Am nächsten Morgen durfte ich mir die Klinik ansehen. Die Stimmung war tatsächlich überall auffällig gut. Zwischen den Mahlzeiten war der Tag mit zahlreichen Aktivitäten gespickt. Entspannungsübungen, Singstunden, Meetings, wo einige Patienten das Böse, was sie getan hatten, aus sich herausschrien, um dann um Vergebung zu bitten. Zur Belohnung erhielten sie schallenden Applaus. Meist endeten diese Versammlungen damit, dass alle das Motto von Sanctum schrien: Besiegt die Hexe! Tötet eure Drachen! Und bevor sie auseinandergingen, fielen sie sich noch heulend in die Arme. Einen Moment lang fragte ich mich, ob hier bei Sanctum vielleicht doch alles mit rechten Dingen zuging. Der ganze Betrieb hatte so etwas Unschuldiges.

Am Nachmittag wurden vor dem Saal Stühle in zwei Reihen aufgestellt, sodass man sich zu zweit gegenübersaß. Wir wurden in Paare eingeteilt und sollten uns eine geschlagene Stunde lang einfach nur anschauen. Ted lief die Reihen ab und forderte uns auf, »unsere Seelen zu entblößen«. Völlig regungslos sollten wir dasitzen, bei der kleinsten Bewegung kam Ted angerauscht und befahl uns zu entspannen.

In dieser Abteilung waren wir ungefähr zwanzig Patienten, aber ich wusste jetzt schon, dass Elena nicht dabei war. Es war noch zu früh, einen der anderen Patienten nach ihr zu fragen, aber ich unterhielt mich mit manchen, um erste Kontakte herzustellen und herauszufinden, ob einige von ihnen schlechte Erfahrungen mit den Behandlungsmethoden gemacht hatten. Doch auf meine Fragen erntete ich nichts als leere Blicke, und dann folgten Lobeshymnen auf Sanctum, die alles andere als echt wirkten.

An meinem zweiten Tag bei Sanctum kam mir ein Geistesblitz. Das ist hier alles irgendwie zu gut. Da stimmt was nicht . Wo waren all die Junkies, die mit den Entzugserscheinungen? Die Leute hier kamen mir eher wie eine freireligiöse Sekte vor. Das hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was Michael Parks von seinem Sohn erzählt hatte.

Und am zweiten Tag bemerkte ich das Haus hinter den Bäumen, am Ende des Grundstücks.

Wir waren gerade dabei, das Laub im Garten zusammenzurechen. Die Luft war klar und kalt. Von dem blauen Herbsthimmel strahlte die Sonne und blendete meine Augen. Über uns kreisten die Bussarde. Wir wurden von Mitarbeitern überwacht, die auch mithalfen. Alle sangen. Jede Tätigkeit hier wurde gemeinsam mit dem Personal verrichtet. Alle waren Freunde und gleichberechtigt. In den Werbebroschüren wurde dies als der Schlüssel zu Sanctums exzellenten Erfolgsquoten dargestellt. Sich zugehörig zu fühlen. Geschätzt und wertvoll, alle gleich.

Ein Typ namens Finn und ich, wir arbeiteten nun zufällig am Rand des Grundstücks. Er war ungefähr so alt wie ich, ein kräftiger Afroamerikaner. Während wir da zusammen schufteten, erzählte er mir, dass er seit einem Monat keine Drogen mehr genommen habe, allerdings schien er weder stolz noch besonders glücklich darüber zu sein. Er wirkte eher verloren, machte einen verunsicherten Eindruck, und trotz seines mächtigen Körpers sah er sehr verletzlich aus, als würde ein Gefühlschaos in ihm herrschen.

Beim Blick auf den Wald sah ich ein riesiges Holzhaus, etwa hundert Meter hinter dem Hauptgebäude. Es hatte exakt dieselbe Farbe wie die Baumstämme drumherum und lag im Schatten der riesengroßen Baumkronen. In den Fenstern war kein Licht, das Haus schien unbewohnt und leer.

»Was ist das für ein Haus?«, fragte ich Finn.

Mit meiner Frage löste ich etwas in ihm aus. Seine Augen wurden glasig, als würde er in der nächsten Sekunde in Tränen ausbrechen.

»Das ist der Tumbler«, sagte er.

»Was? Trocknen sie da die Wäsche?«

Er sah mich lange und durchdringend an.

»Nein, du Dummerchen, da landet man, wenn man die Gruppe verarscht.«

»Und wer ist das?«

»Hab ich doch schon gesagt«, erwiderte er und warf nervös einen Blick über die Schulter. »Die schwierigen Patienten. Die kriegen da Intensivbetreuung.«

»Kennst du jemanden, der da drin ist?«

»Einige, aber die sind bisher nicht wieder rausgekommen.«

»Wie lange bleibt man da drin?«

»Keine Ahnung. Sie sind ja nicht wieder rausgekommen, hab ich doch grade gesagt.«

»Warst du schon mal drinnen?«, fragte ich jetzt mit betont leiser Stimme, denn ein Mitarbeiter hatte uns bereits im Auge.

»Ganz kurz«, antwortete er. »Aber ich durfte wieder raus.«

Seine Abneigung, darüber zu sprechen, war ihm anzusehen. Seine Schultern verkrampften sich, die Gesichtsmuskulatur fror ein, nur sein Mund bewegte sich noch isoliert.

»Jetzt lass aber mal gut sein«, keifte er mich an.

Eine Mitarbeiterin kam auf uns zu. Finn fluchte leise.

»Alles okay bei euch?«, fragte sie.

»Warum fragst du das?«, konterte ich.

»Ihr seht so ernst aus, geht lieber wieder zu den anderen hinüber«, sagte sie.

Finn folgte. Bevor ich hinterhertrabte, warf ich noch einen letzten Blick auf das Haus da drüben im Dickicht. Alles wirkte finster, die Wände, das Dach und die Jalousien vor den Fenstern. Bei diesem gespenstischen Anblick des Tumblers überfiel mich zuerst ein Gefühl von Ohnmacht. Und als Nächstes panische Angst.

An diesem Abend kam ich einfach nicht zur Ruhe. Ich lief in meinem Zimmer im Kreis wie ein Tier im Käfig. Ich hatte keinen Empfang. Die Bücher, die im Regal standen, waren völlig uninteressant. Vor Langeweile schien ich bald durchzudrehen. Eigentlich sollte ich mich entspannen, Yogaübungen oder so was machen, aber ich hatte keine Lust dazu. Ziellos lief ich im Kreis und strich mit den Händen über die Wände. Hier roch es, als hätte jemand die Oberfläche erst vor Kurzem mit Alkohol desinfiziert. Ich hockte mich hin und fuhr über die Sockelleiste. Kein einziges Staubkorn. Da fiel mein Blick auf eine Ecke, direkt hinter dem Stuhl, wo eine Staubschicht lag. Die Entdeckung, dass es in diesem klinisch reinen Zimmer doch ein bisschen Dreck gab, freute mich fast. Behutsam wischte ich den Staub weg. Und da sah ich, dass etwas an der Wand stand. Jemand hatte mit krakeliger Schrift dort eingeritzt:

Kapitalistenschweine.

Das Schloss in der Tür klickte. Schnell sprang ich auf und stand dann einem jungen Mädchen gegenüber. Sie trug dasselbe schwarze T-Shirt wie alle anderen vom Personal. Wir sahen uns überrascht an. Ich fühlte mich ertappt, obwohl ich gar nichts Verbotenes getan hatte. Sie wirkte etwas unsicher und lächelte mich nett an.

»Ich wollte nur mal nach dir schauen«, sagte sie. »Ich habe heute Abend Dienst.«

»Ach so, gut«, erwiderte ich zögernd.

»Und die habe ich dir mitgebracht«, sagte sie und hielt mir einen Stapel mit drei schwarzen T-Shirts hin. Darauf waren Worte in Weiß gedruckt, ich wusste schon welche. Besiegt die Hexe .

»Danke«, sagte ich, lächelte gequält und legte die Shirts aufs Bett.

»Brauchst du noch etwas, bevor ich jetzt für die Nacht abschließe?«

»Nein, alles gut«, sagte ich.

Mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie viel zu jung und unerfahren war, um mit Drogenabhängigen zu arbeiten.

»Eine Frage noch: Sind hier eigentlich alle ausgebildete Krankenschwestern und Pfleger?«

Sie lächelte verlegen.

»Nein, keiner vor uns. Aber Ted ist natürlich Arzt.«

»Und warum ist das Personal nicht ausgebildet?«, hakte ich nach.

Sie schlug die Augen nieder.

»Für das Programm, das wir hier mit den Patienten machen, braucht man keine medizinische Ausbildung.«

Als sie dann zur Tür ging, stellte ich mich ein paar Meter hinter sie. Sie schien gar nicht zu merken, wie nahe ich ihr gekommen war. Ihre Fingerkuppen tanzten über die Tasten, als sie den Code eingab. Ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören, doch mein Blick war hoch konzentriert. 11 651 166. Jetzt musste ich nur noch irgendwie an den Code für die Haustür kommen.

Am nächsten Tag bemerkte ich nach dem Frühstück fünf Personen, die auffallend still an einem Tisch saßen. Ich ging zu ihnen hin. Jeder hatte einen Stapel mit Broschüren von Sanctum vor sich. Alle schrieben etwas auf Briefpapier.

Ich sah einem Mädchen über die Schulter, das Lisa hieß. Sie war eine der Jüngsten hier in der Klinik – vermutlich gerade erst achtzehn, sah aber aus wie fünfzehn. Ihr halblanges, blondes, zerzaustes Haar und ihr zarter Körper verliehen ihr etwas Elfenartiges. Offenbar wollte sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und fixierte ihr Blatt Papier. Wenn sie sprach, dann so leise, dass man es kaum verstehen konnte.

Ihre Handschrift auf dem Briefbogen war anrührend kindlich. Ich wurde heroinabhängig , als ich dreizehn war . Jetzt bin ich clean . Danke , mein Sanctum! Und danach ein dickes Herz und ein Smiley.

»Was tut ihr da?«, fragte ich sie.

Sie zuckte zusammen, drehte sich um und sah mich groß an.

»Wir schreiben Briefe an reiche Leute«, nuschelte sie.

»Wofür?«

»Wir schreiben, dass Sanctum uns das Leben gerettet hat, und bitten sie um Spenden.«

»Und welche reichen Leute sind das?«

»Millionäre. So Philithropen.«

»Du meinst Philanthropen?«

»Ja, so wie Bill Gates.«

Die anderen, die bei ihr am Tisch saßen, hatten den Stift hingelegt und beobachteten mich. Es war, als hätte ich sie bei etwas sehr Peinlichem ertappt.

»Aber was schreibt ihr da?«, fragte ich weiter.

»Ach, das ist doch total egal«, antwortete ein Typ mit roten Haaren. »Hauptsache, wir schreiben, dass wir dank Sanctum drogenfrei sind. Wir tun alle Briefe in einen großen Umschlag, das Personal kontrolliert sie und legt dann noch einen Info-Flyer über Sanctum dazu.«

Ich wollte sie gerade fragen, wie viele solcher Briefe sie täglich schrieben, da spürte ich den festen Druck einer Hand auf meiner Schulter. Es war Ted.

»Alles okay bei dir, Alexandra?«

»Ja, mir gehts gut.«

Die anderen senkten augenblicklich die Köpfe und schrieben weiter.

»Für dich ist es noch zu früh, bei diesen Aussendungen mitzuhelfen«, sagte Ted. »Und, wie geht es dir heute? Hattest du irgendwelche Entzugserscheinungen?«

Sein Ton war freundlich, doch sein Blick stahlhart.

»Nein, überhaupt keine. Mir gefällt es hier. Ich mag die Gemeinschaft.«

»Mmh …«, sagte er und legte den Kopf leicht schräg. In meinem Magen kam ein mulmiges Gefühl auf.

Doch damit ließ er es auf sich beruhen und ging wieder davon. Ich blieb stehen und sah ihm hinterher, ich musste mich zügeln. Ich dachte an die unheimlichen, dunklen Fenster in diesem Tumbler, und an meine Angst da draußen im Garten. Beim Gedanken an Dani konnte ich schon ihre Stimme hören, wie sie mir eine Standpauke hielt. Aber ich konnte nicht bestreiten, dass es mich auf sonderbare Art reizte, mich selbst in Gefahr zu bringen. Das war schon immer so gewesen.

Da ging mir ein Licht auf. Sanctum Sausalito war von außen auffallend schick, aber innen wirkte es mehr als armselig. Gruppentherapie und leere Worte von Träumen und der Suche nach seinem innersten Ich kosteten nichts. Das Essen war grauenvoll und wurde in Plastikverpackungen angeliefert. Das Personal war mit Sicherheit unterbezahlt. Die Kosten für diesen Betrieb mussten lächerlich niedrig sein. Ich hatte ein kleines Vermögen investiert, um einen Platz zu bekommen. Und trotzdem hockte Lisa da und schrieb an Leute wie Bill Gates, um Geld zu erbetteln. Das Wort, das in die Wand eingeritzt war, hallte in meinem Kopf nach. Kapitalistenschweine .

Blieb nur noch die Frage, was mit denen geschah, die sich widersetzten. Alle Patienten waren hier so auffällig gefügig. Und was ereignete sich da wirklich in diesem Tumbler? Meine lebhafte Fantasie lieferte mir sofort erschreckende Antworten, und Finns Reaktion nach zu urteilen war meine Angst sicher begründet.

Dann trieb mich ein beunruhigender Gedanke um. Wenn ich richtiglag und das oberste Ziel für Sanctum war, Geld zu machen, und wenn Patienten im Tumbler längere Zeit blieben, dann musste sich das, was dort in diesem Haus geschah, auf gewisse Art auch auszahlen.