Als ich aufwachte, war es stickig in meinem Zimmer. Es war der Tag vor Silvester. Ich hatte beschlossen, in dieser Nacht hinauszuschleichen. Der Tumbler war ein Rätsel, das ich knacken musste, ich war überzeugt, dass ich dort die Antworten, die ich suchte, finden würde.
Ich ging unter die Dusche, die so niedrig war, dass man sich ducken musste, um sich unter den Duschkopf stellen zu können. Wie immer war das warme Wasser ganz schnell weg. Während ich also kaltes Wasser über meinen zitternden Körper laufen ließ, grübelte ich darüber nach, wie ich an den Türcode der Haustür kommen konnte. Ich zog eine Jeans und eins von den schwarzen T-Shirts an, die mir die Mitarbeiterin vorbeigebracht hatte, mit der Aufschrift »Besiegt die Hexe«. Es saß miserabel, über der Brust spannte es, und am Bauch hing es wie ein Sack.
Auf dem Weg zum Speisesaal lief ich Finn in die Arme. Ich zog ihn zur Seite, da wir gerade allein im Flur waren.
»Warte kurz, ich will dich was fragen«, sagte ich.
Seine Augen sahen mich skeptisch an.
»Was passiert da drüben im Tumbler?«, fragte ich ihn.
»Darüber möchte ich nicht sprechen«, antwortete er. »Das Einzige, was ich will, ist, hier rauszukommen.«
Heute sah er nicht traurig, sondern verhärmt aus.
»Warum?«, fragte ich nach.
»Das hier ist die Hölle, in der man zwischen den Rückfällen landet«, sagte er leise und todernst. »Man spielt mit und versucht, so schnell wie möglich wieder rauszukommen. Dann setzt man alles daran, dass sie einen hier nie wieder herbringen.«
»Aber die werben doch damit, dass neunzig Prozent der Patienten hier von den Drogen loskommen.«
Er legte eine Pause ein, wollte mit dem, was er preisgab, vorsichtig sein. Doch in ihm brodelte es vor Wut, er konnte sich nicht beherrschen.
»Glaubst du das im Ernst? Dann bist du vielleicht doch nicht so schlau, wie du aussiehst. Die haben ja überhaupt keinen Schimmer, wie viele rückfällig werden, nachdem sie entlassen sind.«
»Aber einige kommen doch von den Drogen los, oder nicht? Das wäre doch auch ein Erfolg.«
»Ja klar, ein paar hören auf zu fixen«, keifte er. »Aber welchen Preis bezahlen sie dafür? Außer ein paar leeren Phrasen und ein paar Tabletten am Anfang kriegen wir nichts von denen. Und dann jagen sie uns eine Heidenangst ein. Diese Klinik kriegt so beschissen viel Kohle, aber die wird überhaupt nicht zur Behandlung der Patienten benutzt. Hast du das noch nicht kapiert? Die bekommen sogar Gelder vom Staat. Was sagst du dazu, dass das Geld der Steuerzahler in so eine unsinnige Einrichtung fließt und die Führungsetage davon stinkreich wird?«
»Jetzt beruhig dich wieder. Ich will Sanctum doch gar nicht in Schutz nehmen. Ich möchte nur verstehen, was hier läuft.«
Er seufzte so tief, dass ich schon Angst hatte, er würde weitergehen. Doch stattdessen machte er einen Schritt auf mich zu, sein Gesicht war jetzt ganz dicht an meinem.
»Du weißt ja, ich habe mich von Anfang an gefragt …«, sagte er.
»Was denn?«
»Was du hier eigentlich zu suchen hast.«
»Das hab ich dir doch gesagt.«
»Du verhältst dich nicht mal annähernd wie ein Fixer. Und deine Tränendrüsengeschichte von dem Selbstmordversuch nehme ich dir auch nicht ab.«
»Ach hör doch auf. Glaub, was du willst«, sagte ich.
»Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Wie meinst du das?«
»Bis Ted die Wahrheit über dich rauskriegt.«
»Wenn das so ist, musst du mir so schnell wie möglich alles erzählen, was du weißt.«
»Da gibt es nichts zu erzählen.«
»Könntest du mir nicht lieber helfen, anstatt dich quer zu stellen?«, fragte ich und sah ihn bittend an.
Einen Augenblick lang war Waffenruhe zwischen uns.
»Das kann ich nicht, Alex«, sagte er. »Wenn ich mich noch ein paar Wochen gut führe, werde ich entlassen.«
Seine Augen wurden feucht. Bei dem Anblick dieses großen jungen Mannes, der da so verzweifelt vor mir stand, schämte ich mich. Was wusste ich schon von seinem Leben, davon, was er riskierte?
»Tut mir leid, dass ich nerve«, sagte ich. »Natürlich ist das deine Entscheidung.«
Er sah mich an und lächelte. Es war ein Lächeln, das allmählich von den Mundwinkeln hoch zu den Augen wanderte.
»Du siehst nicht aus, als fändest du dein T-Shirt besonders bequem«, grinste er.
»Sieht hier überhaupt irgendwer so aus?«
»Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte er. »Aber jetzt gehen wir erst mal zum Frühstück.«
Er winkte, dass ich ihm folgen sollte.
Im Speisesaal füllten wir unsere Teller mit definitiv zu hart gekochten Eiern, Toastbrot und kleinen Marmeladenportionen und setzten uns. Finn entdeckte am Tischbein eine Reihe Ameisen, die auf der Suche nach Essen waren, und musste lachen.
»Junkieameisen«, sagte er amüsiert.
In dem Augenblick kam Louise in den Speisesaal gerannt. Sie war Teds Frau. Er nannte sie Lou, aber das durfte nur er. Im Gegensatz zum restlichen Personal trug sie immer High Heels und kurze Röcke. Ihre Lippen und Wangen fielen durch ihre unnatürlich runden Formen auf, vermutlich hatte ein ästhetischer Chirurg nachgeholfen. Sie sah immer leicht genervt aus, außer wenn Ted sie um etwas bat. Dann sorgte sie für Aufregung in der Klinik und kommandierte alle herum. In der Regel saß sie aber in ihrem Büro und schien nicht so erpicht darauf zu sein, mit den Drogenabhängigen in der Klinik zu verkehren.
Erst war ich so abgelenkt, dass ich den hysterischen Ton in Louises Stimme gar nicht wahrnahm, als sie schrie, wir sollten in den Gemeinschaftsraum gehen. Wie komme ich bloß an den Zahlencode für die Haustür, ging es mir durch den Kopf. Außerdem war ich ziemlich nervös. Am Vorabend hatte ich ganz kurz Kontakt mit Stan gehabt. Er hatte mir erzählt, dass er noch ein Mädchen recherchiert hatte, das von Sanctum Sausalito verschwunden war. Das Personal hatte den Eltern gesagt, es sei abgehauen, aber es hatte monatelang nichts von sich hören lassen. Und genau in dem Moment, als Stan mir ihren Namen verraten wollte, brach die Leitung zusammen, weil der Empfang weg war.
Dani hatte mir eine SMS geschrieben, dass das Haus in Santa Cruz total sicher sei, dass es ihr gut gehe und sie mit Steve sehr glücklich sei. Außerdem war von Brett eine Nachricht gekommen, in der er mitteilte, dass Carl länger als geplant in Schweden bleiben würde. Jemand hätte den Holzschuppen abgefackelt, in dem die Filmausrüstung lagerte. Wahrscheinlich diese freireligiöse Gruppe, die schon mal Drohbriefe geschrieben hatte. Wie praktisch , dachte ich und hatte Evas fratzenhaftes Gesicht vor Augen.
»Alle versammeln, sofort«, schrie Louise noch einmal, jetzt so laut, dass Finn die Gabel aus der Hand fiel.
Wir ließen alles stehen und liegen und liefen schnell in den Gemeinschaftsraum hinüber. Normalerweise standen da Stühle, doch nun war der Raum leer. In diesem Saal wurden die Patienten auch immer wieder gezwungen, vor der Gruppe von ihrer Sucht zu erzählen, ihr Innerstes nach außen zu kehren, bis in das erniedrigendste, kleinste Detail. Glücklicherweise war ich damit noch nicht an der Reihe gewesen.
Louise wies uns an, uns in einer Reihe aufzustellen. Wie wir da so nebeneinanderstanden, alle in schwarzen Jeans und schwarzen T-Shirts, kam mir der Gedanke, dass wir wie Gefangene aussahen.
Doch Ted ließ auf sich warten. Eine nervöse Stimmung herrschte in dem Raum, die mich anfangs nicht besonders berührte. Was auch immer es war, mein Vorhaben für die kommende Nacht war mit Sicherheit gefährlicher.
Als Ted den Saal betrat, war sein Gesicht zu einer wüsten Grimasse verzerrt. Seine dicke Oberlippe spannte über der gleichmäßigen Zahnreihe. Doch dann lachte er auf, einige in der Gruppe antworteten mit Lachen, mit nervösem Lachen.
»Jetzt wollen wir mal über Konsens reden, den wichtigsten Teil eurer Reha«, sagte Ted. »Das ist der Grund dafür, dass die meisten von euch noch am Leben sind.«
»Und ich habe gedacht, hier dreht sich alles um positive Energie«, flüsterte ich Finn zu, der warnend den Kopf schüttelte.
»Lisa, komm mal nach vorn und stell dich vor die Gruppe«, sagte Ted mit einer beklemmend lauten Stimme.
Widerstrebend bewegte sich Lisa zu Ted und stellte sich vor uns hin. Ihr T-Shirt saß lose über dem Körper. Mit ihren hängenden Schultern und den dünnen Ärmchen, die wie bei einer Vogelscheuche seitlich abstanden, bot sie einen schrecklich traurigen Anblick. Sie tat mir sehr leid, schon bevor ich wusste, was gleich geschehen würde.
»Gestern hat Lisa ein Paket von einem Freund bekommen«, sagte Ted. »Er hat ihr ein Tagebuch geschickt und eine ganze Packung Stifte, damit Lisa in der Zeit, in der sie hier ist, ihre Gedanken aufschreiben kann. Fürsorglich von ihm, oder?«
Teds Stimme triefte vor Sarkasmus.
Dann richtete er sich wieder an Louise.
»Lou, zeig ihnen doch mal Lisas schönes Geschenk«, sagte er.
Lisa war nun leichenblass im Gesicht. Sie stand einfach nur da, stocksteif.
Louise hielt das Notizbuch hoch in die Luft, um es dann demonstrativ krachend zu Boden fallen zu lassen.
»Das Tagebuch«, sagte Ted und zuckte mit den Schultern.
Louise reichte Ted einen Stift.
»Was für ein Segen, wenn man draußen Freunde hat, die sich so gut um einen kümmern«, sagte er. »Die können einem alles schicken, was man so braucht. Nicht wahr, Lisa?«
Lisa nuschelte etwas, wandte dann das Gesicht ab und starrte die Wand an. Ted schraubte den Stift auf und zog die Kappe ab. Aus dem Hohlraum, in dem sich üblicherweise die Tintenpatrone befand, holte er einen ganz, ganz dünnen Joint.
Teds manisches Lächeln hatte sich in ein teuflisches Grinsen verwandelt.
»Lisas Freund war äußerst großzügig. Er hat ihr gleich zehn Stifte geschickt. Was für ein Glück, dass wir hier Drogenhunde haben. Aber es kommt noch schlimmer. Wir wollten Lisa mal testen und haben ihr das Paket gestern überreicht. Und was glaubt ihr, wonach Lisas Zimmer heute Morgen stank? Möchte jemand raten?«
Er sah ein Mädchen in der ersten Reihe scharf an.
»Gras«, antwortete sie leise. Ted forderte sie noch zweimal auf, es lauter zu wiederholen, dann erst war er zufrieden.
»Genau«, sagte er. »Und jetzt wollen wir mal sehen, was die Gruppe zu dieser unhaltbaren Situation zu sagen hat. Was meint ihr, was sollen wir mit Lisa machen?«
Erst wurde es so still, dass Finns Atemzüge neben mir wie eine Dampflok in meinen Ohren schnauften. Eine dünne Stimme, eher ein Piepsen, erklang hinter uns.
»In den Tumbler.«
»Ich kann euch nicht hören!«, rief Ted und hielt sich die Hand hinters Ohr. »Wo sollen wir Lisa hinstecken?«
Es begann mit einem Gemurmel, dann riefen vereinzelt welche: »Tumbler, Tumbler!«
Ich sagte kein Wort. Meine Kiefer waren wie zusammengetackert, meine Hände griffen verkrampft ineinander. Auf spielerische Art schlug Ted mit den Armen aus und lachte lauthals.
»Es sieht ganz so aus, als wäret ihr euch einig.«
Zwei Wachmänner, die Ted offenbar verständigt hatte, gingen auf Lisa zu und hielten sie an den Armen fest. Sie versuchte, um sich zu schlagen und zu treten, und rief dabei um Hilfe. Aber die kleine Lisa war ein leichtes Spiel für die starken Männer. Sie schleiften sie durch den ganzen Saal.
Mit Entsetzen verfolgte ich dieses Schauspiel. Meinen Impuls, ihr zu helfen, verhinderte Finn, indem er warnend seine große Faust um meine Hand schloss. Was er mir mitteilen wollte, war unmissverständlich.
Lebensgefährlich. Beruhige dich.
Die Patienten gingen nun zur Seite, um den Wachmännern Platz zu machen, sodass wir zusammenstießen und uns auf die Füße traten. Mitten in diesem Durcheinander kam mir eine Idee. Als die Männer mit Lisa an der Tür waren, rannte ich vor, um sie ihnen aufzuhalten. Und starrte dabei konzentriert auf die Zahlen, die sie als Türcode eingaben. 118 119.
Lisas Schreie waren von draußen noch zu hören, schon lange nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten. Am Ende gingen sie in ein herzzerreißendes Flehen über: Bitte, bitte, ich verspreche, ich werde mich bessern.
Über Teds Gesicht breitete sich ein scheußliches Grinsen aus.
»Also!«, rief er. »Danke, dass ihr euch einig seid. Jetzt singen wir ›Besiegt die Hexe‹, und dann machen wir mit dem Tagesprogramm weiter.«
»Besiegt die Hexe« war nicht nur ein Schlagwort, sondern auch eine Art Kampflied, zu dem ich jetzt wortlos die Lippen bewegte. Während ich das tat, beobachtete ich aus dem Augenwinkel die anderen um mich herum. In einigen Gesichtern erkannte ich pure Angst. Viele sangen falsch. Die Stimmung war gedrückt. Es war kaum auszuhalten, doch Ted schien wieder bestens gelaunt zu sein. Er ließ ein paar schlechte Witze los und schickte uns zurück an die Arbeit, zum »Basteln«, wie er es nannte.
Den ganzen Tag ging mir Lisa nicht aus dem Kopf. Ich fragte mich, was sie mit ihr machten. Sie war so verzweifelt gewesen, sie muss gewusst haben, dass sie da im Tumbler etwas Furchtbares erwartete.
»Ist Lisa schon mal im Tumbler gewesen?«, fragte ich Finn, als wir an dem Tisch saßen und lächerliche Papierblumen aus Krepppapier ausschnitten. Es hieß, die würden auf verschiedenen Wohltätigkeitsveranstaltungen verkauft werden. Das Geld ging ohne Abschläge direkt an Sanctum.
»Ganz kurz mal«, flüsterte er. »Damals hat sie versprochen, sich zu bessern, aber …«
Er verstummte, Louise war noch einmal in den Saal gekommen. Ich war auf alles gefasst, dachte, jetzt ginge es mit den Bloßstellungen weiter. Dass Louise zweimal am Tag zu uns kam, war höchst ungewöhnlich. Meist saß sie nur in ihrem Büro und starrte aus dem Fenster oder lackierte sich die Fingernägel.
Sie klatschte mehrfach in die Hände, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Morgen ist Silvester!«, sagte sie und sah uns verächtlich an. Wenn sie schrie und die Leute herumkommandierte, kreischte sie wie eine Hyäne. Aber jetzt war ihre Stimme lahm, tief und kratzig.
»Denkt über eure guten Vorsätze für das neue Jahr nach. Ihr werdet sie morgen der Gruppe vorstellen.«
An diesem Abend wartete ich, bis ich ganz sicher sein konnte, dass alle im Bett waren. Eigentlich wollte ich Brett und Dani noch schreiben, was ich vorhatte, doch ich hatte wieder einmal keinen Empfang. Ich saß nur da und stierte in die Dunkelheit. Da fiel mir das Bild wieder ein, das Carl von uns gemalt hatte. Alles verschwamm. Jetzt durfte ich nicht heulen. Aber es war so traurig, wie ich dasaß, mutterseelenallein. Wenn ich mir schöne Erlebnisse mit Carl in Erinnerung rief, legte sich Evas bösartiger Schatten darüber. Völlig außer mir schlug ich mit den Fäusten aufs Bettgestell, bis der Schmerz in den Rücken und die Schultern schoss. Hör auf damit!, befahl ich mir selbst und zwang mich, mich wieder auf mein Vorhaben in der kommenden Nacht zu konzentrieren. Ich überschlug das Risiko. Die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand erwischen würde, wenn ich leise war und mich von den Bewegungsmeldern fernhielt, war nicht groß. Allerdings war es möglich, dass sich Elena Sanchez im Tumbler befand.
Ich stand auf, zog Jacke und Schuhe an. Als ich den Code an meiner Zimmertür eingab, hörte ich ein Klicken, ich konnte einfach hinaus in den Flur gehen. Das Licht war aus, aber im Gemeinschaftsraum brannte ein Nachtlicht. Ich orientierte mich an dem schummrigen Lichtschein und ging auf ihn zu. Ob sie irgendwo eine Wache postiert hatten? Alles war totenstill. Auch der Türcode an der Haustür funktionierte problemlos.
Obwohl ich nervös war, verspürte ich eine große Erleichterung, als ich endlich draußen war und nicht mehr im Zimmer, wo man schnell unter Klaustrophobie litt. Der Himmel war so klar, dass ich die Krater des Mondes deutlich erkennen konnte. Die Stille und dieser üppige Nachthimmel, an dem die Sterne glitzerten und funkelten, gaben mir zu verstehen, wie abgelegen dieser Ort hier war. Einen Moment hielt ich inne und sog die frische Luft tief ein. Ich liebte diesen Duft – wie Nadelwald in Schweden. In Bodennähe war die Luft wärmer. Ich hatte das Gefühl, die Erde atmete die Wärme aus, die sie tagsüber von der Sonne gespeichert hatte.
Hinter dem Hauptgebäude befand sich ein kleines Häuschen, an dem normalerweise ein Wachposten stand. Innen war es dunkel, ich konnte nur hoffen, dass er nicht gerade jetzt draußen herumspazierte und seine Kontrollrunde lief.
Mitten auf dem Gelände befand sich eine Hundehütte. Warum hatte ich das nicht bedacht? Ein Schäferhund hob den Kopf, als er mich bemerkte. Meine Handflächen wurden schwitzig. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Mit gesträubtem Fell begann das Tier zu knurren. Ich stand wie angewurzelt da und wartete darauf, dass er sich auf mich stürzte. Was er aber nicht tat. Also nahm ich Blickkontakt zu ihm auf.
»Braver Hund«, flüsterte ich einige Male.
Der Hund knurrte weiter leise vor sich hin. Während ich ihn anstarrte, konzentrierte ich mich darauf, ihm eine wortlose Botschaft zu übermitteln.
Das ist keine Gefahr. Ich bin kein Fremder.
Schließlich wandte der Hund den Blick ab und legte den Kopf auf seine Pfoten. Mir kam es so vor – auch wenn es albern war – als hätten wir telepathisch kommuniziert.
Ich hatte das Gefühl, als würde ich über die Rasenfläche dahingleiten. Dann bog ich auf einen Trampelpfad ab, der durch etwas Dickicht zum Tumbler führte. Es war so still, als hielte die Welt den Atem an. Aus dem Haus drang kein Licht, es gab auch keine Anzeichen, dass überhaupt jemand da war. Alles kam mir tot vor – sogar die Bäume rund um das Haus hauchten den Tod aus. Das Gras war hoch und schlang sich um meine Füße. In dem fahlen Mondenschein sah alles ganz unwirklich aus, wie in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Das Haus hatte ein Erdgeschoss und einen Keller mit Fenstern auf Höhe der Erde.
Ich hockte mich hin und hielt die Hand über die Augen, um das Mondlicht abzuschirmen. Ganz verschwommen sah ich eine Gestalt und erkannte, dass da ein Mensch lag. Ich ging weiter zum nächsten Fenster. Da lag eine Frau auf dem Rücken auf einem Bett, den Kopf auf der Seite. Ein Lichtstrahl fiel durch die Jalousien und erhellte ihr Gesicht. So, wie sie aussah, dachte ich, sie sei tot. Ich lehnte die Stirn an die Scheibe, um noch mehr erkennen zu können. Der Raum glich einer Gefängniszelle. Der Körper der Frau zuckte. Sie drehte sich zu mir. Riss ihre Augen auf, öffnete den Mund.
In diesem Moment blieb mir fast das Herz stehen. Es war so bewegend, sie zu sehen – denn ich wusste gleich, wer sie war. Elena Sanchez.
Und da bellte mit einem Mal ein Hund. Sein Gebell drang durch die ruhige Nacht. Ich schrak zusammen und wich vom Fenster zurück.
In dem Wachhäuschen ging das Licht an. Eine Tür schlug zu.
Ich hatte keine Wahl. Jetzt konnte ich mich nur der Länge nach auf den Boden werfen.